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Sex

In rituellen Badehäusern orthodoxer Juden werden Kinder systematisch missbraucht

Rabbi Nuchem Rosenberg ist ein Whistleblower, der schon seit Jahren den systematischen Missbrauch an Jungen aus fundamentalistischen jüdischen Gemeinden anprangert. Deswegen wird er mittlerweile auch von seinen Glaubensbrüdern geächtet.

Rabbi Nuchem Rosenberg, der einsame Whistleblower unter den Satmar, einer mächtigen chassidischen Sekte, der kürzlich in Williamsburg, Brooklyn, Opfer eines Angriffs mit Bleichmitteln wurde. Fotos von Christian Storm.

Rabbi Nuchem Rosenberg, 63 Jahre alt und mit einem langen, ergrauten Bart, setzte sich neulich mit mir hin, um zu erläutern, was er als „Fließband für Kindesmissbrauch“ bei Glaubensgemeinschaften fundamentalistischer Juden bezeichnet. Als Mitglied der chassidischen Satmar in Brooklyn, eines fundamentalistischen Zweigs orthodoxer Juden, entwirft und repariert Nuchem Mikwen nach den Gesetzen der Tora. Die Mikwe ist das zur Reinigung dienende jüdische Ritualbad. Fromme Juden sind angehalten, sich bei den verschiedensten Gelegenheiten in der Mikwe zu reinigen: Frauen müssen nach ihrer Menstruation baden und Männer vor den hohen Feiertagen wie Rosch ha-Schana und Jom Kippur. Viele fromme Juden reinigen sich auch vor und nach dem Sex und vor dem Sabbat.

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Bei einem Aufenthalt in Jerusalem 2005 begab sich Rabbi Rosenberg in eine Mikwe in Me’a She’arim, einem der heiligsten Viertel der Stadt. „Ich öffnete die Tür zu einem Dampfbad“, berichtete er mir. „Überall Wasserdampf, ich kann kaum sehen. Meine Augen gewöhnen sich, und da sehe ich einen alten Mann, mit einem langen weißen Bart, einen heilig aussehenden Mann, der im Wasserdampf sitzt. Auf seinem Schoß, den Blick von ihm abgewandt, sitzt ein vielleicht sieben Jahre alter Junge. Und der alte Mann hat Analsex mit diesem Jungen.“

Rabbi Rosenberg hielt kurz inne, sammelte sich und fuhr fort: „Der Junge war aufgespießt auf diesem Mann wie ein Schwein, und der Junge sagte nichts. Aber auf seinem Gesicht—Angst. Der alte Mann [schaute mich an] ohne jede Angst, so, als ob das alles ganz normal sei. Er hörte nicht auf. Ich war so wütend, dass ich ihn zur Rede stellte. Er nahm den Jungen von seinem Penis und ich nahm ihn zur Seite. Ich sagte diesem Mann: ,Das ist eine Sünde vor Gott, ein mishkovzucher. Sie zerstören den Jungen!‘ Er hatte einen Stock mit einem Schwamm zum Reinigen seines Rückens in der Hand, mit dem er mir ins Gesicht schlug: ,Wie kannst du es wagen, mich zu stören!‘ Ich hatte schon öfter von diesen Dingen gehört, es aber jetzt zum ersten Mal gesehen.“

Die Kindesmissbrauchskrise im ultra-orthodoxen Judentum hat, ähnlich wie die in der katholischen Kirche, in den letzten Jahren für reichlich schockierende Schlagzeilen gesorgt. In New York und in den orthodoxen Gemeinden in Israel und London haben Anschuldigungen wegen Belästigung und Missbrauch von Kindern stark zugenommen. Bei den mutmaßlichen Tätern handelt es sich um Lehrer, Rabbis, Väter, Onkel—männliche Autoritätspersonen. Bei den Opfern handelt es sich wie im Falle der katholischen Priester zumeist um Jungen. Rabbi Rosenberg glaubt, dass etwa die Hälfte der jungen männlichen Mitglieder der chassidischen Gemeinde in Brooklyn—der größten in den Vereinigten Staaten und eine der größten der Welt—bereits Opfer sexueller Übergriffe durch Ältere war. Ben Hirsch, Leiter von Survivors for Justice, einer Brooklyner Organisation, die sich für orthodoxe Missbrauchsopfer einsetzt, geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl viel höher ist. „Allem Anschein nach haben wir es hier mit mehr als 50 Prozent zu tun. Es hat sich schon fast zu einem Initiationsritus entwickelt.“

