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Krise in der Ukraine

Die Hotels in Kiew werden zu Leichenhallen

Gestern Abend gingen Demonstranten und Polizisten einen brüchigen Waffenstillstand ein. Heute morgen wurde dieser Frieden jedoch endgültig gebrochen. Es gibt bereits wieder weit über 35 Tote. VICE berichtet aus den blutgetränkten Straßen Kiews.

Gestern Abend gingen Demonstranten und Polizisten einen brüchigen Waffenstillstand ein. Heute morgen, als auf den Straßen der ukrainischen Hauptstadt wieder Blut vergossen wurde, wurde dieser Frieden jedoch endgültig gebrochen. Die Anzahl der Todesopfer steigt weiter an. Die Kyiv Post berichtete, dass mindestens 37 Menschen getötet worden seien—hauptsächlich durch Schüsse von Polizisten. Nachdem Demonstranten die Staatsanwaltschaft besetzt hatten und die Polizei kapitulierte, wurde in der Region Liviv (Lemberg) gestern die Unabhängigkeit von der Zentralregierung ausgerufen.

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Heute trifft sich Präsident Janukowitsch mit Außenministern der EU, die über mögliche Sanktionen berät. Wie es aussieht, wird Russland die ukrainische Wirtschaft jedoch durch den Kauf von Staatsanleihen im Wert von 2 Milliarden Dollar stützen. US-Präsident Obama hielt davon nicht viel. Er griff Putin für die Rolle Russlands in der Krise an und erklärte, „auf der Seite des Volkes“ zu stehen.

Der britische VICE-Redakteur Henry Langston berichtet von den Straßen in Kiew. Er rief uns heute morgen an, um uns ein Update der Lage zu geben.

VICE: Hi Henry. Die Lage in Kiew scheint entsetzlich zu sein. Was kannst du mir dazu erzählen?  
Henry Langston: Ich habe schon mehrere Leichen gesehen, die definitiv an Schusswunden gestorben sind. Ein Mann hatte eine Kevlarweste an, aber ohne Panzerplatte. Es war ein riesiges Loch darin, das von Blut umgeben war. Sie haben die Leichen in eine ukrainische Flagge gewickelt. Es waren junge Männer, vielleicht Mitte Zwanzig. Vorher war auf Demonstranten geschossen worden, die auf Mannschaftswagen der Polizei zustürmten.

Kannst du mir erzählen, wie es zum Bruch des Waffenstillstands kam? Ich dachte, Janukowitsch und die Oppositionsführer versuchen, die Lage etwas zu stabilisieren. 
Gegen acht Uhr morgens haben Demonstranten wieder die Teile des Unabhängigkeitsplatzes eingenommen, von denen sich die Polizei im Zuge des Waffenstillstands zurückgezogen hatte. Als Vergeltung dafür hat die Polizei das Feuer eröffnet. Mir wurden Wunden von Handfeuerwaffen gezeigt. Es gibt viele besorgte Menschen, gegen AK-47 haben die Leute keine Chance. Sie haben Schutzschilder und Keulen. Auf der Seite der Demonstranten haben wir keine Schusswaffen gesehen. Wir haben überhaupt keine Waffen auf der Seite der Demonstranten gesehen. Abgesehen davon gibt es Berichte darüber, dass außerhalb von Kiew zahlreiche Waffen von Demonstranten geplündert worden seien, die Regierungsgebäude gestürmt haben.

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Der Platz der Unabhängigkeit in Kiew

Was passiert gerade?
Ich stehe gerade vor dem Hotel Ukraine auf der Instytutska-Straße [am Maidan]. Hier ist ein Scharfschütze, der auf Geratewohl Schüsse abfeuert [Schussgeräusch]. Ja, das war noch einer. Es gibt ein paar Barrikaden in der Nähe des Hotels und es sind nur ein paar Demonstranten auf ihnen. Ich denke, dass sie festgenagelt sind. Das Hotel ist gerade eine Art Triagezentrum und Leichenhalle. Ärzte haben hier 15 Tote gezählt, die ihrer Ansicht nach von Scharfschützen erschossen worden sind.

In der Hotellobby werden die Wunden gesichtet. Die Verwundeten werden so schnell wie möglich ins Krankenhaus gebracht, die toten Körper werden in Leinentücher gewickelt und aufgereiht. Als die ersten Verwundeten ins Krankenhaus kamen, konnten die Ärzte, die zufällig dort geblieben waren, sie nicht behandeln, weil sie keine Ausrüstung hatten, um die schweren Blutungen zu behandeln.

Junge Polizeikräfte wurden von den Demonstranten gefangen genommen.

Ich habe gehört, dass Demonstranten Polizisten gefangen genommen haben. Hast du davon etwas mitbekommen?
Wir haben ungefähr zwanzig gefangen genommene Polizisten gesehen, die in eines der Zelte der Demonstranten geführt wurden. In Richtung des Rathauses, wo eine Reihe von Zelten steht, in denen die Demonstranten schlafen. Sie sahen alle sehr jung aus. Sie waren Anfang zwanzig, einige von ihnen verletzt. Sie waren von Demonstranten umgeben, die sie bespuckt haben und sie zu schlagen versucht haben, aber es gab auch Demonstranten, die versucht haben, das zu stoppen. Außerdem waren Priester vor Ort, die versucht haben, den Frieden zu bewahren.

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Ein Priester segnet einen Demonstranten.

Wie, denkst du, wird es jetzt weitergehen? Es fühlt sich so an, als ob eine Grenze überschritten wurde. Einige sprechen sogar schon von einem Bürgerkrieg.
Ich denke, dass ,Bürgerkrieg‘ eine gewagte Bezeichnung ist, aber die Lage ist furchteinflößend. Leute werden auf der Straße getötet—es ist furchtbar düster. Man dachte schon im Januar, dass die Grenze überschritten worden wäre, als vier Demonstranten ermordet worden sind. Dann hat sich die Situation wieder beruhigt, das Anti-Demonstrationsgesetz wurde aufgehoben, der Ministerpräsident trat zurück, das Amnestiegesetz trat in Kraft, das war eine gute Sache. Jetzt wird eine vorgezogene Wahl gefordert, aber die Regierung macht keine Anstalten, dem entgegenzukommen. Ich denke, dass die Polizei abziehen muss, denn die Demonstranten werden nicht zurückweichen—dass ist verdammt klar. Diese Leute sind nur noch mit Gewalt zum Rückzug zu bewegen.

Danke Henry. Pass auf dich auf.

Aufgereihte Leichen auf den Straßen von Kiew