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Occupy London—Die Leute wissen ungefähr, was sie wollen

Auch die Hippies in London haben die letzten Nächte auf der Straße verbracht, um vor der Polizei Marihuana zu rauchen.

Nach dem Erfolg der Occupy Wall Street Bewegung in New York, machten sich Demonstranten am vergangenen Samstag auch in anderen Städten der Welt auf, um öffentliche Plätze zu besetzen, dort zu singen und Zirkustricks aufzuführen.

Am Mittag erlebte auch London seine ganz eigene Occupy-Bewegung. Anfangs gab es ein paar Raufereien, als es den Besetzern nicht gelang, das Stück Land zu besetzen, das sie eigentlich besetzen wollten. Das lag daran, dass der Paternoster Square ein Privatgrundstück ist und der kleinliche Griesgram von einem Kapitalisten, dem der Platz gehört, die Anwesenheit der Demonstranten vom obersten Gericht verbieten ließ. Aber auch die ganzen Polizisten fanden die Idee nicht so toll.

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Als sich dann endlich alle auf dem deutlich gastfreundlicheren und öffentlichen Platz auf dem St. Paul's Square eingefunden hatten, ging es sofort los mit einer Reihe endloser Reden über „das System“, den „Geiz der Unternehmen“ und der baldigen Aufstellung von „Sanitäranlagen“. Jede Zeile wurde von der Menge wie bei einer politischen stillen Post wiederholt, so dass auch die Leute in der letzten Reihe alles hörten. Harry Cheadle hat in seinem Artikel über die Besetzung der Wall Street bereits auf diese Technik hingewiesen, die gleichermaßen intelligent und irritierend ist.

Es waren die üblichen Verdächtigen vor Ort. Filmfans …

… Repräsentanten aus der Skateszene Londons …

… homosexuelle Hausfrauen …

… Lynn aus der Serie Alan Partridge …

… Braut und Bräutigam, deren Auto ausgebuht wurde, weil alle glaubten, sie seien Banker, die sich einfach nur aus Spaß als Hochzeitspaar verkleidet hatten …

… Richard E. Grant …

… Jesus …

… und Gott.

Kurz nach 14 Uhr tauchte Julian Assange auf. Er hielt eine stürmische Rede, in der er alles wiederholte, was die Leute bereits gesagt hatten, und nannte erneut alle, die etwas mit Medien zu tun haben, Kriegsverbrecher. Dann ging er. Danke, dass du dir so viel Mühe gegebenen hast, Juley Baby.

Zu dieser Zeit bildete die Polizei eine Menschenkette um den Platz herum, die den gesamten Verkehr zum Erliegen brachte und mehrere gelangweilt aussehende Busfahrer stranden ließ. Einige Leute fingen an, Fußball zu spielen, was aber nur die Busfahrer ziemlich nervte. Der Rest genoß die allgemeine Aufmerksamkeit, die ihnen durch das krasse Ungleichgewicht von Journalisten zu Demonstranten zu Teil wurde. Die Atmosphäre war genau wie die Sonne, warm und durchaus angenehm. Einige Zelte wurden aufgestellt.

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Am Samstagnachmittag brach schließlich die Dämmerung herein, die Polizeikette wurde verengt, damit der Verkehr wieder frei fließen konnte, was die ganze Sache für klaustrophobische Menschen etwas schwierig machte. Gerüchte machten die Runde, dass ein dicker Mann verhaftet worden sei, und ein paar Dixiklos wurden angeliefert. Die Toiletten wurden sofort in Beschlag genommen und die Menge dünnte sich ein wenig aus. Alle sahen auf ihre iPhones und stellten fest, dass der Protest in der restlichen Welt (oder die Fußballergebnisse) viel spannender waren, als das, was sie hier machten. Es war wohl an der Zeit, endlich nach Hause gehen und den Fernseher anzuschalten.

Gerade als die Stimmung ein wenig am Kippen war, fingen ein paar Jongleure an, eine große Gruppe direkt vor der Lücke in der Polizeikette, mit Trommeln zum Tanzen zu animieren. Der erste Tag wurde schließlich als „Erfolg“ verbucht.

Am Montag ging ich dann noch einmal zum St. Paul's Square, um mir anzusehen, wie sich die Dinge entwickelt hatten (ohne Kamera—alle Fotos hier wurden von Henry am Sonntag geschossen). Ein stechender Uringeruch lag in der Luft, aber das kann auch einfach nur daran gelegen haben, dass es schließlich immer noch London ist. Ich sprach mit ein paar Leuten um zu sehen, wie es lief.

