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Europa wird Chinas Disneyland

Prof. Alfred Steinherr, der Senior Economist beim IWF und Chief Economist der Europäischen Investitionsbank war, malt uns ein ziemlich düsteres Bild zur Lage Europas und Deutschlands.

Es ist Herbst in Europa. Immer mehr Lichter gehen aus, ohne dass wir viel davon spüren würden. Die Krise berührt uns kaum. Noch sind wir in Europa zu kriegsmüde, um aus einer staatlichen Schuldenkrise einen nationalstaatlichen Machtkampf werden zu lassen. Überspitzt könnte formuliert werden, es sei überhaupt nur unsere Kriegsmüdigkeit gewesen, die uns zusammengeführt hat.

70 Jahre Frieden. Den Nobelpreis dafür. Aber auch ein dunkles, wirres Dickicht aus undurchsichtigen Regulierungen und eine verhätschelte, dekadente Führungsschicht in Brüssel, die den Problemen nicht mehr ins Auge sehen will, sind das Resultat. Gerade deshalb verkauft man einfach alles als Erfolg. Es wurde ein System (Stichwort Maastrichter Vertrag) geschaffen, das die Krise sämtlicher in Schieflage geratener Länder mit zu verantworten hat. Und während Griechenland sich bereits eigenmächtig Verlängerungen ausspricht, die von der Troika nicht getragen werden, und Deutschland sich nicht in der Lage sieht, die oft geforderte Führung zu übernehmen, scheint es nach wie vor ein Tabuthema zu sein, über die historischen Fehler der EU, aber auch die immer stärker zu Tage tretende Unverschämtheit der griechischen Regierung offen zu reden. Ganz im Gegenteil: Während sich die Alterspyramide in Europa umdreht, viele Jugendliche schon keinen Job mehr bekommen, die Bildungspolitik komplett versagt, nimmt die EU freudig neue eher zweifelhafte Eurokandidaten wie Rumänien auf und verkauft das als Erfolg. Andererseits nimmt es sich unsere verzogene Gesellschaft raus, vom Ende des Wachstums zu träumen, während die Chinesen nicht wissen, wohin mit ihren zigtausend Milliarden Dollar an Reserven, und schon beginnen, uns aufzukaufen. Wir haben uns deshalb mit dem Ökonomen Prof. Alfred Steinherr, der Senior Economist beim IWF und Chief Economist der Europäischen Investitionsbank war, über die düstere Lage Europas und Deutschlands unterhalten. Der Ökonom warnt seit den Tagen des Maastrichter Vertrages vor den Gefahren, die das hastige selbstverliebte Vorgehen der EU mit sich bringt. VICE: Wie düster ist die Lage Europas wirklich?
Alfred Steinherr: Noch gilt Europa global als ein Kontinent, der bewundert wird für seine soziale Ausgeglichenheit. Vor allem Deutschland ist in der Welt als eine Gesellschaft ohne unüberbrückbare Klassenkluften angesehen. Aber es ist zu befürchten, dass der Wohlfahrtsstaat in Europa übertrieben ist und Kosten verursacht, die die Gesellschaft langfristig nicht mehr tragen kann. Wir alle in Europa, aber auch in China, müssen mit dem Alterungsprozess umgehen. Das setzt voraus, dass wir vom bereits Erreichten Abstriche machen. Länger arbeiten. Geringere Alterseinkommen akzeptieren. Denn es muss klar sein: Europa ist im Vergleich zu den Aufholländern stark benachteiligt, was die Altersstruktur angeht. Das scheinen die Europäer aber noch nicht sehen zu wollen. François Hollandes Forderung, die Pension bei 60 Jahren beizubehalten—das ist purer Wahlkampf. Wo steht denn momentan die EU?
Nimm das Beispiel der Lissabon-Agenda: Europa sollte 2010 zum innovativsten Kontinent der Welt werden. Daraus ist natürlich nichts geworden. Die EU oder auch die europäische Idee steht also im Moment immer noch ausschließlich auf dem Fundament, Frieden geschaffen zu haben. Aber die Frage ist, ob es nicht noch deutlichere Erfolge braucht als das. Trotz Nobelpreis. Stelle man sich vor, wir hätten nie die Europäische Gemeinschaft gegründet, aber in dem Bewusstsein, dass wir durch Jahrhunderte hindurch Krieg geführt haben, hätten wir uns alle bemüht, mehr zusammenzuarbeiten. Es ist eine gute Hypothese, anzunehmen, dass es auch ohne die Bürokratie und Vereinheitlichung gut geklappt hätte. Zusammenarbeiten heißt ja nicht unbedingt, dass man ein Europäisches Parlament gründen muss, damit 600 Leute günstig reisen und sich einen Stab halten können, ohne irgendetwas zu tun. Die EU ist wie ein Fahrrad. Wenn du nicht trittst, fällt’s um. Deshalb muss die EU ständig Erfolge zeigen. Was würden Sie denn als Erfolge bezeichnen?
