FYI.

This story is over 5 years old.

News

Merkel muss endlich auf den rassistischen Hass in Heidenau und anderswo reagieren

In Heidenau tobt ein rassistischer Mob. Teile der Politik befördern das und die Bundeskanzlerin schweigt.
Foto: Imago/Christian Ditsch

Die Bilder vom Wochenende in dem deutschen Ort Heidenau schockieren schon ohne weiteren Kontext. Ihre gesamte Wucht entfalten sie allerdings erst, wenn man sie historisch einzuordnen weiß. Dafür lohnt ein Blick auf die Zeit Anfang der 1990er, als Flüchtlingsunterkünte in Lichtenhagen und Hoyerswerda in Deutschland brannten. Denn dann sieht man nicht nur die Parallelen, sondern versteht auch die Zielsetzung hinter den Ausschreitungen—und ist hoffentlich in der Lage, deren Erreichen zu verhindern. Aber der Reihe nach.

Anzeige

Damals—die Albtraumnächte von Lichtenhagen fanden genau vor 23 Jahren statt—wie heute sieht man den Hass, der irgendwie immer da ist, zumeist aber nur in dunklen Nischen artikuliert wird, hervorbrechen. Und zwar nicht anonym und heimlich, sondern unter Klarnamen im Internet und ohne Vermummung, mit hassverzerrtem Gesicht bei Demonstrationen und Ausschreitungen. Diejenigen, die vorgeben, die Freiheit und das Abendland gegen Islamisierung und Überfremdung schützen zu wollen, setzen sich für ihren heiligen Krieg über die Regeln genau jener Gesellschaftsordnung hinweg, die zu verteidigen sie vorgeben —und die abzuschaffen sie eigentlich vorhaben.

Weil die Rechten in Deutschland wissen, dass sie das Ziel, die offene Gesellschaft rückabzuwickeln, niemals mit demokratischen Mitteln—etwa durch eine Mehrheit der AfD bei einer Wahl—erreichen können, setzen sie darauf, im vorpolitischen Raum die Deutungshoheit zu übernehmen. Hat man das geschafft, kann man dieses Kapital nutzen, um Druck auf die etablierten Parteien auszuüben. Und im besten Falle geschieht dann genau das, wovor Hans-Dietrich Genscher 1989 angesichts des durch die Republikaner kanalisierten rechten Hasses schon warnte: „Jetzt fehlt nur noch, dass die großen Parteien sich verhalten, als wären sie Republikaner."

Genau das geschah damals. CSU-Chef Waigel stellte auf dem Schlesiertreffen unter Applaus fest, das Deutsche Reich sei am 8. Mai 1945 nicht untergegangen. CDU-Bundesinnenminister Seiters sah nach den Pogromen in Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln das Problem nicht etwa bei den Ausländerfeinden, sondern beim „Missbrauch des Asylrechts". Und selbst die SPD knickte ein und stimmte mehrheitlich einer Einschränkung des Asylrechts zu—nur drei Tage vor den Brandanschlägen von Mölln übrigens.

Anzeige

Und heute? Zwar positionieren sich alle großen deutschen Parteien zunächst eindeutig gegen jeden Hass. Die Grünen sind in dieser Frage sowieso jeder falschen Sympathien unverdächtig. Auch Peter Tauber als CDU-Generalsekretär, Yasmin Fahimi in identischer Position bei der SPD oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann als stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende lassen keinen Zweifel an ihrer ehrlichen Abscheu gegen den Menschenhass. Sigmar Gabriels Treffen mit Pegida-Protagonisten, CDU-MdB Wolfgang Bosbachs Einlassungen bei Maybritt Illner, Innenminister de Maizières lautes Nachdenken über das Taschengeld für Flüchtlinge oder die abfälligen Äußerungen vom bayrischen CSU-Innenminister Herrmann zeigen allerdings, dass die Politik auch heute nicht komplett immun gegen den rechten Druck von der Straße ist.

Beim Umgang mit Flüchtlingen geht es nicht nur um lautloses, pragmatisches Management—eine Spezialität von der deutschen Kanzlerin Merkel. Vielmehr handelt es sich um den ultimativen Charaktertest—für jeden einzelnen von uns, aber auch für die Regeln der offenen Gesellschaft. Halten wir diese auch aufrecht, wenn es ernst—und vielleicht auch einmal ungemütlich—wird?

Angela Merkel scheint diese Frage für sich noch nicht endgültig beantworten zu können, hat sie sich doch bisher weder selbst geäußert, noch auch nur eine einzige Asylbewerberunterkunft besucht. Hoffen wir, dass sie das nicht erst dann tut, wenn es Tote gab. Die historische Einordnung der Vorkommnisse in Heidenau ist ein Blick in den Abgrund der Geschichte, die auch den letzten Schlafwandler aufwecken sollte.

Das Buch Gefährliche Bürger von Liane Bednarz und Christoph Giesa ist heute bei Hanser erschienen. Die beiden zeigen, wie das neurechte Milieu versucht, die bürgerliche Mitte zu infiltrieren. Einen Auszug gibt es auf Christophs Blog.


Titelfoto: Imago/Christian Ditsch