Eine junge Frau mit dem Namen „Anonymous“ und einer Guy Fawkes Maske erklärte: „Wir protestieren friedlich und verteilen gratis Umarmungen … wir wollen etwas anderes machen, denn Gewalt wird dich keinen Schritt weiter bringen.“ Sie behauptete, ein Mitglied von Anonymous zu sein und dort zu sein, um so aufrichtige und sinnvolle Dinge zu fordern wie: „Senkt die Zinsen, so dass wir uns ein Dach über dem Kopf leisten können.“ Allerdings stach sie bald darauf eine ganze Batterie von bodenlosen und wurmstichigen Fässern an, als sie sagte, dass „wir alle verschiedene Religionen mit unterschiedlichen Rechten haben“ und feststellte, dass „Sikhs das Recht haben Turbane und Schwerter zu tragen.“ Als ich darauf drängte, diesen Kommentar erklärt zu bekommen, sagte sie, dass Anonymous hoffe, „eine Religion zu werden“. Dabei beließ ich es.

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Ich fragte mich, ob sich Leute aus dem Camp irgendwann in Richtung Arbeit verdrücken würden. Aber diese Befürchtung wurde schnell zerstreut, als ich Will und Jim traf, deren Band Will and the People später am Abend auf dem Platz auftreten würden. „Wir sind hier, um Liebe und Musik zu verbreiten“, sagte Will. „Wir haben unser ganzes Equipment und unsere Ausrüstung hier, um nachher loszulegen. Wir sind hier direkt vor allen Leuten und der Polizei angekommen und sie haben uns sogar geholfen unsere Sachen zu tragen. Wir haben ihnen erzählt, dass wir heute Nacht Ska und Reggae spielen wollen und sie schienen das gut zu finden.“ Wir haben leider keine Fotos von Will gemacht, aber hier sind ein paar Pressefotos, damit ihr nicht anfangt zu heulen.

Will war natürlich stoned. Ich fragte ihn, ob er keinen Ärger für das Rauchen von Gras in der Öffentlichkeit bekommen würde. „Nein, überhaupt nicht. Es ist hier alles sehr entspannt.“ So entspannt, dass selbst die Polizei raucht? „Nein. Das wäre super, aber leider nicht.“ Am Ende fragte ich Will und Jim noch, was sie sich davon erhofften, hier draußen zu zelten. Will antwortete, indem er einen seiner Freunde zitierte. „Ich glaube, unser Freund Caz hat es gut ausgedrückt: ‚An alle, lasst uns einfach hier sitzen und drauf warten, dass nichts passiert, bis irgendwann doch etwas passiert.’ Das ist der Vibe der Verlierer. ‚Jedes bisschen hilft.’ Auch steter Tropfen höhlt wohl den Stein oder so."

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Will und Jim stellten uns Caz vor, einen Zauberer, der am Imbissstand mithalf. Auf dem Weg dahin diskutierten wir über einen Mann in Anzug, der laut über Unternehmen redete, die ‚zu groß sind, um unterzugehen’. „Er ist einer der leidenschaftlichsten Menschen, die ich gesehen haben“, sagte Jim. „Das ist das Interessante daran“, ergänzte Will. „Es sind mehr als nur Aktivisten und Hippies hier, sogar Leute mit Jobs in der Stadt sagen Sachen wie ‚Wir sind Sklaven!’ Ich dachte, es gebe keine Sklaverei mehr, aber in Wirklichkeit sind wir … ups.“ Sein Enthusiasmus brach abrupt ab und es kam nichts mehr aus ihm heraus. Aber das war OK, denn wir waren bei Caz angekommen, der sehr gerne mit uns sprach. „Was ich damit zu tun habe? Ich mache überall mit, was um mich herum so abgeht. Ich helfe beim Kochen, beim Reden mit der Polizei, ich mache Interviews. Wir schneien überall rein, natürlich behutsam. Denn wir wissen, dass es nicht um einen selbst geht, sondern um den Umgang mit den Umständen. Die Leute lieben das.“

