​Ist der Traum von München schon ausgeträumt?

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​Ist der Traum von München schon ausgeträumt?

Nach zwölf Tagen kontrollierter Einreise von Flüchtlingen hat Deutschland die Grenzen wieder dichtgemacht. Aber können wir jetzt überhaupt noch zurück?

Am Sonntag verkündetet Innenminister de Maizière überraschend, dass Deutschland an seinen Südgrenzen wieder Grenzkontrollen durchführen wird. Das Schengen-Abkommen wird dazu kurzzeitig ausgesetzt, jeder Einreisende an der deutsch-österreichischen Grenze muss seinen Pass zeigen. Damit beendete die Bundesregierung abrupt die Politik der Duldung, die während der vorhergegangenen zwölf Tage dazu geführt hatte, dass Tausende aus Ungarn kommende Flüchtlinge mit offizieller Erlaubnis über Österreich ganz einfach per Zug nach Deutschland einreisen konnten.

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Bundespolizisten warten auf den Zug aus Budapest.

Was das für den weiteren Verlauf der Flüchtlingskrise bedeutet, kann jetzt noch niemand sagen. Eines ist aber klar: Das Land steht an einem historischen Scheideweg, und im Zentrum dieser Ereignisse steht die Stadt München. Um zu verstehen, was genau der Schritt vom Sonntag bedeutet, muss man sich darüber klar werden, wie einzigartig das Experiment war, das während der letzten zwölf Tage in der Hauptstadt Bayerns geprobt wurde.

Fest steht jetzt schon, dass München in den letzten Tagen über sich hinausgewachsen ist. Unterstützt von einer Armee von Freiwilligen, Landes- und Bundespolizisten, Sanitätern und Beamten schaffte es die Regierung von Oberbayern zusammen mit der Stadt, die Tausenden Neuankömmlinge nicht nur zu bewältigen, sondern sie dabei auch noch wie die hilfsbedürftigen Menschen zu behandeln, die sie waren. Der Regierungspräsident Christoph Hillenbrand war zwölf Tage lang je gefühlte 24 Stunden am Hauptbahnhof unterwegs, organisierte Unterkünfte, telefonierte mit den Österreichern, beschaffte Züge und Busse für die Weiterfahrt, stritt sich mit anderen Bundesländern über die Aufnahme und gab oft zweimal am Tag Pressekonferenzen, um über die aktuelle Lage zu informieren. Auf die Frage am 6. Tag, wie lange die Stadt das noch durchhält, erklärte er lapidar: „Das hat noch niemand ausprobiert. Vor einem halben Jahr hätte ich gesagt, die Grenze der Leistungsfähigkeit ist sicher überschritten. Heute denke ich, wir packen's."

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Eine Zeit lang sah es wirklich so aus, als könnte es funktionieren. Jeden Tag kamen zwischen 4.000 und 7.000 Flüchtlingen in München an, und jeden Tag schafften es die Münchner Behörden irgendwie, fast alle noch am selben Tag in Bayern und Deutschland weiter zu verteilen, ohne dass es zu Engpässen oder Zusammenstößen kam. Letzte Woche konnte man in München wirklich glauben, dass man bei der Entstehung eines besseren Europa zusieht: Als würde die Utopie von einem Kontinent mit Gewissen plötzlich mit deutscher Effizienz in die Tat umgesetzt. 70.000 Menschen sind in diesen zwölf Tagen in München angekommen, der Großteil von ihnen Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg. Sie alle werden eine Chance bekommen, sich in Frieden ein neues Leben aufzubauen.

Jetzt ist Schluss damit. Entschieden hat das die Bundesregierung—aber das Experiment drohte schon vorher zu scheitern. Schuld daran sind die anderen Bundesländer, die—mit der Ausnahme von Nordrhein-Westfalen—sich jeden Tag ein bisschen mehr dagegen wehrten, den Münchnern die Menschen abzunehmen. Gleichzeitig kamen jeden Tag mehr Menschen—10.000 am letzten Donnerstag, 10.000 am Freitag, 12.700 am Samstag. Den Münchnern gingen langsam die Feldbetten aus, und die Telefonate mit den anderen Bundesländern wurden immer länger. Am Samstag fuhren zwar zwei Züge nach Nordrhein-Westfalen —aber von allen anderen Bundesländern wurden nur ganze 400 Menschen insgesamt aufgenommen. „Das ist einfach lächerlich", platzte dem Münchner Oberbürgermeister irgendwann der Kragen, das Verhalten der anderen Länder sei „absolut dreist". Selbst der immer zuversichtliche Regierungspräsident Hillenbrand erklärte sich am Samstag für geschlagen: „Wir wissen nicht, ob wir das schaffen."

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„Auch wenn das technokratisch klingt: Es geht hier um menschliche Schicksale": Christoph Hillenbrand letzten Donnerstag

Schuld haben aber auch die anderen europäischen Länder, die Deutschland zwar herzlichen Beifall klatschen, aber selber offensichtlich überhaupt keine Lust hatten, einen Teil der Bürde zu schultern. Dänemark unterbrach vorübergehend sogar den Zugverkehr an der Grenze. Der englische Premier Cameron erklärte großmütig, man werde jetzt auch 20.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen—über 5 Jahre. In München waren da bereits 20.000 Menschen an einem Wochenende angekommen.

Man kann den Behörden in München keinen Vorwurf machen, dass sie die durch die Grenzkontrollen gewährte Auszeit erstmal mit Erleichterung begrüßen. Aber Deutschland muss sich bald entscheiden, wie es weiter mit der Flüchtlingskrise umgehen soll. Tausende Flüchtlinge sitzen jetzt in Wien fest, noch mehr in Ungarn, und es werden in jedem Land mehr werden. Immer noch machen sich jeden Tag Tausende auf die gefährliche Reise, und viele werden irgendwie den Weg hierher finden.

Deutschland hat jetzt als einziges europäisches Land beide Möglichkeiten ausprobiert, Flüchtlinge einreisen zu lassen: Das unkontrollierte Einsickern, das regelmäßig zu menschlichen Tragödien führt und an dessen Ende man widerwillig die Überlebenden empfängt, und die kontrollierte Einwanderung à la München. Niemand wird behaupten, dass die kontrollierte Einwanderung nicht enorme Herausforderungen mit sich bringt, und man muss auch über die Signalwirkung nachdenken, so zynisch das ist. Aber angesichts der Bilder des ertrunkenen Aylan Kurdi muss man sich fragen, ob man es sich überhaupt leisten kann, zum alten System zurückzukehren.