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The Spoooooooooooooky Issue

Mein Leben war Liebe und Lust

Arno Fischer war einer der größten deutschen Fotografen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir haben mit ihm das letzte Interview vor seinem Tod geführt.

Porträt von Sibylle Bergemann, Archivfotos von Arno Fischer mit freundlicher Genehmigung von Oliver Fischer und der Stiftung Moritzburg Arno Fischer war nicht nur einer der größten deutschen Fotografen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er war auch der bedeutendste Fotografielehrer. Von 1955 bis 2011 lehrte er in Berlin, Leipzig und Dortmund einige der begabtesten Fotografen unserer Generation seine Kunst. Fischers Fotografien bringen Ort, Zeit und Sinn visuell auf den Punkt und prägen sich tief ins Gedächtnis ein. Besonders seine Fotos aus Berlin und New York sind von ihm festgehaltene Momentaufnahmen, die ihre Zeit überdauern. Als jemand, der immer lieber im Hintergrund blieb, hat er mir—und nicht nur mir—die Türen zur Welt der Fotografie geöffnet. Zudem war er ein begnadeter Geschichtenerzähler. Seit dem Tod seiner Frau, der Fotografin Sybille Bergemann, lebte er allein (mit einem Hund, acht Katzen und einer mächtigen Kuh, die er vor dem Gnadenschuss gerettet hatte) in einem wunderschönen Haus mit verwildertem Garten in Gransee. Dort besuchten wir ihn im August dieses Jahres, um mit ihm bei selbst gemachtem Apfelkuchen ein Interview über sein Leben und Werk zu führen. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es sein letztes sein würde. Arno Fischer starb am 13. September 2011. VICE: Du kommst, wie man sagt, aus einfachen Verhältnissen.
Arno Fischer: Ja. Mein Vater war Schriftsetzer bei der Morgenpost. Ich bin 1927 im Wedding geboren, später habe ich Modelltischler gelernt. Toller Beruf!
Es war 1941. Damals ging man zur Berufsberatung. Ich habe Flugzeugmodelle gebaut, hatte immer schon eine Schwäche für so einen Unsinn. Mit den Dingern ging ich also da hin, und dort haben sie mir gesagt: Modelltischler. Das waren solche, die mit Schlips und Kragen zur Arbeit kamen. Alles andere waren … Proleten. Das war keine einfache Zeit.
Meine Eltern sind früh gestorben, ich war eine Zeit lang mehr oder weniger mutterseelenallein. Berlin wurde da­mals zerbombt. Da haben mich mein Onkel und meine Tante zu sich geholt. Sie waren beide in der kommunis­tischen Widerstandstruppe von Schulze-Boysen. Da bin ich also zwischen Radio Moskau und Bomben und morgens Heil Hitler beim Lehrgesellen groß geworden. Es hört sich jetzt komisch an, aber man kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Ich habe alles gewusst, wusste Bescheid über die ganzen Angriffe, wie viele Bomben gefallen waren und all das—mein Onkel war da sehr leichtsinnig. Einmal stand ich und hobelte so an meiner Bank, und plötzlich kriege ich eine geklatscht und falle vornüber in meinen Schrank rein. Ich drehe mich ganz entsetzt um, da steht mein Lehrgeselle mit hochrotem Gesicht und sagt: „Denk ja nicht, ich weiß nicht, was mit dir los ist!“—ich hatte die Internationale gepfiffen. Auweia. Und das 1941!
Der Lehrgeselle meinte dann: „Hör mal, du bist doch Vollwaise. Geh doch zur Waffen-SS, da wirst du aufgenommen wie in einer großen Familie.“ Und ich dachte: Leck mich doch. Ich wollte zur See. Also habe ich mich freiwillig zur Kriegsmarine gemeldet. Alle haben gesagt: „Du bist doch dämlich!“  War es dämlich?
Ich landete in einem Regiment, dass sie „das schlafende Heer an der Schlagsahnefront“ nannten. Wir haben Suppen mit Schlagsahne bekommen. Nach der Gefangenschaft bin ich im März 1946 zurückgekommen und begann das normale Leben.  Wie hast du dich über Wasser gehalten?
