Minderheit in der Minderheit: Ich bin schwarz, behindert und lesbisch

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Minderheit in der Minderheit: Ich bin schwarz, behindert und lesbisch

"In der deutschen Lesbenszene werde ich immer angestarrt. An starken Tagen sage ich: Ok, heute gehe ich in den Affenzirkus. Aber die Kraft dazu habe ich momentan nicht."

Die Frauen, die Andrea Sömmer fotografiert und interviewt, müssen nicht nur dafür kämpfen, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden—sie kämpfen auch gegen die Diskriminierung in der eigenen Szene. Mit ihrer Serie "Randgruppe" geht die Regisseurin und Fotografin der Frage nach, wie es ist, in der Minderheit eine Minderheit zu sein. Sie hat Frauen porträtiert, die sich am Rand der lesbischen Szene bewegen—und es deshalb häufig nicht einfach haben. In den letzten Wochen haben wir Trish vorgestellt, die als Domina arbeitet, Laila, die einen Bart hat, Flora, die es als Femme in der Szene nicht einfach hat und Julia, die mit 15 schwanger wurde.

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Trailer zu 'Randgruppe'

Michelle, 48

VICE: Warum fühlst du dich außen vor in der lesbischen Szene?
Michelle: Naja, ich bin ja eine Dreifachrandgruppe: farbig, lesbisch und behindert. Das muss man mit Humor nehmen, sonst geht es gar nicht anders. Wenn ich andere Behinderte sehe, die schauen immer so grummelig. So nach dem Motto: Guck mich ja nicht an.

Alle Fotos: Andrea Sömmer

Was ist deine Diagnose?
2006 bin ich zu meinem Arzt gegangen, weil ich aus dem Nichts Probleme mit meinen Händen hatte. Sie funktionieren nicht mehr richtig. Meine Daumen streikten, ich hatte immer wieder Krämpfe. Selbst an der Tastatur zu tippen tat weh. Ich hatte dann unzählige Operationen. Sehr lange wusste keiner, was ich habe, bis die Diagnose eindeutig war: HMSN. Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie. Das war natürlich erstmal eine fette Watschen.

Was ist das?
Das ist ein Gendefekt. Zuerst wusste ich auch nichts mit der Diagnose anzufangen. Ich habe dann den Fehler gemacht, im Internet zu schauen. Das war Horror. Ich habe gelesen, dass die Krankheit nicht aufzuhalten sei und dass es immer schlimmer wird. Dass meine Muskeln an den Beinein und Armen immer weiter abbauen werden. Aber die Ärzte sagten, die Krankheit schreitet sehr langsam voran. Ich sterbe nicht daran, werde aber immer Einschränkungen haben.

Ja, das ist ein Joint. Michelle hat eine medizinische Freigabe für Marihuana. Sie sagt, es helfe ihr gegen Schmerzen, Krämpfe und für ihr "Seelenheil"

Welche?
Meine Knie sind kaputt. Ich dachte zuerst, ich bin zu blöd zum Laufen, aber es waren meine Muskeln, die abgebaut hatten. 2008 versagten meine Beine und ich musste in den Rollstuhl. Jetzt kann ich weder laufen noch stehen. Ins Netz schaue ich nicht mehr. Ich will gar nicht wissen: Kommt da noch mehr? Ich habe rund um die Uhr Assistenten, die mir helfen. Ich kann mir nicht einmal selbst ein Glas Wasser holen.

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Wie nimmt dich die lesbische Szene wahr?
Rassismus kenne ich seit meiner Kindheit, aber das konnte ich immer gut wegstecken, weil ich eine echt starke Familie hatte. Wenn ich früher, also noch ohne Behinderung, in der Szene unterwegs war, hatte ich immer das Gefühl, dass ich angeschaut werde. Es war eine Mischung aus Neugierde und Angst vor dem Anderssein. Aber ich fühle mich nicht anders. An meine Hautfarbe denke ich erst, wenn mich andere darauf stoßen. Ich habe eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater. Aber ich bin in München aufgewachsen und war immer von Weißen umringt.

Fühlst du dich wohler unter Menschen, die deine Hautfarbe haben?
Nein, es ist für mich eher ungewohnt, wenn ich unter Farbigen bin. Diese Situation ist für mich nicht alltäglich. Mittlerweile ist das aber völlig OK. Ich sehe nicht die Hautfarbe, sondern nur den Menschen. Aber vor meiner Behinderung bin ich leichter mit Lesben ins Gespräch gekommen. Heute glotzt man nur noch. Die stehen da in ihren Ecken, in ihren eigenen Gruppen und schauen nur. Da kommt man nicht ohne weiteres rein. Wenn du anders bist, ist dir der "Anstarrfaktor" sicher.

Wann warst du das letzte Mal in der Szene unterwegs?
Zum Christopher Street Day 2016. Das war toll, weil ich Freunde von früher getroffen habe. In der Szene bin ich aber eigentlich gar nicht mehr unterwegs. Ich habe keine Lust begafft zu werden. Da muss ich schon einen starken Tag haben und sagen: OK, heute gehe ich in den Affenzirkus. Aber die Kraft dazu habe ich momentan nicht. Ich habe keinen Bock auf so eine kalte Gesellschaft und treffe mich lieber mit meinen Freunden. Ich suche jetzt auch keine Beziehung oder so.

Warum?
Ich komme mit meiner Behinderung nicht so richtig zurecht. Ich weiß nicht, wie das mit der Liebe funktionieren soll. Klar, ich will jemanden bei mir haben, aber die Angst ist zu groß, abgelehnt zu werden. Meine letzte Beziehung ist jetzt fünf Jahre her. Da saß ich schon im Rollstuhl, konnte aber noch ein bisschen laufen. Die Beziehung ist aber unabhängig von meiner Behinderung auseinander gegangen und wir sind immer noch gut befreundet. Ich habe meine Ex einmal gefragt, ob sie sich eine Beziehung mit mir in meinem jetzigen Zustand vorstellen könne. Sie antwortete mit ernstem Gesicht: "Hast du sie noch alle, ja klar." Sie hätte kein Problem damit, aber ich.

Aber trotzdem lachst du sehr viel.
Ja, ich war schon immer ein positiver und fröhlicher Mensch. Nach meiner Diagnose hatte ich zwei Jahren Menschenabstinenz. Aber jetzt will ich zurück in die Gesellschaft. Ich treffe meine Leute, Freude von früher. Aber es geht nur mit viel Humor. Ich lache sehr viel, auch über mich selbst. Ich sage immer: Life is a bitch. I'm not gonna marry one. Ich versuche einen Weg zu finden, wie ich durch das Leben komme.