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Boxen gegen Gewalt?

Einer der flüchtigen Mörder vom Alexanderplatz will sich stellen. Wir besuchten den „Verein Schöneberger Boxfreunde 1924.“, in dem der mutmaßliche Haupttäter Onur U. trainierte, und sprachen mit seinem Trainer.

Boxen gegen Gewalt—ein Motto viel bejubelter Projekte. Jugendliche sollen von der Straße geholt werden, lernen ihre Emotionen zu kanalisieren, sich auspowern, ihr Selbstwertgefühl stärken. Doch dann prügeln fünf Jungs am Berliner Alexanderplatz so lange auf einen wehrlos am Boden Liegenden ein, bis er an seinen Verletzungen stirbt. Und die Frage, wie es zu so grenzenloser Aggression kommen kann, wird wieder schrill durch die Medien gepeitscht. Schlecht integrierte Migranten ist eines der Hauptargumente, das nächste: der Boxsport. Onur U., einer der mutmaßlichen Täter des Alexanderplatz-Mordes, boxte auch. Ich besuchte also den „Verein Schöneberger Boxfreunde 1924.“, in dem Onur U. trainierte, und sprach mit seinem Trainer.

Kommandos schallen durch die Halle. Schon beim Aufwärmtraining wird voller Körpereinsatz gefordert: schnelle Sprints, Liegestütze, Sit-ups, Kniebeuge—und dann alles nochmal. Drei Trainer kümmern sich um die Ausbildung der Nachwuchsboxer. Fred Bergemann hat einige Jungs zu großen Erfolgen geführt, wie zum Beispiel den Onkel von Onur U., Oktay Urkal. Zusammen holten sie mehrfach den Deutschen Meistertitel, Europa-Titel und sogar eine Silbermedaille bei Olympia. Onur U. flüchtete kurz darauf in die Türkei, die Verhandlungen über eine Auslieferung nach Deutschland laufen. Onur trainierte in der Herta-BSC-Boxabteilung und im „Verein Schöneberger Boxfreunde 1924 e.V.“. An die Erfolge seines Onkels reichte er nie heran, zu unregelmäßig kam er zum Training, zu unbelehrbar gab er sich im Ring. Schon früh wurde Onur strafauffällig, mehrfach ist er wegen Gewaltdelikten und Nötigung verurteilt wurden. Trotzdem, Fred Bergemann kann sich die Tat nicht erklären: Fred Bergemann: „Ganz ehrlich, ich konnte das bei Onur nicht erkennen. Er war immer höflich, immer freundlich. Dass er so eskaliert, hätte ich nie für möglich gehalten.
Erst dachte ich: Das kann er doch nicht gemacht haben! Er war ein ausgebildeter Boxer, nicht superklasse, aber gut. Wenn er von Mann zu Mann gekämpft hätte, dann würde ich es noch verstehen. Aber dass er—als ausgebildeter Boxer—noch fünf andere dabei haben musste, um dieses arme Würstchen zusammenzuschlagen, das geht mir nicht in den Kopf! VICE: Fällt es Ihnen als Trainer nicht auf, wenn Jugendliche ein erhöhtes Gewaltpotenzial haben?
Eine gewisse Gewalt ist ja im Boxsport drin—unter den Sportlern: Mann gegen Mann. Aber der Sport ist nicht dafür da, um Gewalt für die Straße zu üben. Na klar, verteidigen kann man sich bei einem Angriff. Doch selbst da sollte man sehr vorsichtig sein. Wenn was passiert, kann man nicht so einfach sagen, es war Selbstverteidigung, wenn keine Zeugen dabei waren.
Wir haben hier natürlich einen Erziehungswert. In einem gewissen Alter muss man den Jungs sagen, was geht und was nicht: Sei es die Pünktlichkeit oder dass sie uns Erwachsene ausreden lassen und nicht anfangen zu diskutieren. Wir erziehen die Jungens, aber was nützt es, wenn jemand nicht hören will? Sie machen ihren Sport und hier ist es kollegial. Egal welcher Nationalität, untereinander sind sie fair. Sie belehren die Jungs auch, was sie mit ihren antrainierten Fähigkeiten anrichten können?
Auf jeden Fall! Ich bin jetzt 78 Jahre alt, bin Trainer seit 60 Jahren und habe es noch nicht gehabt, dass einer so eine Straftat gemacht hat. Diese Aggressivität, die bei manchen ausbricht—wenn Leute auf der Straße liegen und noch zugetreten wird, das ist neu. Man kann ringen und boxen, aber wenn jemand nicht mehr kann, dann muss man aufhören. Warum wird der Boxsport dann trotzdem oft mit Gewalttaten im Zusammenhang gestellt?
Da muss man unterscheiden, denn beim Boxen schaltet man das Gehirn ein, und die Jungs wissen, was das bedeutet. Keiner kommt aggressiv her. Aber sie messen ihre Kräfte beim Sparring oder wenn sie gegen einen Sandsack kloppen. Da steigt natürlich auch die Kraft, die Jungs werden immer härter. Wenn ein Junge sich hier zwei Stunden auspowert, ist der müde und sagt: So, jetzt geh ich nach Hause. Und weil er weiß, dass er sich verteidigen kann, braucht er nicht auf der Straße anfangen, seine Kräfte zu messen.
Klar ist da mal einer dabei, der so was trotzdem macht, aber das gibt es in jeder Sportart, auch beim Fußball. Die Jungs, die herkommen, wollen den Sport machen und kommen nicht explizit hierher, um zu lernen, wie sie jemanden verprügeln. Sie wollen später in den Ring steigen und Wettkämpfe boxen, das ist ihr Ziel. Bei den Boxkämpfen im Fernsehen geht es ja oft ziemlich brutal zu. Wie ist es denn bei Amateur-Wettkämpfen?
Ich bin ein Gegner von diesem brutalen Gewaltboxen, das man manchmal im Fernsehen sieht. Mit blutenden Köpfen, dermaßen zusammengeschlagen mit unfairen Mitteln—unter die Gürtellinie und Innenhände und Kopfstöße—, das ist eine ganz andere Sportart! Trotzdem, Boxen ist ein harter Sport. Fäuste gegen den Kopf zu bekommen, ist nicht gesund und deshalb schicken wir erst jemanden in den Ring, der es auch wirklich drauf hat, sich zu decken und zu wehren. Wenn Eltern aber so was im Fernsehen sehen, dann wollen sie natürlich auch nicht, dass ihre Kinder das machen. Deshalb sind bei uns im Boxsport die Zahlen auch rückläufig in den letzten Jahren. So, jetzt muss ich aber weiter machen!

