'Life is Strange' ist der Albtraum eines jeden Hipster-Hassers
Alle Screenshots von der Autorin | Dontnod/Square Enix

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'Life is Strange' ist der Albtraum eines jeden Hipster-Hassers

Dieses Spiel ist stellenweise nicht mehr als eine Bravo-Fotolovestory mit Instagram-Filter und bringt trotzdem selbst erwachsene Männer zum Weinen.

In Life is Strange geht es nicht darum, die Welt zu retten. Zumindest nicht so richtig. Ihr steckt in der Haut von Max Caulfield, einer Fotografie-Schülerin der Blackwall Academy in Arcadia Bay, einem verschlafenen Ort an der US-amerikanischen Ostküste. Als eure ehemalige beste Freundin Chloe auf der Schultoilette angeschossen wird, entdeckt ihr, dass ihr die Zeit zurückdrehen könnt und versucht anschließend, mit eurer neuen Superkraft das Mysterium um ein verschwundenes Mädchen (die neue beste Freundin eurer alten besten Freundin, die relativ schnell aber euch wieder eure beste Freundin wird) zu lösen. Es gibt arrogante Rich-Kids, tumbe Sportler und Teenager-Schwangerschaften. Wenn man ganz zynisch wäre, könnte man sagen: Im Grunde ist Life is Strange nichts anderes als eine besonders dramatische Bravo-Foto-Love-Story, durch einen Instagram-Filter gejagt.

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Die erste Episode (Life is Strange erschien in ingesamt fünf Teilen, jeweils im Abstand mehrerer Wochen) hat mich auch richtig wütend gemacht. Das passiert mir mit Videospielen zwar häufig, dann aber eher aus Frustrationsgründen, beispielsweise dann, wenn Nathan Drake zum fünften Mal an einem Vorsprung vorbeispringt und in den Tod stürzt. Bei Life is Strange habe ich mich verarscht gefühlt. Überzeichnete Jugendsprache wie nach drei Monaten im Swag-Bootcamp? Dialoge, selbstzentrische Dialoge, in denen nichts, absolut nichts passiert und die keinerlei Dringlichkeit oder Intensität erreichen, weil man sowieso die Zeit zurückdrehen kann? Artsy Teenager, die glauben, dass sie die Fotografie-Branche revolutionieren werden, weil sie mit einer Polaroid-Kamera Selfies machen? Ich war gelangweilt, ich war enttäuscht und ein bisschen habe mich als erwachsene Person, die ziemlich regelmäßig und leidenschaftlich Videospiele spielt, auch verarscht gefühlt.

Alle Screenshots von der Autorin | Dontnod/Square Enix

Die englische Synchro kommt stellenweise in einer derart abstrus überzeichneten Jugendsprache daher, dass es nicht überraschend wäre, wenn für die deutsche Lokalisation der Dialoge Money Boy verpflichtet werden würde. Der Großteil der Charaktere ist nicht mehr als ein farbloser Platzhalter für irgendein Schulklischee, die Rollen trotz bewusst schockierend inszenierter „Story-Twists" doch ziemlich klar verteilt und das ist besonders deswegen so schwierig und stellenweise gähnend langweilig, weil in Life is Strange wahnsinnig viel geredet wird. Was uns auch direkt zum nächsten Kritikpunkt bringt: Der Ton und die Lippenbewegungen der Charaktere sind derart asynchron, dass viele der traurigen Szenen etwas richtiggehend Lustiges bekommen.

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Nicht zuletzt wird nicht mal die unfassbare Verbindung zwischen Chloe und Max, die die komplette Story tragen soll, wirklich erklärt. Beste Freundinnen für immer, nichts kann zwischen die beiden kommen, Max tötet sich beinahe selbst beim Versuch, die nicht ganz so platonische Liebe ihres Lebens zu retten—und doch treffen sich die beiden nur durch Zufall zu Beginn des Spiels, nach Jahren des Nicht-Kontakts? Wenn Max in eine Stadt zurückzieht, von der sie weiß, dass ihre ehemals beste Freundin dort lebt: Ruft man dann nicht mal an?

Dann habe ich angefangen, den Soundtrack im Loop auf Spotify zu hören. Und jedes Mal, wenn mir der virtuelle Sonnenuntergang ins Gesicht gestrahlt hat, innerlich aufzuseufzen. Langsam aber sicher wurde das Spiel zu meinem Gossip Girl, meinem Grey's Anatomy, meiner geheimen Depri-Song-Playlist—einer Sache, die ich heimlich gut finde, auch wenn ich es nicht so richtig rechtfertigen kann.