Zigarettenschieben. Na ja, geschoben habe ich eigentlich nicht. Ich habe immer vom Großvater und den Onkels die Zigarren bekommen und sie dann verkauft. Das älteste Foto, das ich von dir kenne, ist von 1944 während des Bombenangriffes auf Berlin. Das heißt, du hast schon in der Lehrzeit angefangen, zu fotografieren?
Ich hatte mir in der Lehrzeit eine 6 x 9 Voigtländer gekauft, danach habe ich auch eine Kleinbildkamera bekommen, eine Jubilette. Was waren deine ersten Aufnahmen?
Na ja, was mich so reizte … zerbombte Häuser habe ich vermutlich fotografiert. Für dieses eine Ding bin ich hoch aufs Dach, Ramlerstraße, 400 Meter weiter war der Flakbunker Gesundbrunnen. Den gibt es ja heute noch. Ich habe die Kamera auf den Schornstein gestellt und KLICK. Die anderen Filme sind alle verloren gegangen. Es gibt nur noch ein oder zwei Streifen.  Das war der Anfang. 
Genau. Ich wohnte dann im Osten, im Johannisthal. Mein Onkel hatte es dadurch, dass er so ein großer Kommunist war und im Widerstand gekämpft hatte, zu einer Villa gebracht. Irgendwann bekam ich Halsschmerzen, die immer schlimmer wurden, bis der Arzt mir sagte: „Diphtherie.“ In Britz bin ich dann ins Krankenhaus gekommen und habe dort ich weiß nicht wie lange gelegen. Aber die Mädels da mochten mich, außerdem, ich konnte dort fotografieren—und: Es gab etwas zu essen! Rote Kartoffeln … war einfach toll.  Zwei wenig gespenstische Fahrgäste. Dort hast du auch angefangen, zu zeichnen, oder?
Das war Hochparterre, auf der Isolierstation. Ein Freund kam mich besuchen und der sagte: „Na, zeichne doch!“ Das nächste Mal habe ich dann Papier und Bleistift bekommen, und hab erstmal so vor mich hin gezeichnet. Als ich entlassen wurde, hat er die Zeichnungen mitgenommen. Er war an der Käthe-Kollwitz-Schule und hat sie dort gezeigt. Daraufhin wurde ich Abendschüler. Das ging eine Weile so, und plötzlich—wurde ich begabt. Von der Zeichenklasse bin ich zur Bildhauerei. Später begann ich meine Lehrtätigkeit in Weißensee. Dann kamen die Modemädchen und wollten ihre Entwürfe fotografiert haben. Solche schlimmen Aufnahmen! Ich hab neulich mal die Negative entdeckt. Das kann sich kein Mensch vorstellen. Du hast viel für die Freie Welt fotografiert—das war ja die Zeitschrift, die aus den anderen sozialistischen Ländern berichtet hat.
Die Freie Welt war das Zentralorgan der deutsch-sowjetischen Freundschaft. In jedem Land gab es so eine Zeitschrift, in Polen zum Beispiel hieß sie Swiat. Aber fotografisch gesehen war es das Beste, was es gab. Zu der Zeit bin ich sehr viel rumgekommen, von Murmansk bis zum Schwarzen Meer. Sachen, von denen man eigentlich nur träumen konnte, damals.  Wie begann deine Arbeit für die ostdeutsche Modezeitschrift Sibylle?
Gerade die Klasse, mit der ich am meisten zusammengearbeitet hatte, machte eine Diplomarbeit über die Sibyllle. Und die Sibylle, die war damals scheiße. Das war eine schlechte Brigitte. Die Mädels immer SO [wirft sich in Modelpose]. Zu der Zeit gab es gerade einen Redaktionschefwechsel. Die alte Chefin ging weg, und es kam Margot Pfannstil, eine uralte Kommunistin. Eine meiner Studentinnen, Franzi, wurde Moderedakteurin. Nach kurzen inneren Kämpfen hat sie mich geholt, und ich musste die erste Berlinserie machen. Daran habe ich ein Dreivierteljahr arbeiten können—so lange Zeit hatte man damals. Die Serie hat dann einen ziemlichen Wirbel verursacht. Als ich die Bilder auf den Tisch legte, sagte der Hersteller: „Das drucken wir nicht.“ Und Franzi sagte: „Doch, das drucken wir!“ Das waren die Modefotografien auf den Straßen Berlins?
