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Ketamin könnte Depressiven das Leben retten—wird aber wohl nie so eingesetzt

Obwohl es von manchen Forschern als „größter Durchbruch in der Forschung zur Depression seit 50 Jahren“ bezeichnet wird, bekommt Ketamin in Deutschland wahrscheinlich nie eine Zulassung als Antidepressivum—weil sich damit einfach kein Profit machen...

Foto von Psychonaught

Ihr kennt Ketamin vielleicht eher aus den Clubs, wo es seit ein paar Jahren regelmäßig für vor sich hinbrabbelnde Wracks sorgt. Doch das Anästhetikum, das Mensch, Hund und Pferd in die Narkose befördert, könnte eines der effektivsten Mittel zur Behandlung von depressiven Erkrankungen sein, die je entdeckt wurden. In Deutschland wird die Lieblingsdroge der Chinesen deshalb jetzt bis Ende des Jahres in der Berliner Charité auch als Wirkstoff bei depressiven Patienten getestet. Trotzdem wird es möglicherweise nie zur breiten Anwendung in Deutschland kommen—weil sich damit kein Profit machen lässt.

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Ketamin wurde 1962 von dem US-amerikanischen Pharmazeuten Calvin Stevens erstmals synthetisiert und vier Jahre später als Narkosemittel patentiert. Dem Wissenschaftler John H. Krystal fiel Ende der 80er Jahre während einer Untersuchungsreihe mit Schizophrenen als Erstem auf, dass Ketamin den Zustand seiner Patienten auffallend verbesserte. 2006 injizierte Carlos Zarate vom National Institute of Mental Health (NIMH) 18 schwer depressiven Patienten eine sehr geringe Menge Ketamin intravenös. Die intravenöse Verabreichung von Ketamin reduzierte die depressiven Symptome seiner Patienten täglich mehr, bis keine mehr vorhanden waren—die Wirkung ließ aber nach einer Woche wieder nach.

Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) liegt in Deutschland die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens eine Depression zu entwickeln, bei 16 bis 20 Prozent. Behandelt wird die Krankheit mithilfe von Psychotherapie und Medikamenten, idealerweise in Kombination. Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung ergab jedoch, dass nur 26% der Patienten tatsächlich die empfohlene Kombination erhalten. Ein weiteres Problem der Behandlung liegt darin, dass es oft Monate dauern kann, bis das richtige Medikament gefunden ist. Und selbst dann kann der Patient das Pech haben, zu den ca. 20 Prozent zu gehören, auf die Antidepressiva keine Wirkung haben.

Aber auch bei solchen „therapieresistenten“ Patienten hat sich Ketamin als wirksam erwiesen. Die Welt berichtete, dass bei bis zu 70 Prozent jener Patienten, bei denen kein anderes Medikament angeschlagen hatte, bald nach der Verabreichung deutliche Verbesserungen festgestellt werden konnten. In einem Artikel für das Fachjournal Science beschreiben die beiden Psychiater Ronald Duman und George Aghajanian ihre Untersuchungen zur neurologischen Wirkung der Substanz. Ihr Fazit: „Die schnelle therapeutische Wirkung von Ketamin bei therapieresistenten Patienten ist der größte Durchbruch in der Forschung zur Depression seit 50 Jahren.“ Für einen stark depressiven Menschen, bei dem das Suizidrisiko sehr hoch ist und gängige Antidepressiva oder Psychotherapien gescheitert sind, wäre Ketamin somit ein lebensrettendes Medikament.

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Unter der Leitung von Malek Bajbouj wurden am Zentrum für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie an der Charié bis jetzt 16 Patienten mit Ketamin versorgt. Vorher mussten sich die Patienten verschiedenen Aufnahmeverfahren unterziehen, um für die Testreihe in Frage zu kommen. „Im Rahmen der stationären Aufnahme, die zwei oder drei Wochen dauert, wird geschaut, ob Ketamin oder ein anderes antidepressives Verfahren aus unserer Perspektive das erfolgsversprechendste ist“, erklärt der Leiter der Studie Prof. Dr. Bajbouj. „Wenn wir uns dann für Ketamin entscheiden, bekommen die Patienten in der Regel in zwei Wochen sechs Infusionen.“

