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Flüchtlinge in Deutschland

In Hamburg werden Personenkontrollen nach Hautfarbe durchgeführt

„Diese Kontrollen sind rassistisch. Es werden nur Schwarze kontrolliert. Die Nutten, Freier und Zuhälter lassen sie in Ruhe.“ In Hamburg will man die Flüchtlinge nicht abschieben. 

Schon im Juni war ich in der St.-Pauli-Kirche in Hamburg, wo derzeit etwa 80 afrikanische Flüchtlinge leben. Doch die Stimmung, die mich fünf Monate später im Camp vor der Kirche erwartet, ist beschissen. Ich höre Pastor Martin Paulekun zu zwei Besuchern sagen: „Die Flüchtlinge haben Angst, hier hält es keiner mehr lange aus.“

Fotos und Interviews auf dem Gelände zu machen, sei deshalb nicht mehr möglich, sagt er mir. Sie brauchen einen Ort, an dem sie ihre Ruhe haben. Ich schaue mir die „Embassy of Hope“ an, ein Zelt, das bisher als eine Art Wohnzimmer diente. Es sieht verlassen aus. Die Tische und Bänke stehen zusammengeklappt in einer Ecke.

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Schuld sind die vielen gezielten Personenkontrollen, einige Festnahmen zur Identitätsfeststellung der Flüchtlinge. Seither trauen sie sich nicht mehr, den geweihten Grund der Kirche zu verlassen, denn hier sind sie vor der Polizei sicher.

Vor gut zwei Wochen streifen die ersten Kontrollen durch das Viertel. Auf einem kleinen Platz etwa 50 Meter neben der Kirche entfernt sehe ich die Polizisten, wie sie jeden Dunkelhäutigen, der vorbeikommt, anhalten. „Das Viertel hier ist sehr gut vernetzt“, sagt Steffen Jörg, Mitarbeiter der Gemeinwesenarbeit (GWA) St. Pauli. Die Räume des Stadtteilzentrums liegen auch auf dem Platz.

„Die Polizisten haben sich direkt vor unseren Fenstern platziert. Durch SMS, Telefon und Mund-zu-Mund-Propaganda war der Platz schnell voll von Anwohnern, die gegen diese Kontrollen protestierten“, erzählt Steffen. Seitdem gab es bei jeder Sichtung einer Kontrolle einen Aufruf, auch via Facebook, dass die Anwohner Präsenz zeigen sollen. Fast täglich gibt es Demonstrationen gegen die Kontrollen und die Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats, insbesondere gegen die Hardliner Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) und seinen Innensenator Michael Neumann—teilweise mit bis zu 8000 Teilnehmern.

Auch die Linksautonomen des Kulturzentrums „Rote Flora“ in der Schanze marschieren auf—allerdings mit etwas härteren Geschützen. Vor wenigen Tagen stellten sie dem Senat ein Ultimatum, die Kontrollen zu stoppen. Als dieses erfolglos verstrichen war, versammelten sich rund 1000 Menschen vor der Flora für eine Spontandemo. Auch Steffen war bei der Demo dabei. „Die haben uns nach 150 Metern schon abgefangen und versucht einzukesseln. Kein Wunder, dass alles eskaliert ist“, erzählt er. Es flogen Böller, Flaschen, Straßenschilder und Steine. Es brannten Mülltonnen, und Bauzäune wurden umgestoßen, im Namen der Flüchtlinge. Zurück kamen Wasserwerfer, Reiterstaffeln und Reizgas. Da bleibt für ihn die Frage offen, ob die Polizei an einer Deeskalation überhaupt Interesse hatte, oder ob sie genau solche Bilder provozieren wollte.

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Anfang des Jahres ist eine Gruppe von 300 afrikanischen Flüchtlingen hier in Hamburg gestrandet. Sie flohen vor Gaddafi und dem Bürgerkrieg aus Libyen, landeten mit maroden Booten auf Lampedusa, lebten dort mit etwa 5700 anderen von dort Vertriebenen zwei Jahre in Flüchtlingslagern—bis Italien sie mit Touristenvisa und ein bisschen Geld wegschickte, weil es keine Jobs für sie gab.

Einige flohen weiter nach Hamburg, wo sie zunächst auf der Straße schliefen, bis Pastor Sieghard Wilm seine Kirche am Pinnasberg in St. Pauli öffnete und als Schlafplatz anbot. Seitdem leistet er mit Pastor Paulekun und der Nordkirche humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge.

Das Stadtteilzentrum unterstützt die St.-Pauli-Kirche mit allen Mitteln. Kürzlich hat der Pastor auch um Spenden gebeten, insbesondere für Schlafsäcke.

Denn neben den Kontrollen ist der Winter das andere große Problem. Scholz will die Baugenehmigung für die beheizten Wohncontainer auf dem Gelände der Kirche an seine absolute Bedingungen knüpfen—alle sollen sich der Ausländerbehörde stellen.

Die Flüchtlinge haben Angst, ihre Personalien an die Ausländerbehörde zu geben, kommt vom Senat doch immer wieder die Aussage, sie müssen zurück nach Italien—dem Ort, an dem sie als Erstes in Europa als Flüchtlinge gemeldet wurden—Hamburg beruft sich hierbei auf das Dublin-II-Abkommen, laut dem das EU-Land für Flüchtlinge verantwortlich ist, in dem sie zuerst gelandet sind. Doch keiner will nach Italien, da gibt es nichts, keine Jobs, keine Wohnungen, keine Aussichten auf eine gute Zukunft. Wenn sie ihre Daten abgeben, beteiligen sie sich an ihrer eigenen Abschiebung.

