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„Liebe verzeiht alles“—Interview mit einem Stalker

Was treibt jemanden an, der eine Frau nach einer kurzen Affäre über Monate krankhaft verfolgt und ihr das Leben zur Hölle macht? Um das herauszufinden, habe ich mich mit einem Stalker getroffen.
Foto: Szene aus dem Film Stalker (via Youtube)

Szene aus dem Film Stalker (via Youtube)

Dass Liebe wie eine Geisteskrankheit sein kann, mag man für die Allgemeinheit bestreiten können—bei Stalkern trifft es ganz gut zu.

Ich habe mich mit einem Stalker unterhalten und erfahren, wie es ist, wenn sich jemand in einer amourösen Zeitschleife verfangen hat.

In Deutschland ist Stalking erst seit 2007 strafbar—und zwar nur dann, wenn die Nachstellung die „Lebensumstände“ einer Person „schwerwiegend beeinträchtigt“, wie es in §238 des Strafgesetzbuches heißt. Jährlich registriert die Polizei rund 25.000 solcher Anzeigen. Aber alle wissen: Das ist nur die Spitze des Eisberges. Opferhilfestellen schätzen, dass es jedes Jahr zwischen 600.000 und 800.000 Fälle von Nachstellungen gibt. In Frankreich wurde laut der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte sogar eine von drei Frauen schon mal gestalkt.

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Auch deshalb gibt es immer wieder Forderungen, den Stalking-Paragraphen zu verschärfen. Vor Kurzem hat das bayerische Justizministerium einen entsprechenden Entwurf erarbeitet, der nach Abstimmung innerhalb der bayerischen Staatsregierung auf Bundesebene diskutiert werden könnte. Sollte der Vorschlag durchkommen, würde es zukünftig ausreichen, dass ein Stalker den Alltag seines Opfers „drastisch eingrenzen könnte“. Das erinnert irgendwie unangenehm an den Film Minority Report. Und es umgeht auch nicht die Problematik, die auftritt, wenn ein Gesetz in die Privatbeziehung von Paaren eingreifen soll.

Viele Stalker hatten nämlich mal eine Beziehung mit ihren Opfern. Sie verfolgen ihre Ex-Partner, weil sie die Trennung nicht akzeptieren können (sogenannte zurückgewiesene Stalker) oder sich ungerecht behandelt fühlen (rachesuchende Stalker). Andere stellen jemandem nach, weil sie sich mit der Person eine Beziehung erträumen (intimitätssuchende Stalker). Zuletzt gibt es auch noch sogenannte Jagdstalker, die ihren Opfern auflauern, um herauszufinden, wie sie ihnen am effektivsten gewaltsamen Schaden (meistens Vergewaltigung) zufügen können.

Der Stalker, den ich traf, ist ein 40-jähriger verheiratete Mann, der als Therapeut arbeitet. Seit sechs Monaten ist er in Behandlung, weil er nicht aufhören kann, einer Kollegin nachzustellen, mit der er eine Affäre hatte—die sie vor fast zwei Jahren beendet hat. Bis jetzt hat seine Kollegin keine Anzeige gegen ihn erstattet, weshalb er auch nicht strafrechtlich verfolgt wird. Trotzdem hat er sich freiwillig in Behandlung begeben.

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Schuldbewusstsein oder Scham zeigte er nicht. Stattdessen starrte er mir während des ganzen Gesprächs unnachgiebig in die Augen. Seine Frau weiß, dass ihr Mann sich in jemand anderes verliebt hat, aber nicht, dass er sie betrogen hat. Versteht sich also, dass er anonym bleiben möchte.

Robert de Niro in The Fan (via Youtube)

VICE: Warum hast du dich in Behandlung gegeben?
Stalker: Ich glaube, dass ich irgendetwas habe, das nicht ganz so rundläuft. Deswegen will ich ja auch herausbekommen, ob es ein Muster bei mir gibt, das morgen woanders auftreten könnte.

Siehst du das als Möglichkeit? Dass du irgendwann jemand anderes stalkst?
Ja.

Warum hast du überhaupt angefangen zu stalken?
Um das zu beantworten, müsste man Stalking erstmal definieren—und ich weiß nicht, ob ich in die gesetzliche Definition hineinpasse. Ich sehe mich nicht als typischen Stalker. Wenn die Medien über Stalker berichten, dann sind das Leute, die ihr Wochenende im Auto mit einem Fernglas verbringen.

So weit habe ich es nie kommen lassen.

Sondern?
Das, was ich letztendlich versuche, oder versucht habe, ist, mit allen möglichen Mitteln einen Kontakt zu meiner Kollegin zu generieren, der in der Form nicht gewünscht wurde.

Welche Mittel zum Beispiel?
So wie Blumen zum Valentinstag, obwohl ich wusste, dass sie die nicht wollte. Oder ein schönes Geburtstagsgeschenk, das ich dorthin geschickt habe, wo sie mit ihrem Mann im Urlaub war. Und vor allem habe ich ihr viel auf WhatsApp geschrieben.