Na ja, es gibt ja eher keine wirklichen Erfolge. Deshalb macht man eben unglückliche Erweiterungen und bezeichnet jegliche Erweiterung als einen Erfolg. Ich nehme an, wenn wir jetzt noch Marokko aufnehmen, dann würde die Kommission freudig herumstolzieren und sich selbst feiern. Aber wir haben eigentlich schon Schlimmeres gemacht. Zum Beispiel Zypern aufzunehmen, ohne vorher eine Lösung im Konflikt mit der Türkei zu erreichen oder … … oder Griechenland …
Oder Griechenland. Ja, ja. Oder Rumänien! Oder Bulgarien! Ebenso wie diese Länder verfrüht aufgenommen wurden, kam sehr wahrscheinlich auch die Währungsunion 50 Jahre zu früh. Das kann man empirisch ganz klar zeigen. Wenn wir schon bei Griechenland sind: Es kommt immer wieder der Vorwurf, die Finanzmärkte seien schuld.
Also, das Griechenlandproblem hat nicht viel mit Finanzmärkten zu tun. Klar gab es in Amerika eine Finanzkrise, die sich auf Europa übertragen hat und das war dann der Akzelerator der europäischen Schuldenkrise. Die gab es aber schon vorher. Wurde nur ungern drüber geredet. Die Finanzmärkte waren also nicht die Causa. Die Schuldenkrise haben wir schön selbst verbrochen. Also haben die EU und die einzelnen Mitgliedsstaaten die Verantwortung zu tragen.
Ja, und nicht nur allein Griechenland. Man hätte für diese Währungsunion keine so rigiden Regeln aufstellen sollen—noch dazu mit dem Anspruch, dass diese Regeln fundamental in alle Ewigkeiten gelten müssen.

Sie meinen den Maastrichter Vertrag.
Ja. Das Problem ist, dass die dort fest gehaltenen Regeln eigentlich für alle und für alle Zeit gelten sollten. Doch gleich zu Beginn wurde im Widerspruch dazu gehandelt. Konkret: Italien und Belgien wurden beide aufgenommen, obwohl sie eine staatliche Schuldenquote von 120% hatten. Natürlich sollten die beiden Gründungsmitglieder dabei sein, deshalb durften sie mitmachen. Die bessere Alternative wäre dann natürlich gewesen zu warten—so lange es eben braucht. Wenn man nicht bereit ist, sollte man nicht beginnen. Doch das Vorgehen von Seiten der Verantwortlichen schon damals zeigt, dass der Maastrichter Vertrag das Papier nicht wert ist, auf dem er geschrieben wurde. Sie haben es damals in einem Artikel vorhergesagt, dass der Vertrag nicht funktionieren würde. Wie war das damals schon abzusehen?
Im Vertrag wurde z.B. nie erwähnt, wie es mit den Auslandsschulden steht. Man hat sich nur—und das ist eine deutsche Sünde—auf die Staatsschulden konzentriert. Spanien stand exemplarisch da, was die Staatsschulden anbelangte. Aber die haben sich eben zu sehr im Ausland verschuldet. Weiteres Beispiel: Im Vertrag wurde eine No-Bail-out-Clause eingeführt, um eine Marktdisziplin zu erlauben. Damit die Märkte auch auf die Staatsschulden achten. Nur war die von Anfang an nicht glaubwürdig. Deshalb sind die Zinsen in den hochverschuldeten Ländern auf das deutsche Niveau gesunken. Nachdem dort aber die Inflation höher war—und die Inflation muss in den Aufholländern höher sein—waren die realen Zinsen negativ und dadurch war es für die Südstaaten absolut rational, dass sich Staat wie auch der private Sektor verschulden. Wir haben also die Bedingungen geschaffen, damit sich diese Länder verschulden. Betreffs der Staatsverschuldung scheint generell etwas Unklarheit zu herrschen. Wieso verschulden sich Staaten denn? Oder sollten sich Staaten überhaupt verschulden?
