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Popkultur

Nach dem Newtopia-Aus – ist die Zeit des Reality-Voyeurs endlich vorbei?

Ich möchte bitte keine Überwachungsshows mehr im deutschen Fernsehen sehen. Egal ob mit oder ohne ‚Promis'.

Foto: nolifebeforecoffee | Flickr | CC BY 2.0

Es war ein schleichender Prozess. Früher habe ich voller Begeisterung eine Trash-Sendung nach der anderen geschaut, weil die trotz aller gescripteten Elemente im Gegensatz zum Rest der Fernsehlandschaft so ehrlich waren, dass sie gar nicht getan haben, als hätten sie irgendeinen Anspruch. Du wolltest unattraktive Singles, die sich gegenseitig zu Kuschelhits 17 das Gesicht abschlecken? Du hast genau das bekommen. Bei aller Liebe zum Proletariatsfernsehen gab es aber schon damals immer eine besondere Art des Reality-Formats, die mich über alle Maßen gelangweilt hat. Sendungen nach dem Vorbild von Big Brother, bei denen man eigentlich nichts anderes tut, als Menschen zu beobachten. Überwachungs-TV.

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Zwar steht die nächste Staffel von Promi Big Brother bereits in den Startlöchern, mit dem vorzeitigen Aus des Sat.1-Großprojekts Newtopia besteht aber durchaus die Hoffnung, dass derartigen Formaten in naher Zukunft flächendeckend der Stecker gezogen wird. Warum diese voyeuristischen Formate nicht mehr in unsere Zeit passen und der absolute Gipfel der TV-Tristesse sind? Ich werde es euch sagen.

Normale Menschen sind nicht sonderlich aufregend

Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht haben mich die ganzen Retortenformate einfach für immer verloren und es gibt keine Dating-Show, keine voyeuristische Totalüberwachung und keine schlecht verborgenen Sexakte vor der Nachtsichtkamera, die mich jemals wieder zur lahmen Realität zurückholen, wenn es da draußen so viele fantastische fiktive Formate (House of Cards, Orange is the New Black und was sich sonst noch bis an den Rand der Selbstaufgabe binge-watchen lässt) gibt. Wisst ihr, woraus Voyeure große Teile ihrer sexuellen Befriedigung ziehen? Aus dem Reiz des Verbotenen, der stetig präsenten Angst, erwischt zu werden. Das ist bei Formaten wie Newtopia nicht gegeben. Hier ist die Überwachung von vornherein Teil des Show-Konzepts, alle Beteiligten wissen ganz genau, wo die Kameras sind und wenn es darum geht, den Tagesablauf von ganz normalen Menschen mitzuschneiden, die nicht mal ihr fest abgestecktes Areal verlassen dürfen—was zur Hölle soll dann schon passieren?

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90 Prozent der Zeit wird geredet und weil sich in einem Umfeld, in dem absolut nichts passiert, die spannenden Themen nicht so richtig aufdrängen, fühlt man sich als Zuschauer in eine dieser Party-Smalltalk-Gesprächssituationen versetzt, denen man in aller Regel nur durch einen verzweifelten Fluchtversuch auf die Toilette entkommt (gerne auch mit lautem Würgen, um die Dringlichkeit zu verdeutlichen). Fun!

Prominente Menschen auch nicht

Wie kann man ein eher unspektakuläres Format besser machen? In dem man die Zivilisten durch die Art von Pseudo-Berühmtheiten ersetzt, die einem in Boulevard-Zeitschriften von irgendwelchen Charity-Gala-Fotos entgegenlächeln. Das mag auf dem Papier ein ziemlich guter Plan sein, denn die Öffentlichkeit liebt nichts mehr, als zu wissen, wie die oberen 10.000 (oder 10 Millionen. Je nachdem, wie großzügig man das Wort „Promi" auslegt) abseits der roten Teppiche so sind.

Will uns Sat.1 mit ‚Newtopia' eigentlich komplett verarschen?

Selbst Promi Big Brother ist aber immer nur genau so lange ein klitzekleinesbisschen spannend, bis auch dem Letzten da draußen klar geworden ist, dass Erotik-Models, abgehalfterte Politiker und ehemalige Soap-Darsteller auch nur Menschen sind. Sie schreien sich an, wenn sie unter Druck stehen, sehen ungeschminkt scheiße aus und wenn man sie lange genug mit anderen in einen Container sperrt, machen sie irgendwann miteinander rum. Deswegen sinken die Quoten dann auch zuverlässig nach der ersten voyeuristischen Trash-Euphorie.

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Klar, da gibt es noch das Dschungelcamp. Eine dieser vermeintlich krisensicheren Sendungen (wie der Tatort, Wer wird Millionär? oder alle Showformate, an denen Stefan Raab beteiligt ist), bei denen die Zuschauergunst nur geringfügig schwankt und von dem aktuell sogar an einer Sommerausgabe gedreht wird. Die Sache ist nur: So richtig fällt IBES nicht unter die stumpfen Überwachungsshows. Der dramaturgische Bogen ist dafür zu klar herausgearbeitet, die Sendung zu straff gegliedert, die Schnitte ins Camp zu knapp.

