Ich habe versucht, mich am Frequency an Knigges Benimm-Regeln zu halten

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Ich habe versucht, mich am Frequency an Knigges Benimm-Regeln zu halten

Dazu gehört, dass ich ein Gastgeschenk mithabe und vornehm den Kopf schüttle, als ein Festivalbesucher dem anderen in den Mund pinkelt.

Fotos, wenn nicht anders angegeben: VICE Media.

Alle Geschichten zum Frequency 2016 findet ihr hier—und bei unseren Kollegen von Noisey.

Jetzt, wo ich 26 bin, muss sich etwas ändern. Denn, sind wir uns ehrlich, 26 ist schon eher exakt das Alter, in dem man gerade noch so aufs FM4 Frequency gehen kann, ohne als MILF abgestempelt zu werden oder Sitzplätze beim Anstehen am Dixi-Klo angeboten zu bekommen. Aber es ist eben auch das Alter, in dem man nicht mehr mit dem Kopf auf der Dixi-Kloschüssel einschlafen kann (falls man das jemals getan und überlebt hat). Nein, jetzt ist man eine Vertrauensperson, an die sich alle wenden, wenn jemand nach dem Einschlafen auf dem Dixi-Klo wiederbelebt werden muss.

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Es ist das Alter, in dem ich erwachsen werden muss. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass ich unter der Woche um 9:00 Uhr im Bett liege und mich aufrege, dass die Zeit im Bild erst um 10:00 Uhr beginnt—weil welcher Mensch ist zu dieser gottlosen Zeit denn überhaupt noch wach!!??!—, sondern auch in dem Sinne, dass der oberste Punkt auf meiner Bucket-List nicht mehr ein mittelalterliches Mahl sein sollte (und das nur, weil man da alles mit den Händen essen, mit Knochen um sich werfen und rülpsen darf).

Mit 26 muss man anfangen, darüber nachzudenken, ob man einmal Bundespräsidentin werden möchte. Und ich will. Also speichert schnell alle Screenshots und peinlichen Fotos von mir. Ab jetzt wird es so etwas nicht mehr geben, mit diesem Artikel bin ich offiziell erwachsen. Und um das zu beweisen, habe ich nicht nur ein paar Versionen des aktuellen Knigge gelesen, nein, ich habe sie auch angewendet. Am Frequency. Weil auch Erwachsene oft sehr sehr dumm sind.

Regeln:

Das muss man eigentlich nicht machen. Burger darf man mit der Hand essen.

Weil es verschiedene aktuelle Knigges gibt und ich mich nicht an der Version von 1788 orientieren wollte, die wohl noch andere Vorstellungen von Dingen wie Flirts und der Anrede von Adeligen hatte (turns out: so anders können die Ansichten nicht gewesen sein), musste ich mich auf einige Regeln beschränken.

Der originale Knigge würde sich wohl im Grab umdrehen, würde er die aktuellen Ausgaben lesen. 1788-Knigge war der ärgste Freigeist und Hippie im Vergleich zu den Anstandsterroristen von heute (vielleicht sollte man auch dazusagen, dass Adolph Knigge selbst gar keinen Benimmratgeber geschrieben hat, sondern nur ein aufklärerisches Werk über den Umgang mit Menschen, der von der Idee her so ziemlich das Gegenteil aussagt).

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Alleine das Thema Servietten findet sich auf 9 Seiten. Das Kapitel "Titel und Adelstitel" habe ich auch getrost übersprungen. Ich halte mich zwar gerne an den Knigge, aber wenn sich am Frequency jemand bei mir mit Titel vorstellt, werfe ich ihm ein Handbrot gegen den Kopf und wenn es jemand mit Adelstitel versucht, dann werde ich ihm ein "DER ADEL WURDE ABGESCHAFFT" entgegen schreien, während ich ihn mit meinen eingepackten Vorspeisen-Messern zum Duell herausfordere.