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Zumindest bei den Wohncontainern kann der Senat sich erstmal nicht einmischen: Die Bezirksverwaltung Altona, die für die Kirche zuständig ist, hat die Genehmigung erteilt, die Container aufzustellen. Zwar haben sie sich zunächst an die Weisung des Senats gehalten und die Genehmigung mit einer Meldepflicht erteilt, aber nur damit den Flüchtlingen schnell geholfen werden kann.

Bei der Bezirkssprecherin Kerstin Godenschwege klingt die Auflage gleich anders: „Die Kirchen bekommen die Auflage von uns zu prüfen, ob die melderechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.“ Es knirscht in Hamburg, im Senat und in den eigenen Parteien, denn auch die SPD im Bezirk Altona hat für die Baugenehmigung gestimmt.

Noch mehr Sand ins Getriebe wollen auch die Schüler der Stadtteilschule am Hafen werfen. Auf dem Platz vor der GWA treffe ich auf Amy, die gerade das Schulgebäude verlässt. Sie und ihre Mitschüler—alle um die 16 Jahre alt—haben eine Petition laufen: „Macht die Turnhalle für die Flüchtlinge aus der St. Paulikirche auf!“ Im Gesellschaftskundeunterricht sprachen sie über die Flüchtlinge in der Nachbarschaft, bekamen verschiedene Aufgaben, wie etwa Interviews führen, Steckbriefe anfertigen, Fotos machen oder die Geschichte recherchieren. „Wir sind zur Kirche gegangen und haben mit den Flüchtlingen geredet“, erzählt Amy. Ihre Turnhalle ist jeden Tag von 19 bis 7 Uhr morgens frei. Es gibt dort genügend Duschen, viel Platz und eine Heizung.

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Neumann will natürlich auch dies nicht erlauben—behauptet, die Schule würde sich strafbar machen, weil sie den Aufenthalt von Illegalen unterstützt—, aber die Schüler wollen sich durchsetzen. „Fast alle aus der Schule haben die Petition unterschrieben“, sagt Amy.

Ich setze mich zu Collen an den Tresen, sie arbeitet im Café Couch Kapitän und kann genau auf die Kirche schauen. Sie findet es großartig, wie das Viertel zusammenhält. Wie jeder aufpasst und sich kümmert oder spontan an einer Sitzblockade auf der Großen Elbstraße teilnimmt. Man kennt sich hier eben und jeder plaudert mit jedem. Deshalb erzählte ihr auch die Stadtteilpolizistin, dass sich einige ihrer Kollegen mit Bauchschmerzen krank gemeldet haben, damit sie diese Kontrollen nicht durchführen müssen.

Ich bin auf einer der vielen Demos. Wir sind etwa 500 Menschen und stehen vor einem Seniorenheim, in dem Scholz gerade eine Bürgersprechstunde hält, ausgebuht wird und sogar einen barbusigen Protest von Femen-Aktivistinnen auf seinem Podium ertragen muss. Draußen werden Parolen gerufen: „Schluss mit den rassistischen Kontrollen. Bleiberecht für alle!“ Ein Demonstrant spielt Gitarre und erklärt singend, warum er niemals in der Ausländerbehörde arbeiten möchte. Auf einigen Plakaten kann ich auch „Brechmittel Scholz!“ lesen. (Zu dem Namen kam Scholz vor zwölf Jahren als Innensenator, nachdem er dem Einsatz von Brechmitteln bei Dealern zustimmte, die ihre Heroinkügelchen selber schluckten, um die Beweise zu vernichten. Der 19-jährige Nigerianer Achidi John, der an einem Herzfehler litt, bekam es mit der Angst, als die Rechtsmedizinerin ihn fixieren ließ, um ihm das Mittel gewaltsam einzuflößen. Er erlitt einen Herzstillstand, brach zusammen und wurde erst nach ein paar Minuten versucht zu reanimieren. Die Ärztin dachte, er simuliert. Der Platz vor der Roten Flora heißt seitdem Achidi-John-Platz.)

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Die Demo setzt sich in Bewegung. „Diese Kontrollen sind rassistisch. Es werden nur Schwarze kontrolliert. Die Nutten, Freier und Zuhälter lassen sie in Ruhe“, erzählt René, der neben mir läuft. Auch die Landessprecherin der LINKE-Partei, Bela Rogala, sieht in den Kontrollen und den Festnahmen eine Eskalation der Ausländerbehörde und der Polizei. „Wir führen nur den Auftrag der Ausländerbehörde aus“, erzählt mir der Pressesprecher der Polizei. René und die anderen Demonstranten wollen mit ihren Aufmärschen nicht nur auf die Situation aufmerksam machen, sondern vor allem die Polizei beschäftigt halten: „Wenn die jetzt hier sind, können die morgen keine Kontrollen durchführen.“ Deshalb beschließt der Trupp spontan, eine sechsspurige Hauptverkehrsstraße zu blockieren—mit Erfolg.

Auch wenn gerade die Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge in Hamburg im Vordergrund steht, geht es den hier Protestierenden um alle Flüchtlinge im Land. Die Demonstrationen, die Solidarität und die Unterstützung sind ein Appell an den Hamburger Senat, an die Bundesregierung, an die gesamte EU: „Überdenkt noch einmal eure Flüchtlingspolitik, denn die ist scheiße!“

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