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„Jeder Mensch ist zu einem Mord fähig“

Eine Pathologin erzählt uns von ihrem haarsträubenden Job. Laut ihr trennt uns von einem Mörder lediglich die Fähigkeit der eigenen Gefühlskontrolle.
Alle Fotos von Yves Suter

Kein TV-Krimi ohne Leiche: Leichen in Obduktionssälen und Rechtsmediziner in medizingrünen Kitteln gehören zum kriminalistischen Fernsehabend wie Chips und Bier. Aber wie sieht die Arbeit in der Rechtsmedizin in der Realität aus? Wir haben mit einer Rechtsmedizinerin über Leichen, Verbrechen und Fernsehkrimis gesprochen.

Auch ein Fall für die Pathologie? Bare Knuckle Fighter in Japan

Eva Scheurer ist Chefärztin und Direktorin des rechtsmedizinischen Instituts der Universität Basel. Sie geht einer Arbeit nach, für die viele von uns die Nerven nicht hätten. Fast täglich sieht sie Leichen, verstümmelte, verkohlte, entstellte. Die tägliche Herausforderung für sie und ihre Mitarbeiter besteht darin herauszufinden, wie eine Person zu Tode gekommen ist.

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VICE: Frau Scheurer, was sind das für Leichen, die bei Ihnen auf dem Seziertisch landen?
Eva Scheurer: Zu uns kommen vor allem Personen, bei denen man vermutet, sie seien keines natürlichen Todes gestorben. Also plötzliche und unerwartete Todesfälle. Oder auch Menschen, die gewaltsam durch einen Unfall oder Dritteinwirkung gestorben sind. Wir müssen dann herausfinden, wie die Person ums Leben gekommen ist.

Und wie gehen Sie dabei vor?
Wir machen jeweils eine Legalinspektion, also eine Leichenschau. Wir schauen den Körper von Kopf bis Fuss genau an, ob es Spuren von Verletzungen gibt. Auch die Kleider werden untersucht, stimmen die Risse im Stoff mit den Verletzungen oder Schusswunden überein? Dann entscheidet die Staatsanwaltschaft basierend auf unseren Erkenntnissen, ob die Leiche zusätzlich von innen untersucht, also aufgeschnitten werden muss. Man spricht dann von einer Obduktion.

Wie schlimm ist es für Sie, täglich mit Leichen konfrontiert zu werden?
Entstellte Menschen sind Teil des beruflichen Alltags. Natürlich haben wir einen anderen Zugang zu den toten Personen, weil wir sie ja in der Regel nicht kennen. Wir sind unbelastet. Aber was heisst schon schlimm? Wenn man sich einen Chirurg vorstellt, der einen vereiterten Bauch ausräumen muss, ist das doch auch schlimm. Das Empfinden von Schlimmem ist subjektiv. Unsere professionelle Routine erlaubt es uns, Distanz zu wahren um die entsprechenden Fragen zur Todesursache zu beantworten. Klar, teilweise ist es schon unangenehm.

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Können Sie ein unangenehmes Beispiel nennen?
Wir hatten vor einiger Zeit einen Mordfall. Die Leiche war komplett zerstückelt, in Beton eingegossen und in einem Fluss versenkt worden. Obwohl nicht alle Leichenteile gefunden werden konnten, haben wir den Fall dennoch aufgeklärt.

Dieser Fall könnte die Vorlage eines Horrorfilm-Drehbuchs sein.
Solche Extrem-Fälle sind die Ausnahme. Im Gegensatz zu Mordfällen in Filmen sind echte Täter in der Regel weit weniger fantasievoll in der Art und Weise, wie sie jemanden umbringen. Die meisten haben einen Wutanfall und schlagen dem Opfer einen Gegenstand über den Kopf. Oder sie zücken bei einer Auseinandersetzung im Affekt ein Messer oder eine Schusswaffe. Perfide und lange geplante Morde wie in Filmen sind eher selten.

Hier findest du den passenden Sound für Rechtsmediziner

Schauen Sie sich Filme wie CSI oder Tatort überhaupt an? Die entsprechen doch nicht der Realität.
Doch. Ich schaue mir solche Sendungen sehr gerne an. Einzelne Szenen bei Tatort oder CSI sind sogar sehr realistisch. Solche Produktionen geben sich grosse Mühe, die Realität abzubilden. Unrealistisch ist es jedoch, den Fall in 45 Minuten zu lösen.

