FYI.

This story is over 5 years old.

Stuff

Kann man den mutmaßlichen Kinderschänder Woody Allen noch gut finden?

Als Kind war Woody Allen meine erste große Promi-Liebe. Angesichts der neuen Vorwürfe des Kindesmissbrauchs, die kürzlich gegen ihn erhoben wurden, scheint mein kindliches Gespür fast unheimlich zu sein.

Foto via

Als Kind war Woody Allen meine erste große Promi-Liebe. Angesichts der neuen Vorwürfe des Kindesmissbrauchs, die kürzlich gegen ihn erhoben wurden, scheint mein kindliches Gespür fast unheimlich zu sein. Noch unheimlicher wäre meine Schwärmerei allerdings gewesen, wenn ich (sei es auch nur de facto) seine Tochter gewesen wäre. Wie wir wissen, hat Woody Allen Soon-Yi Previn geheiratet, die Adoptivtochter seiner langjährigen Partnerin Mia Farrow. Was wir auch wissen (oder zumindest wissen sollten), ist, dass Dylan Farrow (die Tochter, die er und Mia gemeinsam adoptiert haben), behauptet, sexuell von ihm belästigt worden zu sein. Trotz dieser Vorwürfe wurde Allen bei den Golden Globes ein Preis für sein Lebenswerk verliehen. Wie viele Menschen meiner Generation habe ich noch immer Woody Allen-Poster an meinen Wänden hängen. Die Frage, die sich immer mehr aufdrängt, ist: Was muss dieser Mann noch anstellen, wie viele weitere Leben muss er ruinieren, bevor ich das Manhattan-Poster über meinem Schreibtisch abnehme? Gleich im Anschluss an die Preisverleihung der Hollywood Foreign Press twitterte Ronan Farrow, der Bruder von Dylan und Soon-Yi: „Missed the Woody Allen tribute—did they put the part where a woman publicly confirmed he molested her at age 7 before or after Annie Hall?“ Unzählige Medien haben über Farrows Twitter-Angriff berichtet, doch niemand hat die Gründe für den Angriff analysiert. Auch ich habe keine Antworten. Alles, was ich habe, sind Fragen. Wie kommt es, dass das Internet—ein Ort, an dem Personen mit einem Mindestmaß an Erfolg für noch so kleine Vergehen Wellen der selbstgerechten Empörung entgegenschlagen—erst jetzt auf Allens Vergehen reagiert? R. Kelly wurde wegen seiner mutmaßlichen Verbrechen an den (Internet-)Pranger gestellt. Warum haben sich Dutzende Autoren auf R. Kelly gestürzt, nicht aber auf Allen? Weil R. Kelly ein wandelnder Scherz ist, eine absurde Parodie eines R&B-Künstlers, der nicht in der Lage ist, etwas zu schaffen, das mit der Perfektion eines Filmes wie Annie Hall mithalten könnte? Woody Allen ist eindeutig ein Komiker, sein Werk aber wird weniger als Unterhaltung denn als Kunst betrachtet—davon zeugt auch der Preis für sein Lebenswerk. Trapped in the Closet ist ein Scherz, Manhattan ein Meisterwerk. Angesichts der Ereignisse bei der Preisverleihung haben sich die Kommentare und Artikel im Internet gehäuft. Wo aber waren die Kommentatoren, als Dylan im November in der Vanity Fair an die Öffentlichkeit trat und das sagte, was sie als Siebenjährige nicht gewagt hatte? Warum muss es erst zu einer Preisverleihung kommen, die überhaupt nichts mit der Sache zu tun hat, damit irgendjemand Interesse an den Vorwürfen zeigt?

