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Verdient die EU wirklich keinen Preis für den Frieden?

Bevor man die Osloer Entscheidung mit Spott und Häme überzieht, sollte man sich die beschissenen Alternativen zur Europäischen Union überlegen.

Als ob die Euro-Krise nicht schon genug Angriffsfläche für EU-Skeptiker und Europa-Hasser von rechts und links bietet, verleiht das Friedensnobelpreiskomitee nichtsdestotrotz der EU den berühmtesten Preis der Welt. Oslo gießt damit weiteres Öl ins lodernde Feuer, das sich momentan zum Brand über ganz Europa auszubreiten droht. Es entfacht sowohl die Leuchtfackeln griechischer Chrysi-Avgi-Horden als auch die Hakenkreuzfahnen, die zuletzt beim Merkel-Besuch in Athen brannten. Hämisch könnte man angesichts solcher Bilder behaupten, dass die EU den Preis nicht erhalten solle, da er posthum nicht verliehen wird. Das wäre nicht gerecht.
 
Jan Fleischhauer, jener Spiegel-Kolumnist, der sich mit großem Gestus selbst zum Konservativen ernannt hat, um sich von seiner sozialdemokratischen Mutter zu lösen, schrieb zuletzt in gewohnt schmissiger Spiegel-Schreibe, dass es „immer auch eine sehr deutsche Erwartung“ gewesen sei, dass in einem geeinten Europa „die nationalen Interessen in den Hintergrund treten und schließlich ganz an Bedeutung verlieren“. Man erkenne in dieser Hoffnung das Erbe der politischen Romantik. Die Ironie liegt für Fleischhauer darin, dass diese Erwartung in der Euro-Krise genau das Gegenteil bewirke, indem sie die Möglichkeit verringert, friedlich mit den Nachbarn zusammenzuleben.
 
Anders als einst die Sehnsucht nach einem Führer, der an der Spitze eines ethnisch geeinten Volkes steht, ist der Wunsch nach einem geeinten Europa aber in keiner Weise eine geistige Ausgeburt deutscher politischer Romantik. Vielmehr ist er aus einer strategischen Notlage durch einen der wohl klügsten strategischen Köpfe des letzen Jahrhunderts formuliert worden. Bereits 1940, lange vor der deutsch-französischen Aussöhnung, schlug Winston Churchill den Franzosen die Bildung einer Union vor, die sowohl einen gemeinsamen Staatshaushalt als auch Institutionen für Verteidigung und Außenpolitik vorsah. Der Begriff von den „Vereinigten Staaten von Europa“, den Churchill in seiner Züricher Rede 1946 in die Arena des politischen Tagesgeschehens entließ, wurzelt also tief im Kampf gegen Nazi-Deutschland.
 
