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Japans Zukunft sieht laut Ryū Murakami düster aus

In Ryū Murakamis „neuem“ Roman „From the Fatherland with Love“ steht das ruinierte Japan vor einer Invasion durch Nordkorea, wogegen eine Gruppe gewaltbereiter, satanischer und degenerierter Jugendlicher kämpft.

Alle Fotos von Nico Perez

Ryū Murakami ist ein in Japan häufig diskutierter und gefeierter Autor. Sein erster Roman Blaue Linien auf transparenter Haut war ein dunkles Buch über desillusionierte japanische Kinder, die in einer Spirale von Drogen und Rockmusik und unter dem Einfluss eines Armeestützpunkts der USA zunehmend verwahrlosen. Er schrieb es mit 24 und gewann damit den Akutagawa-Preis, eine der wichtigsten Literaturauszeichnungen in Japan. Es zementierte Murakamis Ansehen als Meister der düsteren und brutalen Literatur in seinem Heimatland.

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In From the Fatherland with Love, das 2005 in Japan veröffentlicht wurde und jetzt erstmals auf Englisch erscheint, präsentiert Murakami seinen gewohnten Blutrausch nun einem internationalen Publikum. Der Roman inszeniert ein vom wirtschaftlichen Kollaps ruiniertes Japan. Das Land wurde von der internationalen Gemeinschaft aufgegeben und Nordkorea steht kurz vor der Invasion. Während die japanische Regierung ängstlich diskutiert, wie mit der Situation umgegangen werden sollte, beginnt ein Pulk gewaltbereiter, satanischer und degenerierter Jugendlicher mit dem Kampf gegen das nordkoreanische Regime.

Wir haben Ryū getroffen, um mit ihm über amerikanischen Einfluss, Jugend, Gewalt und sein (gewissermaßen) neues Buch zu diskutieren.

VICE: Seit deinem ersten Roman Blaue Linien auf transparenter Haut war die Anwesenheit der Amerikaner in Japan ein ständiges Thema deiner Arbeit. Woran liegt das und glaubst du, ihr Einfluss ist negativer?
Ryū Murukami: Ich bin in einer Stadt mit US-Armeestützpunkt aufgewachsen, was vermutlich einen großen Einfluss auf den Roman hatte. Aber ich halte den Einfluss nicht für absolut negativ. Offensichtlich hat Japan den Krieg verloren und so entsteht unter den Leuten der Eindruck, dass wir in die Demokratie gezwungen wurden und Elemente der US-Kultur wegen unserer Niederlage übernehmen mussten. Meine Generation stand unter viel amerikanischem Einfluss und es gab Teile davon, die wir mochten, und andere, die wir hassten. Auch die Komplexität und Vielseitigkeit amerikanischer Kultur verstanden wir besser als unsere Eltern.

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Dein Roman erzeugt den Eindruck, dass der plötzliche Zustrom amerikanischer Kultur und dessen Gegenbewegung in der traditionellen japanischen Geisteshaltung ein Vakuum öffnete, in das viele deiner Charaktere hineinfallen.
Ich denke, dass das eine ziemlich gute Erklärung von dem ist, was passierte. Das Problem ist, dass im politischen und sozialen System Japans das Kollektiv immer wichtiger war als das Individuum oder die Minderheit—immer noch gibt es nur sehr wenige Fälle, in denen Individualität für wichtig erachtet wird.

Warum geht nicht beides? In einer Gemeinschaft leben und individuell sein?
Weil Leute, die das probieren, zu Ausgestoßenen werden.

Ausgestoßene sind zentrale Figuren in vielen deiner Werke. Aber die meisten von ihnen wurden Außenseiter, weil bestimmte Umstände ihnen den Weg in die Normalität versperren. Sie haben sich nicht aus freien Stücken dazu entschieden, individueller zu sein.
Viele Leute möchten als Individuen leben und das gilt auch für mich. Man kann das tun, indem man nicht zu traditionellen Firmen geht oder nicht das tut, was von einem gewöhnlichen Mitglied der Gesellschaft erwartet wird. In den meisten Fällen wird dadurch das Leben härter. Indem ich Leute zeige, die gewaltsam aus der Gesellschaft gedrängt wurden, durch Geschichte oder andere Umstände, ist es leichter für mich zu beweisen, wie hart es ist, so zu leben.