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Ultra-orthodoxe Juden, die offen über diesen Missbrauch sprechen, werden zugrunde gerichtet und von ihrer eigenen Gemeinde ins Exil verbannt. Dr. Amy Neustein, eine nicht fundamentalistische orthodox-jüdische Soziologin und Herausgeberin von Tempest in the Temple: Jewish Communities and Child Sex Scandals, erzählte mir von einer Reihe chassidischer Mütter in Brooklyn, die sich bei ihr beschwert hatten, dass ihre Ehemänner ihren Kindern nachstellen würden.

Die Beschuldigten würden sich sehr schnell und effektiv mit orthodoxen Politikern und einflussreichen orthodoxen Rabbis zusammentun, „die großzügig an politische Vereinigungen spenden“. Ziel sei es, die Mutter aus dem Leben des Kindes zu verbannen. Rabbinische Gerichte sondern die Mütter aus, mit dauerhaften Folgen. Die Mutter ist „amputiert“.

Rabbi Rosenberg inspiziert ein Bad für die rituelle Reinigung, die sogenannte Mikwe. 2005 wurde er Zeuge, wie ein Junge in einem solchen Bad vergewaltigt wurde.

Vor sieben Jahren begann Rabbi Rosenberg einen Blog zu sexuellem Missbrauch in seiner Gemeinde und startete eine Hotline für sexuellen Missbrauch in New York. Er veröffentlichte Appelle auf Youtube, war auf CNN zu sehen und hat in den gesamten USA, Kanada, Israel und Australien Vorträge gehalten. Heute ist er der einsame Whistleblower unter den Satmar. Dafür wird er geschmäht, beleidigt, gehasst, gefürchtet. Er erhält regelmäßig Todesdrohungen. In jiddischen und hebräischen Zeitungen wurde er in Anzeigen, die von den selbst ernannten „großen Rabbis und rabbinischen Richtern der Stadt New York“ aufgegeben wurden, als „Stolperstein des Hauses Israel“ bezeichnet, der „beharrlich an seinem Rebellentum festhält“ und dessen „Stimme in vielen jüdischen Familien zu hören war, vor allem bei unschuldigen jungen Leuten … die geneigt sind, seinen verderblichen, rebellischen Reden Gehör zu schenken“.

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Flugblätter, die in Williamsburg und Borough Park, den Zentren der Ultra-Orthodoxen in Brooklyn, verteilt wurden, zeigen sein bärtiges Gesicht über dem sich windenden Körper einer Schlange. „Korrupter Denunziant“ heißt es auf einem der Flugblätter, gefolgt von der Erklärung, Rabbi Rosenbergs „Name soll für immer in der Hölle schmoren“. Wenn Rabbi Rosenberg in einer der Mikwen in Brooklyn baden möchte, ist er nirgendwo willkommen. „Er ist in der Gemeinde am Ende, ruiniert“, sagte ein Rabbinerkollege, der nicht möchte, dass sein Name genannt wird. „Er wird von niemandem angeschaut und wer mit ihm redet, darf dies nicht publik machen.“

