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Können Hinrichtungen die Anarchie in Libyen stoppen?

Wenn Saif Gaddafi nicht öffentlich hingerichtet wird, könnte das böse für die Regierung enden.

Ein Zigarettenladen in Tripoli. Seit dem Beginn der Revolution musste sich der Verkäufer mit einer Waffensammlung ausrüsten, um sein Geschäft zu schützen.

„Was wir brauchen, sind öffentliche Hinrichtungen“, sagt Majdi und sieht mich angespannt an. „Wir leben in einer Zeit, in der Leute jeden Tag ohne Konsequenzen Autos klauen und Menschen töten. Wir müssen diesen Leuten ein Signal setzen.“

Wir fahren die Airport Road in Tripoli entlang—eine Straße, die seit Kurzem im Zeichen von Carjacking und sinnloser Gewalt steht. Majdis Augen zucken von einer Seite zur anderen. Er packt das Steuerrad, als wollte er es abreißen und jemanden damit zu Tode schlagen.

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Majdi ist ein ganz normaler junger Libyer. Er mag Autos, Computerspiele und Fußball. Und wie viele andere Libyer will er, dass Saif Gaddafi öffentlich hingerichtet wird.

Ein Waffenstand auf einem Markt an der Al-Rashid-Straße, Tripoli

Anlässlich eines seltenen Gerichtstermins, der Proteste und laute Auseinandersetzungen in Kaffeehäusern auslöste, huschten letzte Woche Bilder vom Sohn des ehemaligen Diktators, flankiert von zwei maskierten Wachleuten, über die libyschen TV-Bildschirme. In Tripoli versammelten sich Menschenmassen, die die öffentliche Hinrichtung Saifs sowie anderer Funktionäre des Gaddafi-Regimes forderten. Einige verlangten eine Hinrichtung ohne Gerichtsverhandlung, andere wollten ihn ohne Sarg verbrennen sehen.

Als ich Majdi frage, ob er ernsthaft öffentliche Hinrichtungen sehen wolle, sagt er: „Es gibt nur eine Sache, die diese Leute begreifen.“ In gewisser Hinsicht hat er Recht: Libyer haben in der Tat ein gutes Verständnis von Hinrichtungen. Unter Gaddafi waren Hinrichtungen wie Sitcoms. Sie fanden in Sportstadien und Aulen statt und wurden den Leuten mitsamt Livestudio-Zuschauern, die aus dem ganzen Land mit Bussen angekarrt wurden, direkt ins Wohnzimmer gesendet.

Die Sendungen hatten sogar ihre eigenen Stars mit jeweiligen Slogans, zum Beispiel Henker Huda—ein junger Regimeanhänger, der schließlich Bürgermeister von Bengasi wurde und für die Äußerung „Wir brauchen keine Gespräche, wir brauchen Hinrichtungen“ in Erinnerung blieb. Ein Prozess, der 1984 stattfand, begann mit einem studentischen Demonstranten, der von einem Revolutionskomitee auf einem Basketballplatz verurteilt wurde, und endete damit, dass Huda—angefeuert von Tausenden Zuschauer—begeistert an seinen Beinen zog, als er am Galgen hing.

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Außenstehende halten die Wiedereinführung von Hinrichtungen für einen schlechten Schachzug, der die Barbarei, die das Land unter Gaddafi erlitten hat, stillschweigend akzeptieren würde. Doch vom postrevolutionären Chaos frustrierte Libyer wie Majdi sagen, dass die Außenwelt nicht versteht, was gerade in Libyen vor sich geht. Die Waffenhändler auf den Straßen von Tripoli haben begonnen, M16-Gewehre vorrätig zu halten. Die Straßen werden von Milizen beherrscht. Im Süden toben wütende Stämme, und abtrünnige Verteidigungseinheiten haben die größten Ölterminals im Osten beschlagnahmt und vereiteln der Regierung so ein dringend benötigtes Einkommen.

In knapperen Worten: Libyen scheint kurz vor der totalen Anarchie zu stehen.

Milizionäre belagern das Außenministerium im April. 

Mitten in all dem Chaos boomt die Selbstjustiz. Diesen Monat lief in meiner Straße ein Mann Amok und schoss auf Obdachlose, die sich auf einem ehemaligen Badmintonplatz aufhielten. Er tötete zwei Menschen. Als ein Taxifahrer versuchte einzugreifen, wurde er ebenfalls getötet. Das war morgens um halb acht. Um zwei Uhr nachmittags hatte die Familie des Taxifahrers die Anschrift des Mörders herausgefunden und sein Haus in Brand gesetzt.

