FYI.

This story is over 5 years old.

News

Werden die 529 Todesurteile die Gewalt in Ägypten weiter eskalieren lassen?

Obwohl viele der Verurteilten noch immer ihre Unschuld beteuern, brauchten die Behörden nur zwei Tage, um über 500 Schuldige für den Mord an einem Mann zu finden.

Am Montag verurteilte ein ägyptisches Gericht 529 mutmaßliche Unterstützer der Muslimbruderschaft zum Tode. Laut Amnesty International gab es in jüngster Geschichte nichts Vergleichbares. Den Verurteilten wird vorgeworfen, im vergangenen Jahr eine Polizeiwache in Minya, etwas südlich von Kairo, angegriffen zu haben. Beim Versuch, Waffen zu entwenden, töteten sie einen Polizisten und versuchten, zwei weitere umzubringen. Obwohl viele der Verurteilten noch immer ihre Unschuld beteuern, brauchten die Behörden nur zwei Tage, um über 500 Schuldige für den Mord an einem Mann zu finden. Dies alles steht in starkem Widerspruch zu dem Fakt, dass auch drei Jahre, nachdem die Aufstände in Ägypten begannen, kein einziger Polizist für die Tötung von Demonstranten zur Rechenschaft gezogen wurde, und das, obwohl Hunderte durch die Sicherheitskräfte ums Leben gekommen sind. Der Prozess begann am Samstag und endete am Montag. Normale Gesetzmäßigkeiten eines solchen Prozesses wurden weitestgehend ignoriert. Die Anwälte der Verteidigung gaben an, dass sie weder Zeit hatten, die 3000 Seiten der Anklageschrift zu lesen, noch die Zeugen der Anklage zu vernehmen. Bevor der Richter die Todesurteile verkündete, war kein einziger Zeuge im Kreuzverhör vernommen worden, und die Verteidiger waren des Gerichtssaals verwiesen worden. „Das ist der Zusammenbruch des Justizsystems in Ägypten“, sagt Ali Kamal, einer der Verteidiger. Der Vorfall, an dem die Angeklagten laut Gericht teilgenommen haben sollen, war nur einer von vielen gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Muslimbruderschaft, nachdem bei der gewaltsamen Auflösung einer Sitzblockade in Kairo 900 Anhänger der Bruderschaft, die gegen ihren Ausschluss aus der Regierung im Monat zuvor protestiert hatten, ums Leben gekommen sind. Das Urteil ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Machthaber in Ägypten keinerlei Intention haben, die Unterstützer der Bruderschaft, von denen sich knapp 16.000 noch immer in Haft befinden, nachdem der ehemalige Präsident und Anhänger der Bruderschaft Mohammed Mursi vergangenen Juli entmachtet wurde, zu besänftigen.   Es bleibt zu hoffen, dass ein gnädigerer Richter die Verurteilung aufhebt oder das Strafmaß zumindest senkt. Aber bis dahin droht den Verurteilten ihre Exekution.

Eine ausgebrannte Kirche in Minya, die in derselben Welle der Gewalt zerstört wurde, die auch zum Tod des Polizisten geführt hat.

Am Montag sprach ich mit einem der zum Tode Verurteilten sowie fünf Familienmitgliedern der Verurteilten. Alle gaben an, dass keiner schuldig sei, was jedoch in Frage gestellt werden muss, denn schließlich kam jemand zu Tode. Dennoch wird es wohl keine 500 Männer brauchen, um einen Polizisten zu töten. Einer gab an, dass sein Bruder, der in Abwesenheit zu Tode verurteilt worden ist, behindert und physisch gar nicht in der Lage sei, einen Polizisten anzugreifen. Ein weiterer Verurteilter, ein Medizinstudent, der sich im Haus eines Freundes versteckt, gab an, dass er Hunderte Kilometer entfernt war, als die Polizeiwache angegriffen wurde. Weitaus mehr als 400 Beschuldigte befinden sich nicht in Haft. Ezzat Mohamed, der sich derzeit in einem Versteck außerhalb seiner Heimatstadt Minya befindet, ist einer von ihnen. Seine Frau Nihad beschwört seine Unschuld und bezeichnet das Urteil als eine Katastrophe. Ihre 17 Jahre alte Tochter Nada sprach mit mir am Telefon. „Es ist ein schreckliches Gefühl, jemanden aus deiner Familie zu verlieren“, erzählte sie mir. „Mein Vater ist ein gütiger und respektabler Mensch.“ Sie machte eine Pause, bevor sie ins Arabische wechselte und flüsterte: „Nieder mit der Militärregierung.“ Das schiere Ausmaß der Urteile und die grotesken Vorgänge um sie herum werden nichts anderes hervorrufen, als die Kluft zwischen den Unterstützern Mursis und denen der vom Militär eingesetzten Regierung, die am Montag überraschend zurücktrat, zu vertiefen. Haithem Zeidan, ein Anwalt aus Kario, der sich selbst als „Pro-Militär“ beschreibt, erzählte mir, dass das Urteil nicht rechtskräftig ist und womöglich gekippt werden könnte, er persönlich es aber begrüßt. Wie Millionen anderer Ägypter ist er der Ansicht, dass die Bruderschaft eine terroristische Vereinigung ist.   „Dieses Urteil hält diese terroristische Bewegung davon ab, in Zukunft ähnliche Dinge zu tun“, sagte Zeidan. Wie so viele ist auch er der Ansicht, dass Repression ein effektives Mittel gegen die islamische Opposition darstellt. Abgesehen von der Bruderschaft gibt es nun jedoch auch Gruppen Militanter, die einzelne Polizisten an Checkpoints erschießen. Und einige junge Mitglieder der Bruderschaft sind langsam, aber sicher der Meinung, dass „nichts außer einer Kugel“ die einzige Antwort gegen die Gewalt des Staates darstellt.

Heute schreibt der Standard, dass sich mittlerweile 919 Anhänger der Muslimbrüderschaft in Massenprozessen für Mord und Terrorismus vor dem Gericht Minja verantworten müssen.