Verschuldung kann gut und schlecht sein. Einfach nur die Schulden anzuschauen, bringt einem nichts. Du musst fragen: Warum verschuldet sich der Staat? Was machen wir mit dem Geld? Wenn man, wie in den Südstaaten, eben nicht die Investitionen ankurbelt, sondern das Ganze einfach verfrisst oder verbaut in einer Immobilienblase—ja dann … … noch mal zurück zu den Griechen. Vor wenigen Tagen hat Griechenland eigenmächtig verkündet, noch zwei Jahre Aufschub zu bekommen. Es kamen aber sofort Dementi aus Brüssel und auch keinerlei Kommentar vom IMF. Was geht denn da mental bei denen falsch?
Das Spiel, das da gespielt wird, ist nicht sehr günstig für Europa. Man hat immer wieder klargemacht, dass ein Austritt Griechenlands nicht gewünscht wird. Insofern haben die Griechen ihre europäischen Geldgeber in der Hand. Sie können die Bedingungen diktieren. Die Griechen werden bekommen, was auch immer sie wollen. Wie lange kann sich denn Europa noch auf der Nase rumtanzen lassen?
Ewig. Wir sollten uns überhaupt keine Hoffnungen machen, dass das griechische System geändert werden kann. Denn all diejenigen, die das entscheiden könnten, sind Mitempfänger. Alle profitieren vom System. Der Fall ist hoffnungslos. Diese Ideen, dass wir ihnen Steuereintreiber schicken und auch noch Richter—Entschuldigung, das geht mit souveränen Staaten einfach nicht! Sollte Deutschland härter durchgreifen? Wenn wir schon ständig in der Kritik stehen?
Auf keinen Fall. Wenn Merkel nur den geringsten Ansatz für einen Vorschlag macht, wie ein Referendum in Griechenland abzuhalten, dann kommt sofort ein Aufschrei. Griechenland, wie auch andere Staaten, spielt ein sehr geschicktes politisches Spiel. Denn es geht ja nicht um Deutschland. Es geht um die Geldgeber und das sind die Nordstaaten. Doch es wird immer nur auf die Deutschen verwiesen. Obwohl Deutschland von Anfang an betont hat, dass es in Europa keine Führungsrolle übernehmen will. Deutschland schickt ja auch nur Kommissare, bei denen einer ein größerer Skandal und depperter ist als der andere. Wir senden eben gerne die, die wir loshaben wollen. Doch es zeigt sich als weise, keine Führungsposition zu besetzen, denn sobald Deutschland etwas macht, schreien alle: „Nazi, Nazi, Nazi!“ Diese Rolle will Deutschland natürlich nicht haben. Das wissen Griechenland und Konsorten. Deutschland war generell nicht sehr an einer Währungsunion interessiert. Denn man hatte Bedenken, dass der Club Méditerranée irgendwann zum Problem wird. War eine recht gute Prognose. Was wäre denn dann ein Lösungsansatz?
Kaputtsparen auf keinen Fall. Obwohl viele Deutschen denken, man muss sich zu Tode sparen. Deutschland lehnt sogar eine historisch erwiesenermaßen vernünftige Lösung ab, nämlich eine höhere Inflation. Alle großen Finanzkrisen wurden immer über die Inflation gelöst. Es muss zu einer Finanzrepression kommen. Das heißt, die Zinsen müssen künstlich niedrig gehalten werden und die Inflation angehoben. So bezahlt man die Schulden. Die Inflation müsste, um höchst wirksam zu sein, aus Deutschland kommen. Damit könnte der Konkurrenznachteil der Südländer korrigiert werden. Aber die Deutschen wollen das bislang nicht sehen. Inflation wäre sogar im deutschen Interesse, weil wir dann unseren Exportüberschuss verringern könnten, was langfristig zu unserem nachhaltigen Wachstum beiträgt. Doch das ist natürlich nicht im Interesse der deutschen Exportindustrie. Was wäre denn generell im Interesse Deutschlands? Ein Austritt aus dem Euro wegen einer vielleicht bevorstehenden Fiskalunion?
