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In Kiew wirft die Polizei die Molotow-Cocktails zurück

Ich habe mit einem Aktivisten in Kiew gesprochen, der mir erzählt hat, dass mittlerweile Rechtsradikale, Anarchisten, Demonstranten, Milizen und bezahlte Schläger an den Kämpfen beteiligt sind. Es gibt ein temporäres Bündnis gegen die Regierung—ohne...

Fotos von Martin-Alexander Kisly

Mehr als 100.000 Menschen sind am Sonntag in der Ukraine wieder auf die Straße gegangen, um gegen neue Gesetze zu demonstrieren, die das Recht auf friedlichen Protest empfindlich einschränken. Schon seit Monaten protestieren Gegner der Regierung des Präsidenten Wiktor Janukowitsch auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan in der Kiewer Innenstadt.

Seit Sonntag haben die Proteste eine neuen Grad der Gewalttätigkeit erreicht. Hunderte maskierte und mit Stöcken bewaffnete Demonstranten versuchten, das Parlamentsgebäude zu stürmen, und wurden von der Polizei mit Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen zurückgedrängt. Die Demonstranten erwiderten das Feuer mit Steinen und Molotow-Cocktails (die die Polizisten auch zurückwarfen). In zwei Nächten gab es über 200 Verletzte, 3 Demonstranten verloren ein Auge und einer seine rechte Hand.

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Vitali Klitschko wurde mit einem Feuerlöscher vollgesprüht und scheint langsam die Fassung zu verlieren: der Ex-Boxweltmeister warnt vor einem Bürgerkrieg, er jedenfalls habe „die Bewegung nicht mehr unter Kontrolle“ und Angst, dass „es bald Tote zu beklagen gibt“.

Photo shows officer ablaze after Molotov explodes on shield. 119 police sought med attn, 80 in hospital, Ministry says pic.twitter.com/xd0sireKjM

— Christopher Miller (@ChristopherJM) 21. Januar 2014

Janukowitsch zeigt sich nicht ernsthaft bereit, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen, und schimpft stattdessen auf „Krieg, Zerstörung und Gewalt“, die die Ukraine „ruinieren”. Währenddessen machen sich die Demonstranten für die nächste Schlacht bereit. Ein paar von ihnen haben sogar ein voll funktionsfähiges Age of Empires-Katapult gebaut. Um zu verstehen, wie extrem die Situation eigentlich ist, habe ich mit dem Aktivisten Bohdan Biletsky gesprochen.

Bohdan, via

VICE: Hi Bohdan. Was hast du letzte Nacht gemacht?
Bohdan Biletsky: Ich habe einen Studentenprotest organisiert. Wir versuchen gerade, alle Studenten an unserer Universität zur Teilnahme an einem Streik zu bringen. Außerdem gibt es einen Sitzstreik vor dem Gebäude des Polizeidienstes, weil gestern sieben Studenten der Karpenko-Kary-Universität verhaftet wurden und sie wegen der Organisation von Aufständen angeklagt wurden. Sie sind also kurz davor, im Gefängnis zu landen und das für 15 Jahre.

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Die Auseinandersetzungen der letzten beiden Nächte drehten sich vor allem um die neuen Gesetze, oder?
Ja, diese Gesetze verbieten jede Form von friedlichem Protest. Sie geben der Obrigkeit alle Möglichkeiten, Menschen zu unterdrücken. Sie können jetzt machen, was sie wollen. Sie können zum Beispiel Leute ins Gefängnis stecken, ohne dass ihnen je ein Gericht sagt, dass sie angeklagt wurden.

Was ist denn auf den Straßen los?
Es gibt Kämpfe mit den Berkut [bewaffnete Spezialeinheit der Polizei] auf der Hrushevskoho-Straße. Demonstranten werfen Molotow-Cocktails, und die Polizei benutzt Blendgranaten und Gummigeschosse.

Sind die Leute, die sich am meisten mit der Polizei anlegen, eigentlich die Rechten?
Im Moment sind sie nicht in der Mehrheit. Es sind jetzt sogar Anarchisten da, und alle möglichen anderen Leute. Die Rechten waren vorher nie an irgendwelchen politischen Bewegungen beteiligt, aber sie sind jetzt sehr wütend, und nun kämpfen sie gegen die Regierung.