Life is Strange schafft es nämlich, was vielen anderen Titeln, auch denen mit wesentlich höherem Produktionsbudget, versagt bleibt: Es schafft eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Das liegt zum einen am wirklich schönen Art Design, zum anderen aber auch an dem absolut perfekten Soundtrack. Max Caulfield mag als Charakter noch so weit von einem selbst entfernt sein; wenn sie das erste Mal den Schulflur betritt, sich die Kopfhörer in die Ohren steckt und melancholischer Indie-Rock die Szenerie erfüllt, dann hält man auch als nicht unbedingt leicht zu beeindruckender Berufsspieler kurz inne. Es gibt viele dieser kurzen „wahrhaftigen" Momente im Spiel, in denen sich die Story zurücknimmt und dem Spieler und seiner Figur Raum lässt, um das Geschehene zu verarbeiten. Die Kollegen von VICE UK sind so weit gegangen zu sagen, dass Life is Strange vor allem dann brilliert, wenn es einem die Möglichkeit gibt, sich hinzusetzen und einfach nur die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Und das stimmt.

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Life is Strange hat keine Angst vor Entschleunigung oder Plattitüden. Gerade dadurch funktioniert es auch so gut als Metapher auf die Teenagerzeit. All das triviale Drama, das (zumindest bis zu den letzten Stunden) die wirklich wichtigen Dinge überschattet, die Tendenz der Charaktere, konsequent an der einfachsten und zielführendsten Lösung vorbeizudenken, die gnadenlose Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, das zentrale Motiv, dass nichts wichtiger ist als die besten Freunde, die Unsicherheit, wo man wie reingehört und was die Zukunft bringt—das ist die Essenz von Pubertät und dem Erwachsenwerden. Dieses Spiel war für mich emotional wie ein Ausflug in meine eigene Schulzeit.

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Life is Strange wählt zu oft den einfachsten Ausweg (Max kann nur dann die Zeit zurückdrehen, wenn es für den Plot sinnvoll ist) und verspricht vor allem mit seiner Geschichte mehr, als es erfüllt. Trotzdem hat es seinen Spielern Anlass gegeben, die Geschichte auf Basis der eigenen Spielerfahrung weiterzudenken. Es gibt Hunderte Videos auf YouTube oder Foreneinträge, in denen die Leute ihre eigenen Theorien zum Weiterverlauf (oder der „wahren" Bedeutung) der Geschichte teilen. Dass da am Ende nichts mehr kommt, dass hinter allem keine größere Wahrheit steckt, sondern das Spiel eben doch nur eine ziemlich wirre Storyline mit jeder Menge Plotlöchern erzählt, stört einen eben erst am Schluss. Und trotzdem hatte ich beim Ende feuchte Augen—so wie scheinbar große Teile meiner Social-Media-Timelines, darunter auch gestandene Männer, deren Lebensrealität nicht weiter von der eines 18-jährigen Teenagermädchens entfernt sein könnte.

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Vielleicht ist das, was Life is Strange schlussendlich trotz aller offensichtlichen Schwächen doch zu einem guten Spiel macht, die Tatsache, dass es oft so oberflächlich bleibt. Dass es—allein schon durch seinen Episodenstil und den zeitlichen Abstand zwischen den Veröffentlichungen—Raum lässt für die Interpretation des Spielers und ihm die Illusion gibt (denn mehr ist es am Ende nicht), Entscheidungen zu treffen, die irgendetwas bedeuten. Und dass es sich nicht zu schade ist, uns mit den einfachstmöglichen Mitteln zu manipulieren, weil es manchmal einfach nicht mehr braucht als den richtigen Song und die perfekte Inszenierung. Drücke diesen Kopf, dann passiert das. Aktion, Reaktion. Manchmal ist die menschliche Psyche nicht mehr als ein Videospiel.

P.S.: Eine Sache noch. Hat Max ihre Zeitreisekräfte nur bekommen, um eine Art Lektion vom Universum zu erhalten? „Wir geben dir diese Macht, aber nur um dir zu zeigen, dass du sie nicht benutzen darfst"? Ganz schöner Dickmove.

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