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Wie hat sie darauf reagiert?
Also, ich erwarte auf Fragen adäquate Antworten. Die kamen aber nicht. Und wenn ich die Fragen noch mal stellte, hieß es, ich stresse voll.

Aber der einzige, der gestresst ist, bin doch ich! Ich bin doch derjenige, der aktiv ignoriert wird. Aber Liebe verzeiht alles, wie es in der Bibel so schön heißt.

Hat sie dir denn gesagt, dass du aufhören sollst, sie zu kontaktieren?
Ja. Ich habe das auch versucht. Aber ihr nur einen Tag nicht zu schreiben, war so eine Wahnsinnsanstrengung—das kann man sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Man schaut wirklich alle zwei Minuten aufs Handy oder liest sich die ganzen alten Sachen durch, die man völlig vereinsamt geschrieben hat.

Ich habe ja nicht geschrieben, weil ich Bock drauf hatte. Sondern weil ich irgendwie meine Gefühle rauslassen musste. Wenn dann aber nichts zurückkommt, ist das wie ein Griff ins Klo. Ohne Reaktion kommt der Druck, der durch das Schreiben kurz abgelassen wurde, zurück und steigert sich noch mehr.

Es scheint, als hätte dich das wütend gemacht.
Klar. Irgendwann denkt man sich schon, ich hau dir jetzt auf die Fresse, damit das alles endlich ein Ende nimmt. Aber das ist nicht das eigentliche Gefühl. Eigentlich fühle ich mich, als ob mein Gegenüber mein Leiden sieht und mich wissentlich am ausgestreckten Arm verhungern lässt.

Ich lass mich aber nicht einfach wegwischen! Und ob ich dabei irgendwelche Grenzen überschreite, ist eine Definitionsfrage unserer Gesellschaft. Dadurch, dass sie Dinge definiert, macht sie viele Dinge zu Problemen, die es früher auch schon gab und die damals keine waren.

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Warst du überrascht, als deine Kollegin die Affäre beendete?
Sie hat sich für ihren Mann entschieden. Sachlich finde ich ihr Verhalten korrekt. Ich kann es nur emotional nicht stemmen. Sie hat immer wieder Dinge stückweise weggenommen und sich einfach aus der Situation rausgezogen. Ich brauche sie aber, um mein Problem zu lösen.

Warum ist sie denn aus deiner Sicht zu einem Gespräch nicht bereit? 
Ich denke, sie will das nicht, weil sie glaubt, dass es sowieso nichts bringt. Weil sie es ja schon so lange versucht hat und so nett zu mir war.

Hast du dir Gedanken über die Folgen deines Verhaltens für diese Frau gemacht? 
Nun ja, im Laufe der Zeit hat sie mir gesagt, dass mein Verhalten sie krank machen würde. Sie hat auch oft bei der Arbeit gefehlt. Hatte etwas mit dem Nacken und so einen Kram.

Ich glaube schon, dass sie darunter gelitten hat. Ich weiß aber nicht genau, ob es mein Verhalten war oder ihre eigenen Gefühle, die dieses Leiden ausgelöst haben.

Reden wir über deine Frau. Bis jetzt hat eure Ehe die Situation überstanden.
Was ein Zeichen dafür ist, dass meine Frau mich sehr liebt. Das ist gar kein Zeichen dafür, dass ich viel in diese Ehe reinbringe. Schon allein deswegen würde ich diese Liebe [für meine Kollegin] sofort auf meine Frau richten, wenn ich könnte. Aber ich kann es halt nicht. Wer kann schon seine Liebe steuern?

Du willst aber keine Trennung—
Nein.

Sondern einfach zusätzlich die Beziehung mit deiner Kollegin?
Eine Beziehung nicht. Wir würden gar nicht so gut in eine Beziehung zusammenpassen. Ich wünsche mir eine Freundschaft mit Extras. Das wäre wie auf Dauer geschaltete Spannung im Leben. Geil.

Ist dieser Wunsch denn realistisch?
Nein, das ist ein Traum. Ich stehe mir da auch selber moralisch im Weg—würde es aber jeder Zeit leben. Ich weiß, es ist verdreht.

Willst du denn mit dem Stalken aufhören?
Theoretisch, ja. Aber das ist, wie wenn man einen Heroinabhängingen fragt, ob er alle Opiumfelder abbrennen will.

Ich soll den Weg, den ich gehen möchte, verlassen und muss plötzlich dahin gebracht werden, wo ich eigentlich gar nicht sein will, nur weil mir andere sagen, dort ist es richtig. Klar möchte ich das auch so sehen. Ich bin aber noch nicht da. Ich stehe immer noch auf dem Randstreifen und warte auf eine Beziehung, für die ich nur den Trailer sehen durfte.