Die einflussreichen Männer—und es sollte erwähnt werden, dass diese Gemeinde nahezu ausschließlich von Männern reguliert wird—die in dieser Welt des ultra-orthodoxen Judentums herrschen, hätten es lieber, wenn ihre Anhänger in blindem Glauben ihre Augen vor den Gräueln verschließen würden, die Rabbi Rosenberg offenlegt. Wie das katholische Establishment versucht auch das Rabbinat, die Opfer zum Schweigen zu bringen, die Täter zu schützen und mögliche Kritik an den institutionellen Praktiken abzuweisen. Als der Vater des siebenjährigen Jungen, den Rabbi Rosenberg aus dem Jerusalemer Badehaus gerettet hatte, seinen Sohn abholen kam, konnte er nicht glauben, dass sein Sohn vergewaltigt worden war. Vor Entsetzen zitternd schaffte er seinen Sohn fort, um ihn medizinisch versorgen zu lassen, und hatte trotzdem zu viel Angst, um formell Klage zu erheben. Ben und Survivors for Justice meinen dazu: „Die größte Sünde ist nicht der Missbrauch, sondern über den Missbrauch zu reden. Kinder und Eltern, die Anklage erheben, werden zerstört.“

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Als Rabbi Rosenberg seine Bedenken gegenüber dem Rabbinat in Israel äußerte, wurde er von der erzkonservativen orthodoxen „Sitteneinheit“ mishmeres hatznuis angeklagt. Diese Einheit regelt, häufig durch Androhung von Gewalt, das richtige moralische Verhalten und die angemessene Kleidung zwischen Männern und Frauen. Rabbi Rosenberg zufolge handelte es sich bei dem Vergewaltiger, den er auf frischer Tat ertappte, um ein Mitglied der Sitteneinheit, die ihn des sittenwidrigen Vergehens beschuldigte, zuvor in Jerusalem in Begleitung einer verheirateten Frau die Straße hinabgegangen zu sein. „Aber Kinder zu missbrauchen, das ist in Ordnung“, fügt er hinzu.

Der Missbrauch und seine Vertuschung sind Symptome eines umfassenderen Missstandes—genauer: Symptome einer gesellschaftlich verheerenden politischen Kontrolle durch religiöse Eliten. „Hier geht es nicht um einzelne abweichende Fälle oder eine altmodische Gemeinschaft, die nicht mit der Polizei über sexuelle Angelegenheiten sprechen möchte“, meint Michael Lesher, ein gläubiger Jude, der sexuellen Missbrauch unter Orthodoxen untersucht und Missbrauchsopfer juristisch vertreten hat. „Hier geht es um eine politische Ökonomie, die das orthodoxe Judentum mit anderen fundamentalistischen Glaubensbekenntnissen und Aspekten rechter Ideologien allgemein verbindet. Eine Ökonomie, in der es echte religiöse Werte nie nach oben schaffen werden, solange sie mit den Prioritäten verknüpft sind, die Status und Macht über die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse der Verletzbarsten setzen.“

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Michael, der gerade an einem Buch zu diesem Thema schreibt, merkte an, dass der berüchtigte Rabbi Elior Chen, der 2010 der bisher wohl schlimmsten Serie von Kindesmissbrauch in Israel überführt wurde, in öffentlichen Stellungnahmen von führenden ultra-orthodoxen Rabbis noch immer verteidigt wird. Neben anderen rechtlichen und ethischen Verbrechen zwang der Rabbi seine Opfer, Kot zu essen, unter dem Vorwand, dies sei notwendig, um die von ihm missbrauchten Kinder zu „reinigen“.

Die Mikwe Israel in Boro Park, eine der vielen Mikwen, die Rabbi Rosenberg nicht mehr reinlassen.

Ben zufolge war die ultra-orthodoxe Religionsgemeinschaft noch nie so repressiv wie heute. Großfamilien werden gefördert: Jedes Kind, dass den Chassidim geboren wird, gilt als „Finger im Auge Hitlers“. Ben erzählte mir auch, dass eine durchschnittliche chassidische Familie in Williamsburg aus neun Mitgliedern besteht und einige Familien mehr als 15 Kinder haben.