Ja. Erstens kannte ich Berlin gut. Außerdem kamen die Mädchen von den Modeagenturen überhaupt nicht infrage, also haben wir uns Mädchen von der Straße genommen. So wurde ich dann der berühmteste DDR-Modefotograf für zwei, drei Jahre, und dann konnte ich nicht mehr und wollte auch nicht mehr. Ich war ausgebrannt und hatte keine Lust mehr. Du hast in der Sibylle eine Artikelserie gemacht, wo du Fotografinnen vorgestellt hast. Das war sehr ungewöhnlich.
Da war Peter Paul Thömmes, der von außen dazukam. Wir konnten plötzlich ganz gut miteinander und haben dann ganz schöne Sachen gemacht.  Und wie bist du auf das Thema FotografINNEN gekommen? Das war zu der Zeit eher ungewöhnlich.
Wieso, ist doch logisch? Fotografie ist weiblich. Kannst du das erklären?
Frauen fotografieren aus dem Bauch und Männer mit dem Kopf. Und das geht nicht mit dem Kopf. Das ist meine Erfahrung über die Jahrzehnte. Sechs Jahrzehnte. Was ich gerne noch mal wissen möchte, ist die Geschichte, wie du die Fotografie von Robert Frank entdeckt hast. Der war doch eines deiner Vorbilder?
Vorbild war für mich eher die Ausstellung Family of Man. Auch Ende der Sechziger in Ostberlin waren verliebte Pärchen für alle anderen schon scheiße. Da hast du beim Aufbau mitgemacht?
Großartig mitgemacht haben wir nicht, sie war ja so schon perfekt. Da war an jedem Kasten, in dem die Bilder drin waren, jede Schraube und alles bis ins Letzte durchdacht. Ich war damals an der Schule als Oberassistent angestellt und hatte dort völlige Freiheit. Meine ehemaligen Kollegen machten Bildbände, aber mich hat keiner gefragt. Also habe ich die Berlinbilder weitergemacht. Schließlich wollten wir doch ein Buch machen, in einem neuen Leipziger Verlag. 1961 kam dann die Mauer. Auf der Leipziger Buchmesse hatten sie meine Bilder—nur die Berlinbilder—an ihrem Stand. Und oben drüber stand in Großbuchstaben: SITUATION BERLIN. Als die Abnahmekommission schon beinahe vorbeigelaufen war, rief einer der letzten: „Genossen!“ Und da drehte sich der alte Außenminister, der die Gruppe anführte, um: „Ja, was ist denn?“—„Berlin ist keine Situation mehr!“—„Ach ja … macht das mal weg.“ Der hat sich die Bilder gar nicht richtig angeschaut. So starb dieses Buch. Ich habe aber 38.000 Ostmark bekommen. Wow.
Ich wusste das gar nicht. Eines Tages schaute ich auf mein Konto und dachte: Was ist denn das? Haha.
Ach, so was, das perlt an mir immer ab. Diese „Katastrophen“, die ich durchgemacht habe, die waren immer … eher Ulk. Solche „Katastrophen“ gab es einige in deinem Leben?
Ja. Zum Beispiel dieser Vorfall: Die Studenten feierten immer am 31. Mai Weltuntergang, eine ungeheure Fete. Ich bin mit Sibylle da hin, und irgendwie war es langweilig. Doch eine von den Studentinnen hatte etwas Exhibitionistisches und fing irgendwann an zu strippen. Das war so schön, das kann man sich nicht vorstellen, es war Lyrik. Die ganzen anderen Mädels waren davon so angetan, dass sie auch damit anfingen. Langsam sickerte das Morgenlicht durch … Aber es ist nichts passiert, jeder ist nachher nach Hause gegangen. Ein paar Wochen später wurde eine außerordentliche Personalversammlung einberufen. Ein Parteitag, ausgerichtet auf Disziplin bei den Studenten. Und da hieß es plötzlich: „… und am 31. Mai fand in der Atelierwohnung von der und der eine Feier statt, die dann zu einer Orgie wurde, der auch Dozenten beiwohnten.“ Haha.
