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In Hessen kannst du hingerichtet werden–theoretisch

Die Todesstrafe ist noch immer in der hessischen Landesverfassung verankert. Angewendet wird sie zwar nicht, aber abgeschafft soll sie auch nicht werden, da sich die Politik vor der eigenen Bevölkerung fürchtet.

In der Kloschlange auf einer Party vergangenes Wochenende fingen doch tatsächlich zwei Blödmänner vor mir darüber an zu diskutieren, ob sie für die Todesstrafe wären, wenn ihre Tochter oder Schwester vergewaltigt und umgebracht werden würde. Die richtig geilen Partythemen halt. Zu meinem Harndrang gesellte sich Brechreiz. Ich klinkte mich aus und wurde erst wieder hellhörig, als der eine meinte: „In Hessen, da gibt es doch ohnehin noch die Todesstrafe!“ Hä? Also, ich bin ja keine Deutsche und mit Paragraphen und Gesetzen habe ich es generell nicht so, aber das konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. Am nächsten Tag habe ich das natürlich sofort überprüft. Und siehe da, der Blödmann hatte doch tatsächlich Recht: Für besonders schwere Verbrechen kann laut der hessischen Verfassung—die am 1. Dezember 1946 durch eine Volksabstimmung beschlossen wurde—die Todesstrafe verhängt werden. Aber bevor ihr euch jetzt ins Höschen macht: Stein schlägt Schere und Schere schneidet Papier. Oder wie ging das noch mal? Anyway, Bundesgesetz bricht Landesgesetz. Will heißen, die Deutsche Verfassung, als Mutter aller Verfassungen der BRD, verbietet ihren Landeskindern natürlich, mit Spielzeugen wie der Todesstrafe zu spielen. Paradoxerweise ist das hessische Kind aber älter als seine Eltern. Die Deutsche Verfassung und das Grundgesetz entstanden erst drei Jahre nach der Hessischen Verfassung. Stellen, die in Widerspruch stehen, wurden stehen gelassen und werden seitdem einfach überstimmt. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Hessische Verfassung also beschlossen wurde, hielt man die Todesstrafe noch für angemessen, um Nazis für ihre Verbrechen belangen zu können. Neben Art. 21 Abs. 1 (das ist die Stelle mit dem Töten und so) beinhaltet sie noch ein, zwei andere Punkte, die verstaubter sind als die Meißnerfiguren eurer Urgroßtante. Mehrere Artikel gelten als reformbedürftig. So findet eine „Hessische Staatsangehörigkeit“ in Artikel 154 noch Erwähnung und Wahlprüfungsverfahren werden bei einem „Wahlprüfungsgericht“ (Artikel 78) eingereicht, das von Politikern dominiert wird. Um nur zwei Beispiele zu nennen. Stellenweise gab es zwar schon Änderungen, aber an ein Referendum zur Abschaffung der Todesstrafe traut man sich anscheinend nicht heran. Nicht der Landtag alleine bestimmt in Hessen nämlich Gesetzesänderungen, es muss immer auch das Volk befragt werden. Ich finde online sogar einen Typen, der behauptet, ein Großteil der Leute würde sich für die Todesstrafe aussprechen. Holy crap! Hessen, was geht? Zeit, ein paar Leute vor Ort zu befragen.