Dass Churchills in der Rede geforderte „Struktur“, unter der die „europäische Völkerfamilie“ „in Frieden, Sicherheit und Freiheit“ leben kann, in den Folgejahren in die Realität umgesetzt wurde und seit 60 Jahren besteht, ist, auch wenn man es nicht mehr hören mag, für die Geschichte Europas ein absolutes Novum. Von konservativer Seite wird an der Preisverleihung vor allem moniert, dass die EU lediglich im Schatten der Hegemonie eines souveränen Nationalstaats prosperieren konnte. Schließlich hätten die vom Mars kommenden USA mit der von ihr geführten NATO und dem Marschallplan Aufbauarbeit geleistet, ohne die das „idealistische“ Projekt EU auf der Venus nicht möglich gewesen wäre. Abgesehen davon, dass das Europa aus der Zeit Churchills selber „vom Mars kommt“ und darum „die Venus verteidigen“ muss, wie Alan Posener von der WELT mit gewohntem Scharfsinn bemerkt, haben George C. Marshall als Begründer und Namensgeber des Marshallplans, Henry Kissinger, verschiedene Vertreter der UNO und die UNO selber in der Vergangenheit den Preis überreicht bekommen. Keiner der Gründungsväter und -mütter der EU noch die politischen Konstrukteure der europäischen Einigung nach 1989 wurden gewürdigt. Von der anderen Seite des politischen Spektrums üben sich Bescheidwisser natürlich in dem, was sie am besten können: die Heuchelei und Selbstbezogenheit, die einem politischen Projekt vermeintlich anhaften, herauszutrompeten. Trotz europäischer Integration konnten z.B. Nordirland- und Zypernkonflikt und vor allem die Balkankriege nicht verhindert werden. Ungefähr acht Autostunden von Wien entfernt ereignete sich 1995 an der Peripherie der EU der Genozid an den bosnischen Muslimen von Srebrenica. Der Ort war eine bosniakische Enklave, die zur UN-Schutzzone erklärt wurde. Die niederländischen UN-Soldaten, die dem Morden durch ihr Nichtstun beistanden, wurden zum Symbol einer post-heroischen Ära, in der in kriegerischen Konflikten auf militärische Heldentaten verzichtet werden sollte. Ein dunkles Kapitel friedensmissionarischer Absichten. Aber verdient die EU deshalb keinen Preis für den Frieden? Die Balkankriege der 90er Jahre stehen im Grunde für die Vollendung eines nationalistischen Projekts. Gewissermaßen hat der Dichter Radovan Karadžić als bosnischer Serbenführer als letzter versucht, das pervertierte Verlangen nach einem ethnisch homogen geordneten Flächenstaat zu realisieren, das die Lyriker der politischen Romantik im 19. Jahrhunderts kreiert haben. Die EU und ihre Vorgängerinstitutionen haben die Trennlinien zwischen diesen Entitäten zunehmend aufgeweicht. Mit der militärischen Lösung der Kriege im früheren Jugoslawien war sie größtenteils überfordert. Mit der anschließenden Befriedung ihrer Ränder ist sie es nicht.
 
Wenn Bundestagspräsident und Gernegroß Norbert Lammert am Samstag im Zuge der Preisverleihung verkündet, dass die EU wegen der Währungskrise auf lange Sicht nicht erweiterungsfähig ist, beraubt er die EU gerade jener Waffe, die für die Stabilisierung des Balkans und anderer angrenzender Regionen unabdingbar ist. Die Folgen konnte man zuletzt in Serbien beobachten. Nachdem vor allem die Bundesregierung zu zögerlich mit der Verleihung des Kandidatenstatus umgegangen ist, fiel sie dem politisch klugen europhilen Präsidenten Tadić in den Rücken und ebnete den Weg für die Wahl des ehemaligen Vizeministerpräsidenten Slobodan Miloševićs, Tomislav Nikolić. Der Beitrittsanreiz hat einen beträchtlichen Teil dazu beigetragen, die faschistoiden Diktaturen in Portugal, Spanien und Griechenland zu zersetzen. Er hat einen beispiellosen Reformwillen im postsozialistischen Europa ausgelöst, das selbst in Republiken der ehemaligen Sowjetunion muffige autoritäre Strukturen weitestgehend zu Staub zerfielen. Seine Strahlkraft wird auch die monetäre Krise überleben. Nun gibt es tatsächlich nicht wenige Kritiker, die das Imperium EU wegen seiner „Totalität“ angreifen. Imperial, weil es außerhalb seiner Grenzen Normen und Werte vorschreibt und forciert, die selber von einigen Mitgliedsstaaten nicht eingehalten werden. Dieser Beobachtung kann man nicht widersprechen. Aber wer das nicht als geschickte, ergebnisorientierte Außen-, Macht- und Sicherheitspolitik versteht, hat von allen drei wenig Ahnung. Bevor man also die Osloer Entscheidung mit Spott und Häme überzieht, indem man umgehend die Mängel der Brüsseler Institutionen vom Euro bis zu Frontex herunterpredigt, sollte man sich im Klaren sein, dass man der europapolitischen Realität ein schwer erreichbares Maximum entgegenstellt. Wer auf der anderen Seite das politische Optimum nicht anerkennt, das viele Europapolitiker in den letzten 60 Jahren in ihrer politischen Arbeit erreichen konnten, und die Etablierung dieses Europas mit dem Beginn einer Verfallsgeschichte nationaler Größe gleichsetzt, kann sich dieser Tage zu den Verlierern der Geschichte zählen.