Als ich mir das ausgebrannte Haus mit einem meiner Nachbarn ansah und den Rauch der DIY-Gerechtigkeit einatmete, seufzte er traurig und sagte, dass die Familie unter den gegebenen Umständen das Richtige getan hätte. „Heutzutage kannst du einfach nicht darauf warten, dass sich die Regierung um deine Probleme kümmert“, sagte er. „Du musst die Sache selbst in die Hand nehmen.“

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Das Schwierige an dieser Art der Selbstjustiz ist allerdings, dass sie extrem süchtig macht. Libyen sinkt jeden Tag tiefer in einen scheußlichen Sumpf aus Rachemorden und Vergeltungsschlägen. Und im Zentrum des Ganzen steht das Justizsystem, das auf allen Ebenen versagt, weil die Regierung die Beamten nicht vor brutalen und rachedurstigen Angriffen schützen kann.

Die Sicherheitsdienste haben zu viel Angst, Leute einzusperren, Strafverfolger haben zu viel Angst, Leute zu verfolgen, und Gefängniswächter haben zu viel Angst, Gefangene zu bewachen. Was bleibt dann noch vom Justizsystem übrig? Was für ein Land kommt dabei heraus?

Mehr Trucks von Milizionären bei der Belagerung des Außenministeriums im April

Es ist ein Land, in dem Verhaftungen, wenn sie denn vorkommen, oft willkürlich sind. In dem die regelmäßigen Gefängnisausbrüche bedeuten, dass sich Tausende Verbrecher auf freiem Fuß befinden. In dem Dutzende Justizbeamte ermordet worden sind, und zwei Gerichtsgebäude zerbombt wurden, was die UNO zur Warnung veranlasste, dass die Sicherheit von Gerichtsangestellten eine „ernste Angelegenheit“ sei.

Außerdem hat die UNO davor gewarnt, dass Tausende Gefangene nur dem Namen nach unter der Kontrolle der Regierung stünden. Tausende Weitere sind in Gefängnissen, die jenseits des Rechtssystems von Milizen betrieben werden.

In Bengasi wurden geheime Gefängnisse in angepassten Toilettenzellen gefunden. Menschen wurden in umfunktionierte Grundschulen eingesperrt, und der Stadtzoo von Tripoli dient nun als Auffanglager für illegale Immigranten. Die UNO sagt, dass es Beweise dafür gibt, dass sowohl in Regierungsinstitutionen als auch in den Miliz-Gefängnissen weiterhin Folter angewendet wird. Sie sagt auch, dass es Anzeichen gibt, die darauf hindeuten, dass in diesem Jahr mindestens zehn Todesfälle in Haft auf Folter zurückzuführen seien.

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Menschenrechtsorganisationen zufolge haben Gefangene Misshandlungen gemeldet, die Schläge, Stiche, Elektroschocks, das Bespritzen der Augen mit Insektenmittel und Verbrennungen beinhalten.

Weil Libyens Justizsystem zusammenbricht und das Land tiefer in den matschigen Sumpf der Anarchie sinkt, verzweifeln normale Libyer zunehmend—und rufen immer lauter nach der Todesstrafe.

Amnesty fordert, dass Saif unverzüglich dem Internationalen Strafgerichtshof ausgehändigt wird. Verständlicherweise sagt die Organisation, dass Libyen derzeit nicht in der Lage sei, für Gerechtigkeit zu sorgen, und warnt: „Wenn Behörden mit ungerechten Prozessen fortfahren, die in Todesstrafen münden, besteht die reale Gefahr, dass sich eher eine Kultur der Rache als eine Herrschaft des Gesetzes etabliert.“

Amnesty hat sicherlich mitbekommen, was auf den Straßen von Libyen passiert, und kann sich vorstellen, dass sich die Racheinfektion auf den ganzen Staat überträgt. Für Salah Marghani ist die Auslieferung prominenter Gefangener des früheren Regimes jedoch keine Option. Der libysche Justizminister und frühere Menschenrechtsanwalt behauptet, dass wütende Aufrührer die Regierung stürzen würden, wenn er Gefangene wie Saif Gaddafi an internationale Behörden übergeben würde. Marghani wird von drei Seiten in die Zange genommen: von der potentiell aufständischen Öffentlichkeit, von der internationalen Gemeinschaft und von Libyens anarchischen Milizen, von denen es sich einige zur Gewohnheit gemacht haben, in sein Büro einzubrechen, und andere bewaffnet auf dem Grundstück des Ministeriums protestieren.

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Das Chaos schränkt seine Macht täglich stärker ein und die Zange presst jeden Tag mehr Leben aus ihm, doch Marghani klammert sich weiterhin an eine einzige Idee: Dass es keinen Schauprozess nach der Art Gaddafis geben wird.

„Sind wir anders oder wird die Welt noch einmal das Gleiche sehen?“, fragt er, während er mit müder Entschlossenheit in seinem Büro sitzt. „Ich glaube, als die Revolution anfing, war der Plan, dass wir anders sein wollen.“

Es bleibt abzuwarten, ob Libyen seine dunklen Flecken überwinden kann.

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