Ein Täter stellt sich selten der Polizei. Viele lügen, streiten ab oder vertuschen. Wie gehen Sie mit diesem Lügenumfeld um?
Ja, es wird sehr viel gelogen. Oft wird die Wahrheit verheimlicht oder es werden wichtige Dinge ausgelassen, weil manche denken, sie seien unwichtig. Viele können sich auch schlicht nicht mehr erinnern. Es gibt auch Fälle, in denen Menschen nicht die Wahrheit sagen, weil sie jemanden nicht belasten möchten. Und solche, in denen ganz bewusst jemandem Schaden zugefügt wird. Die Wahrheit herauszufinden ist unsere Aufgabe. Hinzu kommt, dass praktisch jeder Mensch dazu fähig ist, einen Mord zu begehen. Ob es zur Tat kommt, hängt auch davon ab, wie stark sich ein Mensch unter Kontrolle hat oder mit seinen Gefühlen umgehen kann.

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I n der Schweiz geht die Zahl der Tötungsdelikte deutlich zurück. 2014 wurden noch 41 Personen umgebracht.
Die Entwicklung ist sicherlich positiv. Allerdings kann man sich fragen, ob überhaupt alle Tötungsdelikte als solche erkannt werden. Wenn ein Arzt, der den Tod feststellt, nicht bemerkt, dass es sich um Mord handelt, wird eine Person bestattet ohne dass die Hinterbliebenen vom Mord wüssten. Ich denke aber, in der Schweiz ist die Dunkelziffer relativ tief. Ganz anders in Österreich, dort ist der Anteil viel höher.

Warum?
Die Schweiz bietet eine gute Ausbildung. Praktisch jeder Arzt wird befähigt zu entscheiden, ob es sich um einen natürlichen oder unnatürlichen Tod handelt. Ärzte machen das Kreuz auf dem Formular in der Regel an der richtigen Stelle. In Österreich ist die Frage auf dem Formular komplexer. Ausserdem ist die Ausbildung dort anders. Medizinstundenten lernen in Österreich nicht, wie man den Tod eines Menschen feststellt.

In TV-Krimis gibt es oft Szenen, in denen Angehörige eine Leiche identifizieren müssen. Der Rechtsmediziner zieht dann ein Tuch vom Kopf des Toten. Wie sieht das in der Realität aus?
Die Polizei ist tatsächlich sehr begeistert von diesem Verfahren. Wir allerdings nicht. Wir wissen, dass es immer wieder zu Fehlidentifikationen kommen kann. Eine tote Person hat keine Mimik und sie sieht auch anders aus als wenn sie schläft. Es kommt vor, dass sogar enge Verwandte ihre eigenen Angehörigen nicht wieder erkennen. Die Leute sind aufgeregt und geschockt, wenn jemand plötzlich bei einem Unfall stirbt oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Oder sie wollen es schlicht nicht wahrhaben, dass die eigene Schwester oder der eigene Vater auf dem Tisch liegt. In der Regel bevorzugen wir deshalb eine Identifikation mit zahnärztlichen Mitteln, also über das Gebiss oder die DNA.

Was ist, wenn ein Mensch verbrannt ist?
Dann ist es etwas schwieriger. In solchen Fällen identifizieren wir dann vorwiegend über die Zähne oder die DNA. Mittels DNA funktioniert es allerdings nur, wenn noch unverbranntes Gewebe vorhanden ist. Meistens ist eine Person nicht komplett verbrannt, sondern nur teilweise. Verwendbares Gewebe ist also meistens vorhanden.

Müssen Sie die Toten nach der Obduktion für das Begräbnis wieder herrichten?
Ja, das machen wir auch. Unsere Präparatoren richten Leichen komplett wieder her. Sogar bei Kopfverletzungen schaffen sie es, die Leiche für die Aufbahrung wieder herzurichten, damit Angehörige Abschied nehmen können. Kurz nach der Untersuchung, sobald die Leiche von der Staatsanwaltschaft freigegeben wird, kann der Verstorbene auf den Friedhof transportiert werden. Meistens sehen Angehörige die Verstorbenen erst auf dem Friedhof in den entsprechenden Räumlichkeiten. Nur in Ausnahmefällen findet die Identifikation wie im Film direkt bei uns am Institut statt. Selbstverständlich bereiten wir die Angehörige auf das vor, was sie erwartet. Falls jemand beim Anblick ohnmächtig wird oder sonst ärztliche Hilfe benötigt, sind wir ebenfalls darauf vorbereitet.

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