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Fotos

Kishin Sinoyama ist einfach kein Mann seiner Zeit

Als wir versuchten, uns vor dem Interview mit Kishin Shinoyama vor seinem Büro selbst zu beruhigen, fuhr ein Taxi vor und heraus stolperte der Mann höchtspersönlich. Der Anblick, wie er die Treppe hochtaumelte, erinnerte uns daran, dass er aus Fleisch und Knochen bestand. Es fällt leicht das zu vergessen. Denn der bald 70-Jährige ist einer der Superschwergewichte der japanischen Fotografie. Kein Tag vergeht, ohne dass eines seiner Fotos auf dem Titel einer Zeitschrift, eines Buches oder auf einem Poster aufblitzt, egal, wo man ist. Er lichtet alles ab, von Antiquitäten bis hin zu Pornostars. In seiner Karriere haben viele seiner Bücher das Ausmaß eines sozialen Phänomens angenommen und ihn in kulturelle Probleme verwickelt, die noch viel größer sind, als er selbst.Solch eine Problem war etwa die kürzlich erhobene Anklage wegen öffentlichen Ärgernisses und der fehlenden Achtung einer heiligen Stätte - letzteres ist ein Verbrechen, von dem noch nie jemand etwas gehört hatte. Etwas, was Shinoyama schon jahrzehntelang gemacht hat - unter freiem Himmel Nackte zu fotografieren - wurde plötzlich eine große Sache, die polizeiliches Eingreifen erforderte. Das verwirrt ein bisschen, auch wenn man bezüglich des japanischen Trends, jede Form des "unanständigen" Ausdrucks auszurotten, auf dem neuesten Stand ist und über das Faktum Bescheid weiß, dass Shinoyama über das halbe letzte Jahrundert hinweg mehr oder weniger das Schlagwort für die Lockerung solcher Normen war.

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Wir sind gleich selbst zu seinem Büro hochgegangen und wurden herzlich in sein Studio eingeladen. Wir setzten uns und konnten sogar noch klar Hallo sagen, bevor das Interview begann und wir ihn in einer kontrollierten Detonation zeitloser Energie aufgehen sehen konnten.

Vice: Die Anschuldigung einer "Ordnungswidrigkeit" wurde Ihnen vor ein paar Tagen vorgetragen. Wie fühlen Sie sich für etwas beschuldigt zu werden, das man jahrzentelang praktiziert hat?
Kishin Shinoyama: Es war auf eine Art und Weise komisch, aber ich persönlich vertrete die Haltung "Wenn die Leute so denken, dann ist mir das schon recht." Obwohl es stimmt, dass jeder andere die ganze Sache definitiv grotesk fände. Es ist ein merkwürdiger Vorfall. Ich habe in einer öffentlichen Stellungnahme alles niedergeschrieben, was ich dazu zu sagen habe und ich rate euch das sorgfältig zu lesen.

In der Stellungnahme schreiben Sie auch "wenn die Freiheit des Ausdruck einmal verloren geht, braucht es Zeit, sie wieder zurückzugewinnen."
Die waren trotzdem sehr raffiniert. Sie beschweren sich nicht über das Ergebnis der Arbeit. Sondern sie sagen "Es gab ein Problem mit der Art, wie das Foto gemacht wurde", dass sie "nicht viel Lärm darum machen werden, dass ich die Werke verkaufe." Doch diese Arbeiten wurden an Orten gemacht, die ohne zweifellos von anderen gesehen werden konnten. Und das fällt unter die Bezeichnung "unanständige Darstellung". Alles, was ich dann noch sagen konnte, war "Oh, stimmt das?" Sie erzählten mir sogar, es gäbe ähnliche Präsedenzfälle.

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Überzeugt Sie die Begründung schließlich, dass die Handlung selbs das Problematische sei?
Ich habe diese Fotos gemacht, weil ich nicht davon ausging, dass es ein Problem sei. Doch dann sagten sie mir, es wäre ein Verbrechen ungeachtet der Tatsache, dass der Ort zu hundert Prozent aus dem Blickfeld eines jedes anderen ausgeschlossen ist. Was kann ich tun, außer mich damit zufrieden zu geben? Deswegen gebe ich mich auch damit zufrieden. Aber auch wenn es für diese Art von Fotografien kein Problem darstellt, in der Welt verbreitet und verkauft zu werden, leitet die Tatsache, dass einer gesetzliche Angelegenheit wie dieser so breite Aufmerksamkeit zuteil wird, wohl jeden dazu an zu denken, dass es falsch ist, draußen Fotos zu machen oder zu denken, dass man dafür eingesperrt werden könnte. Ich glaube fest daran, dass es da jetzt einen abschreckenden Effekt gibt und jeder nun anfängt seine künstlerischen Arbeiten zu unterlassen. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, egal, wie klein die Strafe sein mag. Vielleicht ist die Anklage nur passiert, um genau diesen Effekt zu erzielen.