Ich dachte, ich sacke unterm Tisch weg! Einige verließen protestierend den Saal. Und Panndorf sagte: „Du warst doch auch auf der Feier!“—Ich wurde also zum Co-Rektor bestellt. Es ging darum, ob Thömmes auch dort gewesen ist. Er war da, ist aber vor dem Strip gegangen. Sagte allerdings: „Ich war nicht da!“—Er war ein hohes Parteitier und meiner Meinung nach auch bei der Stasi. Er musste eben eine reine Weste haben, also habe ich gesagt: „Nee, der Thömmes, der war nicht da.“ Thömmes war dadurch sauber, und ich bin gegangen. Sehr fair.
Ich habe heute noch einen Brief, dass der „Kollege Fischer große Arbeit geleistet hat, den Fotobereich aufgebaut hat und Ausstellungen organisiert … und und und und … aber sich im Laufe des Parteitages herausgestellt habe, dass er politisch nicht fähig ist, weiter zu unterrichten.“—das war ein Persilschein! Hinterher hätte ich sonst was damit anstellen können! Ein weiteres Bild von Fischers New York-Besuch 1984, typisch für seinen statuenhaften, statischen Stil. Nach der Wende hast du einen Lehrauftrag an einer westdeutschen Schule angenommen.
Die Silvesterfeier ’89/’90 fand am Schiffbauerdamm statt. Plötzlich kam Thömmes an und fragte mich: „Würden Sie an einer bundesdeutschen, also westdeutschen Schule einen Lehrauftrag annehmen?“ Und ich denke mir: „Was denn jetzt?“ Und Sibylle steht da und sagt: „Macht er.“ So wurde ich 1990 Lehrbeauftragter für Bildjournalismus—Kind, du musst einen Namen haben.  In Dortmund?
Ja, in Dortmund. Gleichzeitig unterrichtete ich in Berlin und Leipzig. Die Tour dann—Berlin-Leipzig, in Leipzig zwei oder drei Tage Unterricht, Braunschweig-Dortmund, und wieder zurück—das war der Horror. Aber ich hatte immer drei Mädels von den Studentinnen dabei, die gefahren sind. Und die Sirenen heulten, wenn ich mit denen ankam. Das war eine schöne Zeit. Dortmund habe ich dann bis 2000 gemacht, ich glaube sogar bis 2001, das waren elf Jahre.  Ich glaube, das war auch insofern gut für dich, weil die dich in Leipzig ja so schmählich rausgedrängt haben. Hat dich das sehr geärgert?
Da war ich schon 65 geworden und hatte eine Professur. Dann kam so eine Kanzlerin aus Bonn, die mir sagte, die Schule habe kein Geld mehr, sie könnten meinen Arbeitsvertrag nicht verlängern. Auf der Hinfahrt hatte ich meine Tasche mit allem was ein Mensch so braucht, Personalausweis, Krankenkassenkarte, Scheckkarte, noch eine Kamera und so, im Zug liegen lassen. Ich war so durcheinander, dass alles an mir abperlte. Ich ging dann zu den Studenten und erzählte ihnen, dass ich nicht weitermachen kann. Sofort kamen Proteste, Solidaritätsbriefe aus New York, Italien … War ein Riesending, habe ich auch unterschrieben.
Ja, und dann musste diese flotte, gut aussehende Dame mit ihrem BMW eine Sitzung einberufen, bei der sie den Etat aufdeckte. Ich war nicht bei der Sitzung dabei, aber es kam heraus, dass doch genug Geld da war, um mich weiter zu beschäftigen. Na toll.
Als sich einer meiner Studenten, der Andreas Rost, beschwerte, sagte sie ihm: „Seien Sie doch nicht so unflexibel, sehen Sie mal, Sie haben 1989 die Wende herbeigeführt und dann kam 1990 die Wiedervereinigung—damals haben Sie Ihre alte DDR-Mark abgegeben und dafür unsere DM bekommen. So müssen Sie das mit den alten und neuen Professoren auch sehen.“ Wenn ich dabeigestanden hätte, wäre ich ihr an den Hals gegangen, wirklich wahr, ich hätte zugeschlagen. Und gerade zu dieser Zeit war alles so „glücklich und zufrieden“ und blablabla … In Dortmund erging es dir ähnlich wie in Leipzig?