Schon jetzt sind die Ergebnisse der Studie sehr positiv. Bei 50 Prozent der Patienten konnten die Symptome halbiert werden, bei 35 Prozent haben sie sich um zwei Drittel verringert. Auch die Nebenwirkungen scheinen bis jetzt unbedenklich. „Die ersten Befunde und Ergebnisse sind vielversprechend“, fügt Bajbouj hinzu, „wenn sich das in weiteren größeren Studien bestätigt, kann man durchaus überlegen, wie es weiter geht.“ Eine Weiterentwicklung der Substanz in Form von Tablette oder Nasenspray schließt er bei weiteren erfolgreichen Untersuchungsergebnissen nicht aus, da die gegenwärtige Methode der Infusion auf Dauer zu aufwendig und teuer für den einzelnen Patienten ist.

Andere Ärzte sehen einen breiten Einsatz von Ketamin allerdings deutlich skeptischer. Prof. Dr. Michael Deuschle, Oberarzt in der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, hat mir erklärt, warum er nicht glaubt, dass Ketamin jemals breit zur Behandlung von Depressiven eingesetzt werden wird.

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Auf der einen Seite sieht auch er das Problem, dass regelmäßige Infusionen zu teuer sind. „Wenn ich hier in meiner Praxis einem Patienten ein übliches Antidepressivum verordne, dann kostet diese medikamentöse Behandlung 2 Euro am Tag“, sagt der Arzt. „Wenn ich dem eine Infusion einlaufen lasse mit Ketamin, brauche ich eine Intensivüberwachung mit Monitor und einen Anästhesisten daneben. Dann kostet diese  Behandlung bestimmt 150 Euro pro Tag—das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch.“

Deshalb hält auch Dr. Deuschle die Verabreichung in Tablettenform für die effizienteste Methode. Anders als Dr. Bajbouj glaubt er aber nicht, dass Ketamin jemals eine Zulassung bekommen wird—ganz einfach, weil es schon zu lange bekannt ist. „Ich bin sehr sehr skeptisch, dass eine Firma dieses Medikament zulässt, weil es darauf kein Patent geben kann“, sagte er mir. „Patente gibt es ja dann, wenn eine Substanz neu entwickelt wird.

Aber jetzt ist Ketamin relativ günstig für den Narkosearzt schon in der Apotheke erhältlich, deswegen wird keine Pharmafirma den hohen Aufwand, den Prozess der Zulassungsstudien des Zulassungsmedikaments—da reden wir ja von Beträgen von üblicherweise Dutzenden von Millionen—zahlen.“ Was bedeutet, dass ein bereits weithin verfügbares und erwiesenermaßen effektives Medikament keine Zulassung erhalten wird, weil es sich für keinen Pharmakonzern lohnt, diese voranzutreiben. In den Worten Dr. Deuschles: „Das heißt, wir erforschen hier eine Substanz, bei der ich persönlich glaube, dass die Chance der Zulassung sehr, sehr klein ist.“

Trotzdem rät Dr. Deuschle dringend davon ab, sich einfach auf eigene Faust Ketamin auf der Straße zu besorgen. „Das ist lebensgefährlich!“, warnt der Arzt. „Das ist ein Narkosemittel, man kann einen schweren Schaden davon kriegen. Man sollte das niemals privat machen.“ Falls die Zulassung für Ketamin als Mittel gegen Depressionen also tatsächlich nie erfolgt, wird es schwierig für Depressive, die nicht gerade an einer Charité-Studie teilnehmen.

Als einzige Möglichkeit bleibt dann noch, sich einen aufgeschlossenen Arzt zu suchen, der in Zusammenarbeit mit einer Apotheke Einzelanfertigungen von Ketamin-Tabletten für den Patienten herstellen lässt. Wenn Ketamin aber weiterhin nur als schweres Narkosemittel und illegale Droge bekannt bleibt, dann wird es schwierig werden, den Hauspsychiater davon zu überzeugen. Was so ziemlich bedeutet, dass das womöglich effektivste Mittel zur Bekämpfung lebensgefährlicher Depressionen in Deutschland wahrscheinlich nie zugänglich sein wird.