Lächeln, "zufällige" Berührungen, hier wird gerade heftigst geflirtet. Foto von Christopher Glanzl.

Damit wirklich nichts schief gehen kann, gibt der Knigge eine Anleitung für jene, denen es schwer fällt zu sehen, wenn jemand mit ihnen flirtet. Die Liste, die offenbar anhand einer romantischen Komödie aus den 90ern (und für komplette Soziopathen) verfasst wurde, lautet wie folgt:

Indizien für einen Flirt oder Flirtversuch:
- Freundliches Lächeln.
- Freundlicher Blick.
- Kopfnicken.
- Blinzeln.
- Wimpernaufschlag plus schnelles Wegschauen.
- Spielen mit einer um den Finger gewickelten Haarlocke.
- Spielen mit der Krawatte.
- Spielen mit Schmuck.
- Auffordernde Geste, sich mit an den Tisch zu setzen.
- Schmeichelhafte Äußerungen in Anwesenheit Dritter (Beispiel: Ein 70-jähriger Mann lädt zwei etwa 55-jährige Frauen ein, sich zu ihm und seinen Gästen an den Tisch zu setzen und bestellt beim Kellner ein Glas Sekt für "die beiden Mädchen").
- Komplimente.
- Scheinbar zufällige leichte Berührung.
- Dem anderen etwas zuflüstern.

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Außerdem wird empfohlen, Zitate berühmter Dichter zum Thema Liebe parat zu haben. Das wirke elegant. Ich liebe das alles hier so sehr.

Ein gutes und beliebtes Thema für Smalltalk ist laut Knigge das Wetter. Zu vermeiden seien Verallgemeinerungen und das Verbreiten dubioser Gerüchte. Fluchen ist verboten. Kaugummis sind tabu. 24 Stunden vor dem Fahren im Zugabteil ist Knoblauch verboten. Pünktlich sein. Pünktlich sein ist wohl die einzige Regel, die ich auch jetzt schon einhalte.

Tischmanieren & Essensregeln:
Ellenbogen nicht auf den Tisch! Gerade sitzen! Für eine Reihe von Gerichten wird genau erklärt, wie sie zu essen sind: Weißwurst, Wachteln, Sushi, Weinbergschnecken, Trauben. Handbrot und Kebap sind nicht dabei. Beim Essen darf nur über heitere Themen gesprochen werden. Verboten sind: Politik, Krieg, Krankheit oder schwerwiegende persönliche Probleme.

"Jeder sollte seinen Stammplatz bei Tisch erhalten, damit es zu keinen Meinungsverschiedenheiten oder Streitereien beim Platz nehmen kommt." Pizza in Stücke schneiden und dann essen, Pommes dürfen nur Kinder bis 6 mit den Händen essen, Burger darf jeder mit den Händen essen, nach allen Mahlzeiten Mund mit einer Serviette abtupfen. Als peinlicher Fehler gilt, den Finger beim Trinken aus Espresso-Tassen abzuspreizen.

Regeln für Partys:
- Kontakt zu anderen Gästen suchen.
- Smalltalk führen.
- Kleine Aufmerksamkeit als Gastgeschenk mitbringen.
- Fragen, ob Unterstützung in der Küche gewünscht wird.
- Dem Gastgeber gegebenenfalls behilflich sein.
- Nicht zu viel Alkohol konsumieren.
- Gegebenenfalls erkundigen, ob Kinder anwesend sein werden.
- Kleidung dem Anlass entsprechend auswählen.

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Ich bin bereit. Auf zum Frequency. "Alte Liebe rostet nicht."

Tag 1

Hier übergebe ich mein Gastgeschenk. Es ist eine Wieselburger-Dose mit Schleife und weil ich am Weg schon ein Gläschen Weißwein getrunken habe, merke ich nicht, wie unhöflich es ist, den Zipfer-Damen ein Wieselburger zu übergeben. Aber sie sind höflich. Foto von Christopher Glanzl.