Ich wollte nicht von der Hochschule verändert werden. Das war keine Arroganz, sondern einfach meine Natur. Also bin ich abgehauen, das war 2001. Ich hörte immer, was ich nicht glauben wollte, dass die Kollegen mich abschieben wollten und dass kein Geld da sei. Die Studenten sind bis zum Kultusministerium in Düsseldorf gefahren und haben immer wieder durchgesetzt, dass ich bleibe. Einmal haben sie es nicht geschafft. Ich war so unbeliebt bei den Kolleginnen und Kollegen, aber die Studenten wollten alle zu mir. Letztlich musste ich auch dort gehen, das war das zweite oder dritte Mal und es ist mir auch schwergefallen. Kinder vor der Eremitage Leningrad, einer der bedeutendsten Gemäldegalerien der Welt,1964. Lehren ist offensichtlich deine Leidenschaft.
Was heißt Leidenschaft, es hat sich so ergeben und es ist mein Lebenselixier. Du machst es ja bis heute, du hast in Berlin die Schule „Fotografie am Schiffbauerdamm“ mitgegründet.
Ich war der Letzte, der da abging und zur Ostkreuz-Schule wechselte. Dort mache ich immer noch meinen Unterricht. Morgens um 10 Uhr losrasen auf der Autobahn mit 160, dann bin ich um 11 Uhr da und es geht los, ohne Pause bis 17, 18 oder 19 Uhr, manchmal länger. Kaffee bekomme ich immer. Der Stress macht mir nichts aus, manchmal brauch ich das einfach. Du machst das einen Tag in der Woche?
Immer nur am Sonntag, zweimal im Monat, drei Klassen habe ich. Eine Einmonatsklasse und zwei Zweimonatsklassen. Als du in Weißensee warst, gab es eine Gruppe, die irgendwer mal den „Kreis um Fischer“ nannte.
Die DDR war eine Nischengesellschaft, überall gab es Nischen mit Gleichgesinnten. Die haben keine Bomben gebastelt, keine Flugblätter gemacht, sondern einfach geradeaus gedacht. Wir waren eben Fotoleute. Wir haben keine Parteifotografie gemacht, wir haben Menschen fotografiert, und Situationen. Irgendwann brauchten wir einen Namen, und Jutta Voigt sagte: „Nennt euch doch DIREKT, eure Fotografie ist so direkt.“ So entstand dann die Gruppe. Wir haben viele Preise gewonnen.  Wenn du sagst „wir“, oder „die Gruppe“, wer war alles dabei?
Melis, natürlich Sibylle [Bergemann], Ute [Mahler], ja, all die Namen, mir fällt im Moment nicht jeder ein. Du hast jahrelang für dieses wunderbare Marx-Engels-Forum recherchiert. Viele wissen gar nicht, dass neben dem ganz konventionellen Denkmal von Engelhardt noch Stelen mit Fotos stehen, die in Stahl eingeätzt sind, Fotos aus der Geschichte der Arbeiterbewegung.
Ludwig Engelhardt wollte in diesen Stahlstelen für immer und ewig die Geschichte der Arbeiterklasse verewigen. Ich habe das mit Peter Voigt gemacht, der ein unglaubliches Gedächtnis hatte. Und er war die rechte Hand von Bertolt Brecht. Als Brecht starb, war sein letzter Satz: „Ruft mir den Voigt“—wer kann das schon von sich sagen? Was genau habt ihr gemacht?
Wir begannen in Leipzig in den Archiven zu suchen und waren in Prag, Warschau, im ganzen Ostblock. Das dehnte sich so langsam aus. Im Frühjahr Leningrad und Moskau, im Sommer Delhi und im April Amsterdam und Paris, im August/September New York und Washington und anschließend London. Alles in einem Jahr. Als Ossi. Ich hatte seitdem diese Zustände, mir wurde das zu viel. Ich wollte nicht mehr. Vor allem nach den zwei entscheidenden Ereignissen in New York. Der Überfall. Der zweite?
Das war viel später, 1984, als ich mit Sibylle da war. Ich hatte irgendwann mal zu Sibylle gesagt: „Wir fahren zusammen mal nach New York.“ Dazu hat sie nichts mehr gesagt, aber nach ein paar Jahren meinte sie: „Was is’n?“ Also habe ich einem Herausgeber geschrieben, der ein New-York-Buch machen wollte, dass mich diese Stadt entsetzt und fasziniert—und ob ich nicht mal mit meiner Frau dort hin könne. Wir saßen drei Tage später im Polizeipräsidium wegen des Visums und sind losgefahren. Ich habe ja Kameras gesammelt, also habe ich mir eine Leica und noch irgendwas eingesteckt. Heute ist sie eine Million wert. Aber ich schere mich nicht darum, es war eine wunderschöne Zeit.  Aufgenommen an Halloween 1984 in New York. Bis auf den Überfall, nehme ich an.