Die wirklich interessanten Sachen bekommt man nicht mit

Wer bekennender Voyeur-TV-Fan ist, sucht nach dem vermeintlich echten, ungefilterten. Er will Situationen sehen, die er in einer straff durchorchestrierten, gescripteten Reality-Soap so nicht bekommt. Er möchte Authenzität. Das wissen die verantwortlichen Sendungsmacher natürlich und haben sich deswegen etwas ganz besonders Cleveres ausgedacht: Wer wirklich ungefiltert gucken möchte, kann das—wenn er zusätzlich Geld für einen 24/7-Onlinezugang bezahlt. Das kann in Extremfällen dann eben so aussehen, dass die wirklich interessanten Dinge im Fernsehen angeteasert und die Zuschauer anschließend auf den zusätzlichen Bezahl-Content verwiesen werden.

Motherboard: Privatsphären-Aktivisten kämpfen gegen Big-Brother-Barbie.

Dem Wunsch nach möglichst „authentischen" Szenen steht außerdem die Tatsache gegenüber, dass sich auch der exhibitionistischste Fernsehkandidat ungerne in der Öffentlichkeit bloßstellen lässt. Schließlich hofft er, nach dem Ende von Big Brother/Newtopia/ wasauchimmer darauf, zumindest zur nächsten DSDS-Aftershowparty eingeladen zu werden. Spätestens am zweiten Tag wissen die Teilnehmer ziemlich genau, wie man sein Mikrofon halten muss, damit die ganz peinlichen Offenbarungen fürs Publikum nicht verständlich sind oder wie man optimale Körperhygiene betreibt, ohne Millionen Deutschen seinen Penis zu präsentieren. Laaaaaaangweilig!

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Außerdem: Wenn ich unattraktive Menschen dabei sehen möchte, wie sie in schlechtausgeleuchteter Kulisse Oralverkehr haben, gehe ich auf die Amateurporno-Seite meines Vertrauens und spare mir die sensationsgeile Off-Stimme, die mir mit Halbsteifem aus der Sprecherkabine ins Ohr flüstert, was da gerade passiert.

Wir sind über die Rolle des reinen Voyeurs längst hinaus

Auch eine Form der Interaktion: Fernseher bemalen. Foto: Dennis Skley | Flickr | CC BY-ND 2.0

Das Problem mit diesen ganzen Überwachungsformaten ist vor allem das: Sobald Überwachung zur Normalität wird, wir kein Big Brother mehr brauchen, um zu wissen, was ganz normale andere Leute den ganzen Tag so machen, weil sie es uns absolut freiwillig auf Twitter, Facebook und Instagram mitteilen, verliert sie jeglichen Unterhaltungswert. Wir müssen keinen verschämten Blick mehr hinter verschlossene Türen riskieren. Alle Pforten stehen weit offen und in jedem Raum befindet sich ein selbstvermarktender Marktschreier.

Vielleicht ist der Zuschauer, mit seinem Second Screen, dem Tatort-Twitter-Boom, der Hashtag-Beteiligung mittlerweile zu sehr daran gewöhnt, aktiv zu sein, als dass es ihm genügt, auf die Rolle des Voyeurs reduziert zu werden. Denn viel mehr ist man nicht: Ein Voyeur. Sendungen wie Newtopia nehmen den Zuschauer als Konsumenten nicht ernst, sie haben nicht den erklärten Anspruch, ihn zu unterhalten—oder machen zumindest nicht den Anschein, es zu versuchen. Sie zeigen nur Bilder aus dem Leben anderer und im Gegensatz zu Social Media können wir uns nicht einmal aussuchen, von wem wir mehr erfahren möchten.

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Diese Formate sind der Inbegriff der Zeitverschwendung

Foto: spacemanor | Flickr | CC BY 2.0

Nachdem ich am vergangenen Wochenende die zweite Staffel von zweite Staffel von BoJack Horseman am Stück konsumiert habe und mir ein bisschen vorkam wie Reiner Calmund, der von seinem Fußball-Spezi Uli in der Hoeneß'schen Wurstfabrik allein gelassen wird, hatte ich irgendwann am späteren Sonntagabend eine recht unangenehme Erkenntnis: Ich verschwende mein Leben. Ich bin jung, habe keine Probleme mit der Bandscheibe und könnte theoretisch einen Marathon laufen. Stattdessen habe ich mein Bett nicht verlassen. Wenn einem dieser schuldbewusste Gedanke schon dann kommt, wenn man ganz fantastisch unterhalten wurde, wie total sinnlos und dumm ist es dann erst, seine Zeit damit totzuschlagen, anderen Menschen beim Zeittotschlagen zuzugucken?

„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein", heißt es so schön bei Nietzsche. Wenn wir also lange genug den nächsten Bachelor-Kandidatinnen im Spe bei der Balz um den am meisten tätowierten Mitbewohner zusehen—was sagt das dann eigentlich über uns? Zerfließt die Grenze zwischen Beobachter und Beobachtetem? Und sind wir vor der NSA nicht alle Newtopia-Pioniere und Big Brother-Insassen mit zweifelhafter Zukunft? Voyeurismus-TV wirft Fragen zu Mensch und Menschlichkeit auf, die ich nicht beantworten möchte. Ein weiterer Grund, diese Art der Unterhaltung abzuschaffen. Endgültig.

Überwacht Lisa bei Twitter.