Ausgerüstet mit Kaffee, einer Flasche Weißwein und einem Gastgeschenk mache ich mich auf den Weg nach St. Pölten. Am Bahnhof treffe ich den ersten Teil der anderen Frequency-Geher. Der neue Knigge sagt, dass man schon beim Begrüßen sehr schwere Fehler begehen kann. Und jetzt wird es gaga: Auf die Frage, wer wen zuerst begrüßen muss, heißt es:

Der Rangniedere grüßt den Ranghöheren.
Der Jüngere grüßt den Älteren.
Der Herr grüßt die Dame.

Ich komme mit Georg, einem lieben Freund mit viel Bart, zum Bahnhof. Georg ist ein Mann und älter als ich. Wir haben uns gleichzeitig begrüßt—vielleicht ist das in einer solchen Situation die einzig richtige Lösung. Wir sind ein bisschen zu spät, was aber nicht meine Schuld ist, sondern Georgs. Ich würde gerne alle darauf hinweisen, bin mir aber sicher, dass das sowieso allen klar ist und denke auch, dass das nicht Knigge-konform ist. Am Bahnhof treffen wir Verena, Franz und Benji. Verena ist jünger als ich und ich ihre Chefin, also muss sie mich zuerst grüßen, Franz ist ein Mann, jünger als ich und ich seine Vorgesetzte, also wenigstens hier sind die Begrüßungsverhältnisse klar. Benji ist ein Mann, aber älter als ich, also muss er mich, aber gleichzeitig auch ich ihn zuerst grüßen.

In Meidling steigt unser Fotograf Christopher ein. Auch er ist ein Mann und älter als ich. Ich werfe die erste Knigge-Regel also schon über Board, bevor ich am Frequency angekommen bin. Alle Anwesenden flirten unaufhörlich mit mir durch Blinzeln und Nicken, was mich ein wenig überfordert, also beginne ich, Wein zu trinken—nicht aus der Flasche, wie ich es sonst tun würde, sondern aus einem eigens mitgebrachten Becher. Ich habe gestern keinen Knoblauch gegessen und fluche nicht. Vorbildlichst.

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Die Übergabe des Gastgeschenks verläuft den Umständen entsprechend gut. Ich gebe zwei Zipfer-Angestellten ein Wieselburger, aber alle lachen und ich verziehe mich schnell, nachdem ich ihnen sage, dass sie es ja nach Feierabend trinken können.

Hier führe ich Smalltalk mit Party-Gästen. Nicht über Krankheiten oder Politik. Foto von Christopher Glanzl.

Laut Knigge übrigens Tabu: "Langwierige, unangenehme Erklärungen und Erläuterungen insbesondere über den gesundheitlichen Allgemeinzustand auf die Frage, wie es einem geht." Shout-out an alle Omas. Also antworte ich die restlichen Tage auf die Frage, wie es mir geht, mit einem "Es ist, was es ist"—einem immer passenden Liebes-Zitat von Erich Fried. Ich fühle mich sofort eleganter, mein Umfeld ist von meiner Belesenheit und Eloquenz begeistert.

Tag 2

Foto von VICE Media

Den Großteil des zweiten Tages verbringe ich mit arbeiten. Wir möchten Menschen nach ihren Erlebnissen auf Festivals befragen, es ist ein Abstieg in die Hölle des Campingplatzes. Wir wühlen uns durch Müll, schauen in Dixi-Klos und sprechen mit Menschen über die sogenannte "Hodenfrage". Bei der Hodenfrage müssen zwei Männer fremden Menschen ihren Hoden zeigen und die müssen dann entscheiden, welcher schöner ist. Der Verlierer muss etwas trinken (oder darf; quasi als Kompensation für die hässlicheren Hoden).