Anzeige

Foto von Kelly Rose

Vor zwei Monaten—der Artikel in der Vanity Fair war bereits erschienen—saß ich in einer Vorstellung von Hannah und ihre Schwestern. Über mir schwebte Dylan Farrow und die Frage, warum und mit welcher Rechtfertigung wir noch immer hinter unserem eigentlich verachtenswerten Jugendideal stehen. Wie kann es sein, dass Allen noch immer als Legende wahrgenommen wird? Dass er weiterhin Programmkinos füllt und Preise bekommt? Diesen Artikel habe ich zwei Monate lang vor mir hergeschoben. Lange kam ich nicht über ein Dokument mit ein paar losen Gedanken hinaus. Warum hat mich dieser Text soviel Überwindung gekostet? Lag es daran, dass man meine Empörung bis vor ein paar Tagen als irrelevant erachtet hatte?

„Es ist kaum zu fassen, dass 179 der hinreißendsten Schauspielerinnen der Welt in Woody Allens Filmen mitgespielt haben. Es gibt jedoch einen Grund dafür. Der Grund ist, dass sie es wollten. Sie wollten es, weil Woodys Frauen in keine Schublade passen. Sie kämpfen, sie lieben, sie scheitern, sie herrschen, sie haben Fehler. Sie sind das eigentliche Kennzeichen von Woodys Arbeit. Noch bemerkenswerter ist es allerdings, dass diese unvergesslichen Charaktere absolut nichts miteinander verbindet außer dem Fakt, dass sie von Woody Allen erschaffen worden sind.“

- Diane Keaton bei der stellvertretenden Entgegennahme des Cecil B. DeMille Awards, der Woody Allen für sein Lebenswerk verliehen wurde.

Woody Allen scherte sich nicht um den Preis für sein Lebenswerk. Er wollte ihn überhaupt nicht haben. Zumindest kam er nicht zur Preisverleihung, um ihn entgegenzunehmen. Warum also war es der Hollywood Foreign Press so wichtig, ihm den Preis zu verleihen? Im Rahmen der gleichen Zeremonie bekam Cate Blanchett einen Golden Globe für Blue Jasmine, in dem sie ein leicht bekleidetes, passiv-aggressiv entworfenes Mia-Surrogat spielt, das die Fehltritte ihres Partners ausblendet. Der Film war ein grausamer Racheschlag gegen Farrow, die Frau, die einst Allens Muse und eine eigenwillige Hauptdarstellerin in seinen Filmen war, bevor er eines ihrer Kinder heiratete. War das nicht Rache genug? Reicht ihm der fortwährende Erfolg, sein Status als unanfechtbare Legende, als Ikone und preisgekrönter Künstler noch immer nicht aus? Es war einfach, über Allens Liaison und Heirat mit Soon Yi hinwegzusehen, denn die Sache fand im gegenseitigen Einverständnis statt. Zumindest soweit, wie dies eben möglich ist, wenn ein Ersatzvater die lernbehinderte Adoptivtochter seiner Partnerin vögelt. Man könnte argumentieren, dass Soon-Yi als sprachlose Stellvertreterin einer Minderheit eines vom Krieg zerrissenen Landes durch ihr „Nichtsein“ gekennzeichnet ist—anders als die schwarzen Mädchen, die R. Kelly geschändet haben soll. Diese Wahrnehmung „des Anderen“ wirft kein gutes Licht auf unsere Gesellschaft, erklärt aber einiges. Es gibt einen Grund dafür, warum diese Frauen entrechtet, in Schubladen gesteckt und von der Gesellschaft und der Blogwelt weitgehend ausgeschlossen werden. Doch Dylan war nicht „die Andere“. Sie war ein verängstigtes und misshandeltes weißes Mädchen. Ein weißes Mädchen! Ist der Schutz weißer Mädchen nicht das, worum es der Gesellschaft im Wesentlichen geht? Bezüglich der Frage, warum R. Kellys Verbrechen von der Öffentlichkeit zwar nicht ignoriert wurden, es aber auch keine Aufstände gab, sagte der afroamerikanische Wissenschaftler Mark Anthony Neal: „Wäre es ein weißes Mädchen aus Winnetka gewesen, wäre die Geschichte anders verlaufen.“ Wie ist es zu erklären, dass die Geschichte trotz Dylans überwältigender Persönlichkeit keinen anderen Verlauf nahm?