Ich bin ein Muffel. Ich bin schon als Kind immer auf derselben Straßenseite zur Schule und wieder zurück gefahren. Auf die gegenüberliegende Seite wechselte ich nur, wenn meine Mutter mir auftrug Kartoffeln zu holen, dann musste ich da hin. So bin ich auch in New York im Wesentlichen nur dahin gegangen, wo wir gearbeitet haben. Eines Abends sind wir durch diesen Park gegangen, der ziemlich bekannt ist …  Washington Square?
Genau. Wir gingen da entlang, dunkel war es schon, nur alle paar hundert Meter brannte eine Lampe. Plötzlich waren da zwei junge, dunkle Männer mit Lederjacke, sie quetschten sich zwischen uns beiden durch, zwischen Sibylle und mir—ich sehe einen Dolch aufblitzen—und der eine jagt den dem anderen ins Kreuz. Sibylle wollte helfen, der Angegriffene brach zusammen. Ich habe Sibylle runtergerissen, damit wir uns schützen konnten. Als wir aufstanden, war der Angreifer schon abgehauen. Der Verletzte wollte ein Taxi anhalten, aber keiner hielt an. Das Erlebnis haben wir nie vergessen, den Dolch und dieses Geräusch. Und die andere Geschichte … Erzähl.
Wir waren bei Magnum New York und haben da oben Bilder gesucht, an einem Freitagnachmittag, es war sehr warm. Das war noch die Zeit, als New York voller platt gefahrener Colabüchsen war und ziemlich dreckig. Wir hatten uns von den Mädels im Großraumbüro verabschiedet und fuhren mit dem Lift nach unten. Auf einmal hielt das Ding. Die Tür ging. Graugrünes dreckiges Linoleum, Neonlicht und—ich werde es nie vergessen—eine Hand mit einem Kolben … … also einem Revolver.
Ja. Ich hatte mir kurz zuvor einen braunen Cordanzug gekauft, hellbraun, khaki, mit einem ziemlich dicken Kragen. Ich weiß gar nicht, warum ich den mitgenommen habe, auf jeden Fall hatte ich an jenem Tag zum ersten Mal diesen Anzug an. Als ich den Aufzug verlassen wollte, bekam ich einen Schlag mit einem Knüppel. Der Anzug war so dick, dass ich nicht mal Schmerz verspürt habe, und dann riefen die: „Down on the floor!“ Voigt warf sich gleich hin, und schon lagen wir verteilt so da, Voigt und ich. Dann der obligatorische Griff in die Tasche, die 10 Dollar, damals waren es 10. Mal waren es 5, dann waren es 10, und wenn man die nicht dabei hatte, hatte man schon verspielt. Hände auf den Rücken und dann mit so einem breiten Band fixiert. Man hat uns alles geklaut, die Brieftasche, ein Objektiv … Scheiße. Was ist dann passiert?
Als ich da so lag, bekam ich auf einmal einen Tritt in den Rücken und war weg, Blackout. Ich erinnere mich nicht an die Zeitspanne, aber ich weiß noch genau, wie mir durch den Kopf ging: Was ist mit Sibylle? In regelmäßigen Zeitabständen ertönte eine Stimme: „Move and you’re dead!“ Ich nehme an, das war eine Tonbandstimme. Was habt ihr gemacht?
Voigt war am Bahnhof Zoo schon mal überfallen und ausgeraubt worden. Er geriet in der Bleibtreustraße zwischen zwei sich bekriegende Banden. Als er sagte, steh auf, dachte ich, er wird es schon wissen. Aus der Ferne hörte ich eine Frauenstimme und dachte mir: Leckt mich doch alle. Ich habe mich umgewälzt und dann hochgeschoben, bin zum Lift gelaufen und hab von hinten, mit den Armen auf dem Rücken, den Knopf gedrückt. Im Aufzug stand ein kleines Mädchen und hat mich ganz entsetzt angeschaut. Ich bin hochgefahren und da standen schon die Bullen mit ihren Revolvern. Sie öffneten die Tür und dort saß einer, blutüberströmt in einem Sessel. Er wurde wohl mit der Schrotflinte angeschossen. Ja, und überall waren noch mehr Menschen. Einer hatte sich befreien können und die Polizei gerufen. Wir mussten dann mit aufs Polizeirevier und haben natürlich niemanden erkannt. Das war das Erlebnis in New York, das erste.  Was war alles weg?