Doch sie hätten auch die Wahl gehabt vor Gericht zu gehen, stimmt's? Haben Sie diese Option nicht in Erwägung gezogen?
Auf keinen Fall. Sie haben ja kein Problem mit dem, was ich darstelle, richtig? Sie sagen ja nicht, dass das, was ich darstelle an sich "unanständig" ist, aber dass die Art, wie ich die Fotos mache, die das Problem ist. Selbst wenn ich dagegen vorgehen würde, wäre ich zum verlieren bestimmt. Wie ich schon sagte, gibt es einen Präsedenzfall. Wenn man am Strand ein Nacktporträt macht, könnte das möglicherweise immer jemand auf einem küstennahen Schiff sehen, stimmt's? Und dann sagen sie, das wäre "öffentliches Ärgernis". Es ist unmöglich, einen Raum in einer Stadt vollständig unzugänglich zu machen. Deswegen habe ich mit den Worten "OK, ich verstehe." erwidert und habe dem Ganzen ein Ende gesetzt, indem ich den einfachsten Weg gewählt habe, mich mit der "Ordnungswidrigkeit" zufrieden zu geben und etwas Geld zu zahlen.

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Junge japanische Fotografen werden diesen "abschreckenden Effekt" wohl am ärgsten zu spüren bekommen. Wie denken Sie über diese jungen Fotografen?
Naja, Fotografie hält der Zeit ihren Spiegel vor, und wenn die Zeiten sich ändern, kommen neue junge Leute hervor, die die Welt, in der sie leben, durch Fotografien ausdrücken. Es gibt einen Haufen interessanter junger Fotografen dort draußen. Ich war Teil des Auswahlkomitees des Ihee-Kimura-Preises und jedes Jahr gibt es da eine ganze Menge an interessanten Fotografen, dich mich sagen lassen: "Über sowas habe ich noch nie nachgedacht" oder "Ich war nie in der Lage, die Welt auf diese Weise zu betrachten." Es ist anregend.

Studieren Sie bewusst die Arbeiten anderer um Ihren Scharfsinn mit dem Älterwerden weiter zu behalten?
Ich studiere die nicht wirklich. Naja…

Der Grund, warum ich frage ist, dass ich wo gelesen habe, dass Sie die Zeitschrift Egg sammeln und studieren.
Egg?

Das ist ein japanisches Modemagazin, das hauptsächlich von "Gyaru"-Mädchen gelesen wird, die an Orten wie Shibuya unterwegs sind. Es hat auch erotischen Inhalt, welchen ich ziemlich nützlich fand in anderen Zeiten. Wie auch immer.
Ach das. Das habe ich nicht wirklich gesammelt. Es war nur mein Interesse an etwas, über das ich nicht viel wusste. Ich wollte wissen, warum ein Magazin wie dieses so beliebt werden konnte und welche Art von Leuten sich an seinem Inhalt erfreuen. Wisst ihr, es ist interessant, sich solche Sachen anzusehen. Ich reagiere nur auf natürliche Weise auf die Dinge, es ist nichts Hochtrabendes wie "studieren".

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Am Ende Ihrer Stellungnahme werfen Sie die Frage auf: "Welche Art von Bildern werde ich in zwanzig Jahren in Tokio noch machen können?"
Damals war es in Ordnung in der Stadt Schnappschüsse zu machen, aber mit den gegenwärtigen Marktschreiern über Bildrechte und den verpixelten Gesichtern im Fernsehen ist es nicht länger möglich, das zu tun. Man konnte sogar mit jungen Mädchen als Models arbeiten. Doch das verträgt sich wiederum nicht mit den heutigen Gesetzen zur Kinderpornografie. Und jetzt reden sie von "öffentlichem Ärgernis." Das Regelwerk wird immer strenger. Die Frage ist, was wir überhaupt fotografieren dürfen. Vielleicht dürfen wir eines Tages nur noch das Meer und den Himmel fotografieren.

Aber haben Sie nicht auch einmal gesagt, dass es der Fotografie gut tut, dass sie sich nach dem Maß eines Regelwerks ausrichten muss?
Naja, ich glaube nur, dass es keine Länder oder Zeiten gibt, wo es kein Regelwerk gibt. Sogar heute noch gibt es Länder, in denen Frauen einen Schleier tragen müssen und nicht einmal ihr Gesicht zeigen dürfen. Manche Länder verbieten, dass man Schamhaar oder Nippel ausstellt, auch wenn sie nicht mal mit den Genitalien ein Problem haben. Es ist einfach der Fall, dass in verschiedenen Ländern, an verschiedenen Orten und verschiedenen Zeiten auch verschiedene Regelwerke herrschen.

Wie hast du das riesige Foto dort drüben aufgenommen?
Sowas nenne ich "Shino-rama" und ist mit drei Kameras gleichzeitig aufgenommen. Das ist eines der Bilder, die in Taiwan ausgestellt werden. Ich werde dort meine Fotos aus den achtziger Jahren ausstellen. Der Grund, warum ich in den achtzigern Shino-ramas gemacht habe ist, dass die Wirtschaftsblase in Japan zu der Zeit an ihrem prallsten Punkt war und ich die Energie dieser Ära nicht mit einer Kamera alleine erfassen konnte. Obgleich icht das nicht bewusst tat, zu denken, dass ich die Zeit erfassen musste, ihr wisst schon. Nein. Es war nicht viel Nachdenken dabei, es ist eher das Gefühl, dass einem von der Zeit und der Stadt etwas beigebracht wird und man etwas darauf antwortet, indem man instinktiv fotografiert.