Ja! Das wäre das Beste. Im Januar halte ich zusammen mit Olaf Henkel eine Pressekonferenz dazu in Brüssel. Einen Hauptgrund haben wir schon angesprochen: Eigentlich müsste Deutschland die Führung übernehmen. Aber das kann und will es nicht. Wir würden aber dennoch zum Zahlmeister werden. Ein geschichtliches Beispiel gegen die Fiskalunion kommt aus Italien: Dort gab es vor dem Euro ein solches System. Der Norden hat massiv Gelder in den Süden investiert, doch es gab nie eine Konvergenz. Die Befürchtung ist also, dass eine europäische Fiskalunion nur das italienische Modell auf Europa übertragen würde. Oder man möchte gleich eine politische Union. Doch ob das geht, ist völlig unklar. Schau nach Spanien. Die Basken wollen raus. Die Katalanen wollen raus. In Belgien eine ähnliche Situation. Wir sind zu unterschiedlich für eine politische Union. Wenn schon die Flamen in Belgien keine Lust mehr haben, für die Wallonen zu bezahlen, warum sollen dann die Belgier und die Deutschen Lust haben, für die Griechen zu bezahlen? Das ist eine simple politische Realität. Für mich ist es sogar so, dass durch diese Uneinigkeit, die eben durch die Währungsunion ersichtlich wird, die europäische Idee von Frieden auf dem Spiel steht. Ein gemeinsamer Markt, der Austausch von Gütern, kann reichen, um den Frieden zu wahren. Wie wird sich die Krise wahrscheinlich auf die EU auswirken?
Gehen wir zehn Jahre in die Zukunft: Wenn Länder wie Griechenland es bis dahin nicht geschafft haben, wieder nach oben zu kommen, dann wird auch Europa dafür verantwortlich gemacht werden. Aber die Einsicht scheint bei den Verantwortlichen noch nicht durchgesickert zu sein. Ich komme gerade von einer Konferenz aus Bukarest. Da war ein Vertreter der EU, der meinte, Rumänien sei bereit für den Euro. Haben wir denn jetzt gar nichts gelernt? Niemand wird den Mut haben, die Eurozone aufzulösen. Aber zumindest sollten wir es so weit verstanden haben, nicht noch weitere Griechenlands aufzunehmen. Eines war schon zu viel. Wir scheinen sowieso wenig von der Krise mitzubekommen oder zu verstehen. Als Allheilmittel wird in den Industrienationen vermehrt ein Ende des Wachstumsgedankens gefordert. Wie ist das im Zuge der Globalisierung einzuordnen?
Das ist sehr gefährlich. Ich glaube, die Leute werden erst dann wieder klar sehen, wenn die Chinesen europäische Gucci-Läden leerkaufen. Wir befinden uns an einem Punkt des Erfolges, an dem wir mehr Energie darauf verwenden, den erworbenen Besitz zu sichern. Aber wir haben—trotz unseres globalen Rufes—eine wachsende Armutsklasse in Deutschland, was das Resultat einer völlig falschen Bildungspolitik ist. Wir müssen die Menschen so gut ausbilden, dass sie arbeiten können. Und um Arbeit zu schaffen, braucht es Wachstum, und um Bildung zu finanzieren, braucht es Wachstum. Wenn wir kein Wachstum mehr haben, wird Deutschland das vehement zu spüren bekommen, denn wir haben eine alternde Gesellschaft. Die muss finanziert werden. Wenn wir unseren Wohlstand halten wollen, dann ist die Diskussion um das Ende des Wachstums mehr als kurzsichtig. Es wirkt doch immer sehr nach einer verwöhnten Gesellschaft, die sich am materiellen Höhepunkt wieder mehr Einfachheit wünscht. Am Ende kaufen uns halt dann die Chinesen auf.
Ja. Die Chinesen haben nämlich zu viel Geld. Was sollen sie auch mit 3.000 Milliarden Dollar Reserve machen? Ein Unternehmen wie Volkswagen hat z.B. einen Marktwert von 40 Milliarden Dollar. Die Chinesen haben also die Mittel. Doch warum sollten sie es machen? Bei ihrer rasanten Entwicklung werden sie uns, was Technologie und ähnliches betrifft, in 20 Jahren überholt haben. Autos und alles andere können sie dann selbst bauen. Nur den Brand Value werden sie nicht selbst aufbauen können. Ein Porsche ist eben ein Porsche. Doch die Marke können sie sich leicht kaufen. VOLVO gehört schon Chinesen. Das heißt, wenn wir wirklich kein Wachstum mehr wollen, dann müssen wir auch damit einverstanden sein, dass Europa mit seiner ganzen Kultur Chinas Disneyland wird. Ein riesiger begehbarer Freizeitpark.

Fotos: Jake Lewis

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