Das Geld und die Kamera … [René] Burri hatte mir durch Vermittlung eine Nikon besorgt. Das Schlimmste war natürlich die Erfahrung, am nächsten Tag bin ich kaum aus dem Bett gekommen. Eines der wichtigsten Bilder Fischers ist jener missmutige Fährengast, portraitiert 1978 in NY. Burri ist ein gutes Stichwort. Schiffbauerdamm, wann seid ihr denn da hingezogen? Das war so ein Treffpunkt für Fotografen. Wie hat sich das ergeben?
Burri kannte ich schon seit den 50er-Jahren, ich habe ihn durch Ostberlin geführt. Er war ein Fotofreak, hat sich all die berühmten Leute, Cartier-Bresson und sonstwen geholt. Mich rief er immer am nächsten Tag an und fragte: „Können wir zu dir kommen?“ Was sollen die Leute auch in Ostberlin. Ich habe dann Studenten zu mir eingeladen und das lief eigentlich immer ganz gut. Und bevor ihr ausgezogen seid, habt ihr da eine Ausstellung gemacht, weil ihr aus der Wohnung raus musstet?
Wir mussten da raus. Alle mussten raus aus dem Haus …  Weil das saniert wurde?
Saniert wurde, ja klar, Kapitalisten sind das, die aus an sich wunderschönen Wohnungen Büros und so eine Scheiße gemacht haben. Sibylle wollte da eine Ausstellung machen, also haben wir die Wohnung und die darunterliegende genommen, unsere Wohnungen waren leer und wir hatten die Schlüssel. Und in diesen beiden Zimmern haben wir dann Ausstellungen gemacht. Vollkommen ohne Propaganda waren 3.000 Leute da. Drei Tage lang, bis zur S-Bahn-Brücke standen sie an. Für Sibylle war es der Untergang des Abendlandes, dass wir aus dem Haus raus mussten. Sie sagt, das hat mit zu ihrem Tod, zu ihrem Krebs beigetragen. So war das. Was würdest du sagen, ist gerade ein Ziel bei deinen Lehrtätigkeiten?
Die letzten Jahre habe ich die Leute wirklich soweit gebracht, dass sie begriffen haben, wie unnütz es ist, ihre roten Ledermappen mit goldenen Rahmen in die Redaktionen zu tragen. Dort sagen sie einfach: „Oh tolle Bilder, aber wir haben gerade keine Verwendung. Lassen Sie doch Ihre Telefonnummer da“, und das war’s dann mit dem Kontakt. Leute, ihr müsst Bücher machen! So habe ich erreicht, dass mehrere Bücher entstanden sind. Das Letzte ist eigentlich ein Glanzwerk, von Gitta Seiler. Es ist toll, ein richtiger Gedichtband …
… und aus der Dortmunder Zeit, diese Jordis [Antonia Schlösser], die dieses wunderbare Kuba-Buch gemacht hat … Ja. Da gibt es viele Sachen, die man erwähnen müsste … Haben die Ostkreuz-Leute dich eigentlich gefragt, ob du mitmachen willst? 
Die Schule?  Nein, die Agentur. 
Ich hab damals zu Sibylle gesagt: „Mensch, lass das, die leben keine zwei Jahre.“ Hahahaha. 
Da habe ich Unrecht gehabt. Aber das ist ein Haufen geworden … so junge Bengels, da klappt einem das Messer in der Tasche auf. Fühlen sich alle wie Weltmeister … aber die brauchen diese Dimensionen. So was spielt ja Beiträge ein. Eines der Portraits, die Fischer 1964 von Marlene Dietrich machte—hier in nicht allzu glamourösem Umfeld hinter den Kulissen. Hast du einen Tipp, was Leute, die anfangen mit Fotografie, sich vornehmen sollten?