Ich hörte, dass die Ziele der Protestierenden sehr unterschiedlich waren, also fragte ich Caz, was all die Leute von Occupy London vereint. „Na ja, alles was mit den Spekulanten zusammenhängt: Krieg, die Wirtschaftkrise, Schulden, Pleiten und was man so alles hört … Alle sind hier wegen der Börse. Wir wissen nicht genau, was dort passiert. Keiner weiß es, aber es werden irgendwelche Aktien gehandelt, also es werden Dinge gegen andere Dinge getauscht … Also Rohstoffe, einige Länder kaufen, andere verkaufen, persönliche Interessen und solche Dinge.“

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„Wir sind hier, damit sich etwas ändert und ich denke, dass jede Veränderung eine große Chance ist. Etwas wie ein Aufbruch zur ‚Freiheit’. Der Zusammenbruch der Wirtschaft und des Geldes, Chaos; der Weg aus dem Chaos.“

OK.

„Wir arbeiten noch daran, wie dieser Umbruch vollzogen werden soll, es wird noch eine Weile dauern. Es ist eine große Sache. Wir werden den Wandel herbeiführen, weil wir klug sind.“ Wie macht ein Zauberer das? „Mein Job ist es, die Leute glücklich zu machen. In der Show gestern habe ich Geld aus dem Nichts geschaffen und es dann wieder verschwinden lassen. Ich habe gezeigt, was die im großen Stil machen. Was die Zentralbanken im großen Stil machen.“

Ganz ehrlich, Caz war ein liebenswerter Kerl und er war offensichtlich sehr leidenschaftlich, gleichzeitig war er ein guter Koch. Aber sein Rezept für die Weltwirtschaft erschien ein wenig unausgereift. Ich dachte mir, dass ich noch ein paar andere Meinungen darüber hören wollte. Alles was du in den Nachrichten hörst, ist Protest hier, Aktivisten da. Aber was war mit den Bankern? Wann bekamen die mal die Chance, ein Wörtchen mitzureden?

Ich schnappte mir den erst besten Banker, den ich finden konnte. Sein Name war Paul. Paul arbeitet „in der Stadt, in einer Bank“ und muss doch etwas zu sagen haben über die übel riechenden Demonstranten, die vor seinem Arbeitsplatz zelten.

„Ich habe kein Problem damit“, sagt er. „Ich finde es gut, dass sie nicht gewalttätig sind, die Botschaft ist viel effektiver, wenn man nicht gewalttätig ist. Ob ich eine Meinung zum Thema der Proteste habe? Wogegen protestieren sie denn?“

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Ungleichheit, Bonuszahlungen an die Banker, Rettungspakete, die nur den privaten Profiten dienen und nicht der allgemeinen Wirtschaft und so weiter …

„Na ja, ich finde, die Erhöhung der Reichensteuer um 20 Prozent war eine gute Idee. Das Problem ist, dass reiche Leute dazu tendieren, reich zu bleiben. Das bringt die Sache so mit sich, oder?“

Es schien, als ob Paul hier einen wichtigen Punkt getroffen hatte. Ein Punkt, der den Besetzern bisher nicht aufgefallen ist, oder der sie so deprimierte, dass sie ihn nicht erwähnten. Denn nur weil wir mittlerweile erkannt haben, wer in der Dusche hinter uns steht und uns an die Wand drückt, haben wir trotzdem noch keine Ahnung, wie wir da heraus kommen sollen. Denk dir dazu noch ein breites, öffentliches Desinteresse („Ich denke dabei ’Wer soll das hier aufräumen?’“, erklärt uns ein Straßenarbeiter in der Nähe, als wir versucht haben, ihn in ein politischen Gespräch zu verwickeln) und du bekommst eine schräge Mischung aus Optimismus, Kleingeistigkeit und Niederlage in einem.

Doch wie bei jedem Trip ist es das Beste, ihn bis zu seinem Ende zu erleben und nicht mittendrin aufzuhören. Einige sehen unvermeidlich das Ende des Kapitalismus vor uns auftauchen; einige halten das alles, genauso zwangsläufig, für genauso nützlich wie einen Haufen Mist. Da sind zur Zeit eine Menge aufgeregter Hippies auf dem Platz bei St. Paul's und nur sie werden wirklich wissen, ob der Polizist nicht vielleicht doch Recht hatte, als er mir vorher sagte: „Ohne die Presse und uns Polizisten hätte es vielleicht fünf Leute interessiert.“

Fotos von Henry Langston

Das war an diesem Tag an anderen Orten dieser Welt so los:

Occupy Wall Street

Occupy Berlin