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Also sind Sie kein Befürworter des Stils erst ein Konzept zu haben und dann ein Foto zu machen. Sie lassen sich von Ihren Empfindsamkeiten leiten?
Ja, genau. Ich mache meine Bilder instinktiv, während ich mich auf meine Empfindsamkeit berufe, ohne ein Konzept, deswegen ist es auf der einen Seite ein Durcheinander, aber es lässt auch eine eigenartige Form der fotografischen "Kraft" aufkommen. Es geht nicht darum ein Konzept auf ein Foto umzusetzen, sondern darum, interessante Dinge zu fotografieren, die zurzeit herumschwirren. Es unterscheidet sich vollkommen von der Art, wie Leute aus dem Westen fotografieren…

Gibt es einen Grund dafür, dass Sie trotz Ihrer breiten Themenvielfalt nie Fotojournalismus gemacht haben?
Der Grund dafür ist, dass ich es interessanter finde zu lügen. Die Fotografie hält nicht die Wahrheit fest. Die Dinge sehen vollkommen anders aus, je nach dem, ob man die Kamera senkrecht oder waagrecht positioniert. Eine Foto eines Teils der Wirklichkeit aufzunehmen ist im Wesentlichen eine Lüge. Und was ich versuche, ist verschiedene Arten des Lügens auszuprobieren. So wähle ich für ein Fotomodel etwa einen Ort, an dem sich ein Model normalerweise nicht aufhalten würde. Ich sehe Tokio zur Zeit als eine neo-futuristische Ruine. Und würdet ihr nicht sagen, dass es eine unwahrscheinliche Szene ist, wenn man dann ein ein nacktes Mädchen in dieser Stadt stehen sieht? Die Leute hinterfragen nie die städtische Landschaft in Tokio. Doch wenn man hier ein Objekt von außerhalb platzieren würde, würden sie bemerken, was Tokio für ein mysteriöser Ort ist. Darum habe ich in 20XX Tokyo ein Nacktmodel als Objekt platziert.

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20XX Tokyo

Aber warum haben Sie sich für die Verwendeung einer Nackten anstelle eines Objekts entschieden?
Ich habe euch erzählt, dass ich die Nackte als ein unwahrscheinliches Objekt wollte, und das gibt der Fotografie auch eine größere Bedeutung, seht ihr? Ihr könntet mir jetzt sagen, dass es auch eine Puppe getan hätte. Doch ich denke, dass etwas Feinfühligeres wie ein menschliches Wesen ist viel interessanter ist.

Sie haben gerade 20XX Tokyo erwähnt. Ein Model, wegen dem du auch beschuldigt wurdest, wurde bald nach dem Erscheinen des Buchs ein Pornostar, richtig?
Ja. Wenn ich das nur kurz erläutern darf: Ich wollte wieder mal erreichen, dass die weibliche Nackte wie ein Android wirkt, als ich Saori Hara fotografierte. Also sagte ich ihr, dass es unnötig wäre, verspielt zu sein oder zu lachen. Der Grund, warum ich mit Pornodarstellern arbeite, ist folgender: Sie arbeiten mit der Prämisse sich auszuziehen und es kann ihnen auch niemand verbieten. Es ist ein Albtraum manche Schauspielerinnen dazu zu bringen genau das zu tun. Also unterliegt man einfach einem größeren Grad der Freiheit, wenn man mit Pornodarstellern arbeitet. Einen Pornostar zu finden, der schön ist und ins Bild passt, das ins Bild passt - besser geht es nicht.

Ohne Frage. Kannst du uns etwas über deine letzte Arbeit erzählen?
Ich habe letztens Kabuki fotografiert. Kabuki-za (das Haupttheater für die traditionelle Theaterform des Kabuki) wurde im April diesen Jahres abgerissen, und ich habe gemeinsam mit Bando Tamasaburo, der der gefeiertste Onnagata ist (ein Kabuzi-Darsteller, der sich auf die Darstellung von Frauenrollen spezialisiert hat) und mein Mittelsmann war, die letzten drei Monate des Kabuki dokumentiert. Es ist ein interessantes Buch daraus geworden, welches das menschliche Sein durch das Festhalten jeden Millimeters des Kabuki-za dokumentiert.

Also ging es dabei weniger ums Festhalten der Zeit als viel mehr um die Person…
Nein, so war es nicht. Kabuki selbst ist eine Lüge. Etwa spielt ein Mann eine Frau. Mit viel Schminke und allem. Es ist eine Welt der Lügen. Und Kabuki-za, das diese Welt der Lügen erschafft ist auf eine Art ein Labyrinth. Eine Dokumentation der letzten drei Monate dieses Labyrinths ist wahrscheinlich ein wenig anders als eine gewöhnliche Reportage.