Doch noch einmal zu meiner gescheiterten Nachforschung zu der anhaltenden Vergötterung von Woody Allen im Kino: Die Menschen, die sich hier versammelten, repräsentierten das typische Programmkinopublikum aus reichen und gebildeten Weißen. Wenn es irgendwo eine Zielgruppe von Allen gibt, dann hier. Meine Fragen zum Umgang mit Allens Vergehen traute ich mich jedoch nicht zu stellen, weil das Thema so tabu war. Niemand sprach darüber und niemand wollte darüber sprechen. Lieber ließ man die Klassiker für sich sprechen. So weit, so gut. Wenn man aber seine „früheren, lustigeren Werke“ bevorzugt—warum hat man ihm oder zumindest den beteiligten Schauspielern Preise für die späteren düsteren und menschenfeindlicheren Filme verliehen? Und worüber war er nochmal so verbittert? Im Grunde genommen ist er doch ziemlich gut davongekommen. Obwohl er eine seiner Töchter geheiratet und geschwängert und eine andere angeblich sexuell belästigt hat, konnte er unversehrt im Land bleiben—anders als zum Beispiel Polanski. Das ist doch ein ziemlicher Triumph, oder? Als ich einem Bekannten von meinen Gedanken im Kino erzählte, kam er mit dem üblichen Argument: „Mit dieser Begründung“, sagte er, „musst du auch Picasso und Arthur Conan Doyle ablehnen“. Ich erzählte ihm, dass ich mich davor gedrückt hatte, den anderen Kinobesuchern die Frage zu stellen, die ich mir vorgenommen hatte. „Das kann ich dir nicht verdenken“, sagte er. „Das ist eine ziemlich mutige Frage, besonders für so einen Ort.“ Er brachte das Standardargument der „Kunst um der Kunst willen“, das impliziert, dass „die Qualität des künstlerischen Schaffens andere, persönliche Aspekte des Künstlers in den Hintergrund rückt“. Diese Begründung ist selbst für einen Preis für das Lebenswerk nicht zu schlecht. Wo und wie aber zieht man die Grenze? Wann ist das Talent eines (meist männlichen) Künstlers wichtiger als seine Taten? Ist es OK, dass Phil Spector eine Frau umgebracht hat, weil sie niemals dazu in der Lage gewesen wäre, etwas so Schönes wie „Be My Baby“ hervorzubringen? Allens klassische Filme sind vor allem urbane Geschichten über moderne Formen der Romantik. Pädophilie ist jedoch eine mindestens ebenso klassische Geschichte, besonders in der Sphäre der „Künstler“. Ist das der Grund, warum man es durchgehen lässt? Bevor ich dieses Thema auf Partys ansprechen konnte, musste ich mich erst betrinken. In neun von zehn Fällen wurde ich mit Aussagen wie „Dass er sie wirklich belästigt hat, wurde nie bewiesen“ oder „Keine Ahnung, darüber mache ich mir eigentlich keine Gedanken“ abgewürgt. Bevor ich das Kino verließ, ging ich auf einen unauffälligen weißen Typen Ende 20 zu, der einen Kaffee in der Hand hielt. Ich fragte ihn, wie er Woody Allens Filme mit seinen Vergehen in Einklang bringen könne. „Keine Ahnung“, sagte er. „Darüber mache ich mir eigentlich keine Gedanken.“ Mein Lieblingsfilm von Woody Allen ist Verbrechen und andere Kleinigkeiten, in dem der Protagonist mit einem Mord davonkommt. Seine einzige Bestrafung besteht darin, dass er mit dem, was er getan hat, leben muss. Das ist umso leichter, wenn sich niemand um deine Verbrechen kümmert.