Nee, da hab ich keine Rezepte. Es ist wirklich so, dass man von selbst auf etwas kommen muss. Nie in meinem Leben habe ich irgendjemandem eine Aufgabe gestellt. Ich habe immer nur geschaut und gesagt, Mensch, versuchs doch in dieser Richtung mal … Also etwas Eigenes.
Für mich ist Fotografie ein technisches Mittel, mit dem ein schöpferischer Mensch Kunst machen kann. Das hat mit der Fotografie nichts zu tun, sondern mit ihm selbst. Das muss man erstmal begreifen. Darum war ich auch so stolz auf diesen Titel, den ich hatte. Professor mit künstlerischer Lehrtätigkeit für Fotografie. Nicht „Kunstfotografie“. Die manipulierte digitale Fotografie lehne ich absolut ab. Ich weiß noch, zu DDR-Zeiten waren wir die Feinde, die unbeliebten Bildjournalisten. Wir waren die Hinterhof-Fotografen. Was hat die eigentlich gestört an eurer Arbeit?
Na, die haben das nicht begriffen … dass da einer wirklich mal alte Höfe fotografiert hat, und dass das Musik ist … das haben sie nicht begriffen. Aber dann gab’s eine Ausstellung unten am Fernsehturm, das weiß ich noch, mit einem Foto von Sibylle, von oben auf einen Tisch, an dem ein Arbeiter mit einer Tasse Kaffee dasitzt und kuckt. Kein Prolet, ein Mensch sitzt da. Und als die Regierung sich die Ausstellung anschaute, sagte der [Kurt] Hager plötzlich: „Erich. Komm doch mal.“—Wie hieß der? Honecker.
Der sagte also: „Erich, komm doch mal. Das ist er! Der DDR-Arbeiter!“ —„Ja.“ Plötzlich war das ein Bild. Die Redaktionen hätten das nie gedruckt. Dann druckte der Sonntag diesen fliegenden Engels. Als Doppelseite. Es gab ja in dem Sinne keine Zensur, die Chefredakteure mussten immer an jedem Sonntag ins ZK, und entweder sie wurden gehätschelt oder … (macht die Geste des Halsabschneidens) … ne? Das Bild wurde zerrissen. Aber nach dieser Geschichte kamen viele der anderen Chefredakteure und haben Kübeldin, dem Chefredakteur des Sonntag, gratuliert. Jetzt hängt der Engels im MoMA. In der ständigen Sammlung?
Genau. Ab dem Punkt kamen Bewerbungen. Wir waren im Verband der Künstler. Wir hätten eine Sektion werden können, dann hätte aber ein Parteisekretär dazu gemusst. Von uns war keiner in der Partei und es wäre auch keiner da eingetreten. Also wurden wir eine Arbeitsgruppe Fotografie. Und jetzt kamen sie an, die Herren Bildjournalisten. Ganz vorsichtig. Wir haben erstmal auch gar keinen aufgenommen. Aber Bewerbungen gab es, und eines Tages, war ja eine Aufnahmekommission, waren da so 30, 40 Schwarzweiß-Abzüge. Bestickt, bunt bestickt.  Mit Garn?
Genau … ich dachte mich trifft der Schlag. Mit Strickgarn … ganz bunt, ich weiß nicht mehr genau wie. Nur an mein Entsetzen erinnere ich mich noch gut. Was macht denn der [Andreas] Gursky heute? Strickt mit Pixeln seine Bilder zusammen. Soll er doch. Dann ist er eben ein Künstler, oder soll sich nennen, wie er will, aber er ist kein Fotograf. Im Fernsehen habe ich dazu was gesehen, und dort sagte jemand: „Das ist ja ein tolles Bild, Big Boxenstopp von Schumi.“ „Na ja“, sagte Gursky darauf, „das ist nicht echt, das da unten war anders, da habe ich aus dem Internet was reingemacht“. Das sind digitale Montagen.
Ich habe nichts dagegen, auch wenn sie 25.000 Euro dafür kriegen. Ich bin nicht neidisch. Ich finde es nur scheiße, dass die immer wieder mit großen Namen von anderen genannt werden und niemand das mal ordnet! … Na ja, Prost! Prost!
(Überlegt) Was soll ich noch erzählen? Mein Leben war Liebe und Lust!