Hier nach dem Knigge zu leben, ist nicht ganz einfach, aber ich bin sehr höflich, sehe nicht zu genau hin, als die Männer ihre Hoden herzeigen und bewerte sie auch nicht. Ich schüttle auch den Kopf, als ein Festivalbesucher dem anderen in den Mund pinkelt. Dafür trinke ich Weißwein aus dem Becher und spreche nicht über Politik. Weil es aber extrem heiß ist, spreche ich oft über das Wetter. Ein Fremder gibt mir Sonnencreme. Ich weiß nicht, ob der Knigge erlaubt, dass ein unbekannter Mann einer Dame den Rücken eincremen darf, also mache ich es selbst.

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Nach der Zeit am Campingplatz habe ich Sonnenbrand, sehe mir noch Anderson Paak an, der mich sehr glücklich macht, und fahre anschließend mit allen nach Hause.

Tag 3

Foto von Sinah Edhofer

Samstag habe ich mein Besteck in der Hosentasche, damit ich allzeit bereit bin für die Schmankerl des Frequency. Es gibt kein Handbrot mehr, also weiß ich eigentlich gar nicht, weshalb ich hier bin. Als ich auf die Toilette gehe, fällt das Besteck auf den Boden. Ich verwende es danach nicht mehr, das scheint mir nach dem Knigge angemessen.

Samstag ist eigentlich der Tag, an dem die meisten Bands spielen, die ich sehen möchte. Es ist der Tag, an dem wirklich so etwas wie Spaß passieren soll. Ich habe einen eher ausgeprägteren Damenspitz, und das schon nachmittags, aber dafür bin ich später wieder sehr nüchtern. Kurz vor dem Auftritt von Massive Attack treffe ich einen Freund, den ich seit über einem Jahr nicht gesehen habe.

Wir umarmen uns zur Begrüßung, er hat mehr als einen Damenspitz und nach einer Minute Unterhaltung hat er seine Hose ausgezogen. Weil ich eine Lady bin, drehe ich mich um, sehe weg und bitte den Herrn, seine Hose wieder anzuziehen. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Flirt-Versuch war. Ausgezogene Hose steht nicht in der Liste des Knigge.

Die Antwoord ist wunderbar, wird aber problematischerweise begleitet von unsauberen Liedtexten, schmutzigen Visuals, Figuren mit riesigen Penissen, anderen Figuren mit Drogen und generell mit nicht jugendfreien Texten. Hinter mir hat ein Pärchen sehr viel Körperkontakt und ich beschließe, den Abend frühzeitig abzubrechen. Nach dem Konzert fahre ich mit dem Zug nach Hause; der Nightpark scheint mir sowieso zu wenig gesittet für mein Unterfangen zu sein.

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Reprise

Ups.

Menschen, die ihr Leben nach dem (aktuellen) Knigge richten, haben vermutlich weder Hobbys noch Spaß oder Freunde. Stattdessen Soirees, Intimi und sehr viele Servietten. Ich muss doch meinen Freunden sagen können, dass ich aufs Klo muss und ich muss Zwiebeln und Knoblauch essen können, auch wenn ich plane, am nächsten Tag mit fremden Menschen in einem geschlossenen Raum zu sein.

All das lässt sich nur dann umgehen, wenn man ein enormes Schloss besitzt, in dem man anderen Menschen für 24 Stunden aus dem Weg gehen kann und Freizeitbeschäftigungen wie Treibjagden hat, bei dem mein Mitjäger mindestens eine Pferdelänge Abstand hat.

Außerdem liebe ich es, mit fremden Menschen über Politik zu diskutieren und Wein aus Flaschen zu trinken. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich erwachsen werde, dann aber ohne Knigge und mit mehr Mary Poppins und Lorelai Gilmore als anstrebenswertes Ziel. Wenn ich mit einem fliegenden Schirm verreise, kann ich sogar Knoblauch essen.

Abschließend fällt mir zum Frequency ganz spontan noch Folgendes ein. "Es ist Unsinn sagt die Vernunft / Es ist Unglück sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz sagt die Angst / Es ist, was es ist sagt die Liebe."

Hanna auf Twitter: @HHumorlos.