Das erinnert mich an einen Brief, den ich von einem jungen Mädchen bekam. Sie hatte Streit mit ihren Eltern wegen ihrer Ambitionen, eine Karriere in einer Bäckerei zu machen, also entschloss sie sich, von zu Hause wegzulaufen. Das war in der hinterletzten Provinz und während sie auf den Bus wartete, las sie eins meiner Bücher, was sie in der Idee bestärkte, dass es Außenseiter in der Gesellschaft gibt. Reaktionen und Situationen wie diese sind das, was mich wirklich sehr glücklich macht.

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In Coin Locker Babies werden die Ängste, welche die Charaktere durch die Ausgrenzung als Säuglinge geprägt haben, zu einem Groll, aus dem sich wiederum der Wunsch entwickelt, alles um sich herum zu zerstören. Bist du Nihilist?
Ich mach mir Gedanken über die Welt um mich herum. Im Fall von verdorbenen jungen Leuten wären sie durch Kreativität vielleicht in der Lage dazu, ihre Wut und destruktive Energie auf Schreiben oder Musik zu fokussieren. Aber, wenn nicht, wenden sie sich der Gewalt oder gar dem Terrorismus zu. Wenn sich destruktive Energie mit einer Art von Moral paart, kann daraus eine Revolution entstehen.

Die Riots in London 2011 waren ein Beispiel für frustrierte Jugendliche, die spontan in eine unorganisierte, vor allem destruktive Rebellion ausbrechen. Glaubst du, so etwas wie das könnte es irgendwann in Japan geben?
Es ist unwahrscheinlich. Japan wird immer frommer. Keine Ahnung warum. Die Menschen glauben, dass sich nichts verändern wird, was auch immer sie tun. Solche Sachen geschehen aber immer wieder in Europa!

In dem Roman From Fatherland with Love haben alle Figuren in Ishiharas Truppe von gewaltbereiten heranwachsenden Außenseitern und sozial Ausgeschlossenen furchtbare Familiengeschichten und Sehnsucht nach Gewalt. Obwohl sie am Ende gegen Nordkorea kämpfen, war ihre erste Reaktion, sich auf deren Seite zu stellen und gegen Japan zu kämpfen. Woran liegt das?
Für gewöhnlich wäre James Bond damit beauftragt worden, gegen die Nordkoreaner zu kämpfen, aber ich wollte nicht so eine Art Buch schreiben. Ich habe es lieber so aufgebaut, dass die Leute, die unsere Gesellschaft eigentlich loswerden will, die Leute sind, die die Welt retten. Die Inspiration für solche Figuren kam vom Aum Shinrikyo, der japanischen Sekte, die für den Giftgasanschlag auf auf Tokios U-Bahn 1995 verantwortlich war. In der Sekte gab es viele unschuldige Kinder. Die hatten große Schwierigkeiten, in die Gesellschaft zurückzukehren, als sie älter wurden. Ich hab darüber nachgedacht, wie es sich für sie angefühlt haben muss aufzuwachsen. Müssen sie nicht einen Groll gegenüber der Gesellschaft entwickelt haben, weil man sie nicht akzeptierte?

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Wie glaubst du, würde Japan im Moment auf eine nordkoreanische Invasion reagieren?
Das ist kein realistisches Szenario, aber wenn es passieren würde, glaube ich, dass Japan ganz und gar unfähig wäre zu reagieren. Wenn sie beispielsweise Guam angreifen würden, käme der Gegenangriff aus den USA. Wenn sie Südkorea attackierten, würde Seoul in Flammen aufgehen, aber es gäbe immer noch Vergeltung. Aber bei einem Angriff auf eine bewohnte japanische Insel würden weder die USA noch Südkorea etwas unternehmen und ich glaube nicht, dass Japan alleine mit dieser Situation umgehen könnte.

Da ist eine simple Zeile in deinem Roman, die einfach lautet: „Japan hat keine Zukunft …“ Glaubst du, dass das wahr ist?
Schwierige Frage. Japan wird immer vielfältiger und dadurch gibt es Leute, die eine Zukunft sehen und andere, denen das nicht gelingt. Es war früher leichter zu leben und Arbeit zu finden.

Wie malst du dir die Zukunft der japanischen Jugend aus?
Düster.

From the Fatherland with Love wird von Pushkin Press verlegt.