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Im Jahr 2002 kam es zu einigen Änderungen in der Verfassung, erklärt mir Heike Dederer, Pressesprecherin des hessischen Landtags. Welche das jetzt genau waren, erspare ich euch an dieser Stelle gerne. Das findet ihr auch hier. Generell beschäftige man sich aber eher mit der Verankerung von aktuellen Inhalten als mit der Bereinigung von überflüssigen, nicht mehr gültigen Regelungen. 2010 zum Beispiel wurde die „Schuldenbremse“ in die Verfassung aufgenommen. Das war die letzte Verfassungsänderung. Es kommen also eher neue Artikel hinzu, als dass alte gestrichen werden. Im Herbst 2003 wurde eine Enquetekommission eingesetzt, die an einer Reform der hessischen Verfassung arbeitete. Veraltete, überflüssige Artikel sollten gestrichen, oder reformiert werden. Im April 2005 legte die Kommission ihren Bericht dem Plenum vor. Der Landtag wurde sich aber nicht einig. Lediglich was Artikel 21 betrifft, herrschte Einvernehmen. Alle Fraktionen hatten sich ohne Diskussion für eine Streichung ausgesprochen. Das fiel aber wohl der Uneinigkeit in den anderen Punkten zum Opfer und ist deshalb nie passiert. Seitdem sind acht Jahre vergangen. Wie sieht es heute aus? Ist eine Verfassungsreform nach den Wahlen in Hessen Thema der Koalitionsverhandlungen? Die CDU hält sich dazu eher bedeckt, lässt aber durchscheinen, dass wohl Anderes auf dem Tagesplan stünde, als ungültige Artikel zu reformieren. Von Seiten der SPD zeigt man sich auf Nachfrage interessiert, die Hessische Verfassung im Ganzen zu modernisieren. Die restlichen Parteien scheinen im Stress der Wahlnachbearbeitung gefangen und vertrösten mich erst mal auf später mit ihren Statements. Amnesty International findet eine Beseitigung des Artikels aus der Landesverfassung wünschenswert. „Man möchte hier aber offenbar nicht riskieren, dass möglicherweise eine starke Minderheit im zweistelligen Prozentbereich pro Todesstrafe votiert und so ein fatales Signal aussendet“, meint Ferdinand Muggenthaler, Pressesprecher von Amnesty International. Ein Anhänger der CDU, der namentlich nicht genannt werden will, gibt zu bedenken, was passieren würde, wenn zwei Tage vor der Abstimmung ein Kind getötet würde, und auch Tobias Rade (den ich euch gleich noch vorstellen möchte) erzählt mir am Telefon, dass die Stimmung in Hessen Richtung „Tötet Kinderschänder“ tendiere. Autos mit „Stoppt Tierversuche, nehmt Kinderschänder“-Stickern sehe man auch ab und zu. Ich fühle mich in die Kloschlange zurückversetzt und frage mich, ob der Großteil der Menschen tatsächlich aus einem reaktionären Mob besteht? Ab und zu gehen Anfragen im hessischen Landtag zu Artikel 21 ein, heißt es aus der Pressestelle. Zwei Petitionen gab es in der 18. Wahlperiode (2009-2014) und je eine in der 17. und 16. Wahlperiode. Auskünfte über Petitionen werden vom Ausschuss keine erteilt. Anscheinend nicht einmal an Petenten selber. Tobias Rade ist einer von ihnen. 2011 hat er eine Petition beim Ausschuss eingereicht und durch Regionalmedien auf das Thema aufmerksam gemacht. Auskunft vom Ausschuss hat er nie bekommen. Unterstützung von Mitbürgern auch nicht. Stattdessen wurde ihm von der Öffentlichkeit Mediengeilheit vorgeworfen. Er ist fest davon überzeugt, dass rund 50% für eine Beibehaltung der Todesstrafe wären, würde man eine Abstimmung durchführen. 2011 brachte eine hessische Tageszeitung einen Artikel über Herrn Rade und führte eine Onlinebefragung durch. Tatsächlich stimmten 67,9% der Befragten gegen eine Streichung der Todesstrafe, da sie ohnehin ungültig sei.

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Man lässt demnach aus politischem Kalkül einen moralisch fragwürdigen Passus einfach lieber stehen, anstatt ihn gestrichen zu sehen. Das Erschreckende an diesem fossilen Gesetz ist nicht seine Existenz. Die ist nicht viel mehr als ein perverser Auswuchs historisch gewachsener, überholter Gesetzgebung. Ein unter dem Kapitel Nachkriegszeit vergessenes Relikt, das zur Belustigung von Politikschülern, als potentielle Millionenquizfrage oder für Klogespräche im Kuriositätenkämmerchen auf seinen makaberen Auftritt wartet. Die allgemeine Trägheit hinsichtlich seiner Abschaffung hingegen sendet aber ein Signal, das man als moralisch bedenklich einstufen könnte. Befremdlich auch die scheinbare Angst der Politiker vor ihren Wählern. Vielmehr als der Artikel—gegen den sich sowieso jeder ausspricht—wird hier die Mündigkeit der Bürger in Frage gestellt. Die Diskussion um Artikel 21 ist nicht neu, aktuell bleibt sie aber bis zu einer Reform. Ich wollte diesen Artikel mit einer ironischen Spitzfindigkeit beschließen, bediene mich aber stattdessen lieber Absatz 3 Artikel 21 der Hessischen Verfassung: „Alle Gefangenen sind menschlich zu behandeln.“

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