Familien, die unter der Last einer wachsenden Schar an Kindern leiden, geraten bald in einen Armutskreislauf. Gleichzeitig herrscht eine extreme Geschlechtertrennung, wie sie in der Geschichte der Chassidim bisher einmalig ist. Allgemeinbildung wird nur eingeschränkt vermittelt, sodass die meisten Männer in der Gemeinde nur bis zur dritten Klasse zur Schule gegangen sind und absolut keine Sexualaufklärung erhalten haben. Säkulare Zeitungen sind nicht erlaubt, Internetzugang ist verboten. „Die Männer in der Gemeinde haben bewusst keine Bildung erhalten“, sagte Ben. „Wir haben hier eine infantilisierte Gesellschaft. Sie wurde darauf abgerichtet, nicht nachzudenken.“

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Die Rabbis bestimmen über das Schicksal jedes einzelnen Mitglieds ihrer Gemeinde. Nichts geschieht ohne die Zustimmung des rabbinischen Establishments. Will ein Mann ein neues Auto kaufen, holt er sich Rat beim Rabbi. Will ein Mann heiraten, sagt der Rabbi ihm, ob er eine bestimmte Braut heiraten sollte oder nicht. Was die Frauen anbetrifft, so haben die nicht die Möglichkeit, den Rabbi irgendwas zu fragen.

Michael erzählte mir, dass die derzeitige orthodoxe Führung, deren Wohlstand durch die Abgaben ergebener Anhänger stetig zunimmt, in politischer wie religiöser Hinsicht nach rechts drifte. Viele Rabbiner in New York halten die Fahne des Neoliberalismus hoch. „Alle englischsprachigen orthodoxen Publikationen, die ich kenne, haben während der Wahlen 2012 Romney unterstützt und sich gegen die staatliche Krankenversicherung ausgesprochen“, sagte er.

Michael merkte auch an, dass das Problem nicht allein die Extremisten betrifft. „Das gleiche Muster, Opfern die Schuld zu geben, die Rabbis zu idealisieren, sodass Vertuschungen nicht einmal wahrgenommen werden, findet sich im gesamten orthodoxen Spektrum“, erzählte er mir. „Die orthodoxe Linke hat beschämend langsam auf den Missbrauch durch Rabbi Baruch Lanner oder den ähnlich gearteten Fall von Rabbi Mordechai Elon reagiert.“ Rabbi Lanner, ehemaliger Leiter einer Jeschiwa-Highschool in New Jersey, wurde 2000 für schuldig befunden, in den Jahrzehnten seiner Amtszeit Dutzende seiner Schüler sexuell missbraucht zu haben. Rabbi Elon, der Homosexualität öffentlich denunziert hatte, wurde letzten August in zwei Fällen der sexuellen Nötigung von männlichen Minderjährigen überführt.

„Zu mir kommen Kinder mit ihren Eltern und sie bluten aus dem Anus“, erzählte mir Rabbi Rosenberg bei unserem Treffen. „Was sollen wir tun?“ Das ist natürlich die Kernfrage, auf die es noch keine Antworten gibt. Einige Wochen nach unserem Interview war Rabbi Rosenberg gerade in Williamsburg unterwegs, als ein Unbekannter sich ihm von hinten näherte und ihm einen Becher Bleichmittel ins Gesicht schüttete. Er kam mit Gesichtsverbrennungen ins Krankenhaus und war vorübergehend blind. Das also versteht man bei den Satmar als Gerechtigkeit: dass ein einst respektierter und jetzt aus der Gemeinschaft ausgeschlossener Rabbi auf offener Straße mit Chemikalien verbrannt wird. Später erzählte mir Rabbi Rosenberg, wie er einmal in Williamsburg von Jungen umringt worden sei. Die Jungen verfluchten ihn, drohten ihm und spuckten ihn an. Er fragte sich, wie viele von ihnen wohl missbraucht werden würden.

Fotos von Christian Storm.