Und sie gehen ziemlich hart zur Sache, oder?
Ja. In dieser Nacht hatten alle Beobachter Angst, dass die Polizei den Maidan angreifen würde. Aber sie haben es noch nicht getan. Es waren aber Titushka da. Das sind Arbeitslose oder Sportler, die von der Regierung bezahlt wurden, um gegen die Demonstranten zu kämpfen.Als Gegendemonstranten, oder kämpfen sie wirklich?
Nein, sie kämpfen wirklich, mit Metallstangen oder was auch immer sie finden. So circa 200 von diesen Titushka sind durch die Stadt gezogen und haben ganz normale Leute zusammengeschlagen, die sie auf der Straße gefunden haben. Völlig unbeteiligte Leute. Die Demonstranten haben ein paar von denen erwischt.

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Also gut: Rechtsradikale, Anarchisten, Demonstranten, dann Berkut und bezahlte Schläger—das hört sich ziemlich brutal an.
Ja, es gibt sehr viel Gewalt.

Gerät die Situation langsam außer Kontrolle?
Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich außer Kontrolle geraten ist. Aber es sind sehr unsichere Zeiten. Es gibt aber auch viele friedliche Initiativen, die sich am Protest beteiligen. Unsere Organisation ist eigentlich auch friedlich, obwohl ein paar von uns darüber nachdenken, den Kämpfenden auf der Hrushevskoho physische Unterstützung zu leisten.

Ist die Polizei seit dem Anfang der Demos im November brutaler geworden?
Ja, sie sind aggressiver geworden—sehr viel aggressiver. Aber jetzt kommen manchmal die Mütter der Polizisten, um sie daran zu hindern. Die Leute versuchen jetzt, auch ältere Menschen und die aus anderen Städten mehr in den Protest einzubinden—auch die aus der Ostukraine.

Habt ihr eigentlich Angst, dass die Rechten langsam zuviel Einfluss auf diese Demo gewinnen?
Schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass sie viel ideologischen Einfluss haben. Es gibt generell nicht so viel Beeinflussung zwischen den verschiedenen politischen Organisationen, die am Protest teilnehmen. In den letzten Tagen hatte die gesamte ukrainische Gesellschaft ein gemeinsames Problem, deshalb ist es ein temporäres Bündnis gegen die Regierung. Aber ein Bündnis des Handelns, ohne irgendwelche Statements oder Vereinbarungen.

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Fühlen sich die Leute von den Politikern der Opposition vertreten?
Die Leute unterstützen die Oppositionspolitiker eigentlich nicht, nur sehr wenige. Die Mehrheit glaubt nicht, dass die Opposition die sozialen Probleme lösen kann. Sie glauben, dass sie die Probleme nur alleine lösen können.

Was ist denn mit Klitschko?
Ich kann da keine repräsentativen Aussagen machen, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass es unter den Studenten keinerlei Unterstützung für Klitschko gibt. Er hat noch nichts getan, das ihm Respekt verschaffen könnte. Er ist ein neuer Politiker, der vorher Sportler war. Die meisten Menschen, die ein bisschen kritischen Verstand haben, sehen ihn nicht als großen politischen Führer. Aber er könnte ein technokratischer Führer sein. Er hat immerhin auch noch nichts getan, was der Gesellschaft geschadet hat. Bei der nächsten Wahl könnte er allein deshalb dazugewinnen. Im Moment sind sich jedenfalls alle einig, dass ein neuer Präsident die Reformen machen muss, die die Gesellschaft braucht und will. Die Gesellschaft hat den Politikern sozusagen versprochen, dass sie genau so viel Druck auf die neuen Regierungen ausüben wird, wenn diese Reformen ablehnen.

Was glaubst du, wie es in den nächsten Tagen weitergehen wird?
Ich hoffe, dass in den nächsten drei Tagen alle Studenten meiner Uni beim Streik mitmachen. Ich glaube, es wird noch mehr eskalieren. Neue Gruppen schließen sich dem Protest an. Die Linken haben sich erst gestern zum gewaltsamen Protest entschieden. Ich glaube, verschiedene Organisationen werden ihre Meinung zu dieser Methode des Protests ändern. Aber man kann es nicht wissen. Im schlimmsten Fall wird die Polizei anfangen, mit scharfer Munition auf die Menschen zu schießen.

Ist das während der Orangenen Revolution je passiert?
Auf keinen Fall! Das war damals viel, viel friedlicher.

Danke, Bohdan. Und viel Glück!