Das Aufwärmtraining ist vorbei und die Sportler werden in Gruppen aufgeteilt. Zwei Ältere beginnen einen Boxkampf, die Fortgeschrittenen gehen mit Trainer Alfons Bauer an die Sandsäcke und Fred Bergemann kümmert sich um die Anfänger. Schritt für Schritt erklärt er ihnen die richtige Stellung des Handgelenks beim Schlagen. Immer wieder lobt und ermuntert er seine Schützlinge: „Jawoll! Ick seh, ihr habt jeübt.“ Bergemann begegnet den Jugendlichen auf Augenhöhe und mit viel Elan. Dass er 78 Jahre alt ist, mag man kaum glauben. Bei der Abwehr zeigt er ihnen, worauf es der Gegner abgesehen hat: „Schön die Leber schützen! Jenau!“ Der Erste Vorsitzende des Schöneberger Boxvereins, Norbert Breitrück, trainiert jede Woche mit—seit 45 Jahren. Im Verein sei früher „die Hölle los gewesen“, erzählt Breitrück. Kaum einer konnte deutsch, die Halle war immer voll und eine Menge Nachwuchstalente wurden hier entdeckt. Zum Beispiel die Rocchigiani-Brüder, die im Kiez gewohnt haben. Andere Box-Klubs waren scharf auf die Halle, die viel größer und komfortabler war als ihre eigenen. Breitrück musste dann häufig beim Senat vorsprechen, um die Halle der „Schöneberger Boxfreunde“ zu verteidigen. Das klappte deshalb, weil der Verein viele Erfolge vorzuweisen hatte. Die Jungs heute sehen Boxen vor allem als Freizeitsport, doch einige träumen auch davon, „aus dem Hobby einen Beruf zu machen“, wie es der 15-jährige Orkan beschreibt. Respektvoll und kollegial arbeiten Trainer und junge Sportler zusammen, um die nächsten Erfolge zu erreichen. Gewalt hat hier keinen Platz.