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DIE LITERATURAUSGABE 2012

Oversoul

Schon einmal einen Knast von innen gesehen? Mitchell S. Jackson gewährt euch einen literarischen Einblick.

Fotos von Amy Elkins


Porträt eines Mannes, der bisher 13 Jahre im Gefängnis gesessen hat, wobei das Verhältnis zwischen der Anzahl der Jahre, die er im Gefängnis verbracht hat, zur Anzahl seiner Lebensjahre den Grad der Auflösung seines Bildes bestimmt.

1.

Die Abendglocke ertönt und wir lassen das Masseleisen und die Pooltische stehen und laufen stattdessen ein paar Runden auf der Bahn, um den Hof zu testen. Da heute wieder so ein öder Sommertag ist, an dem sich nicht die Frage stellt, ob es regnet, sondern nur wann, ist der Platz ziemlich leer. Nur die Hartgesottenen treiben sich draußen herum und verbreiten eine Hintergrundmusik von Grunzlauten und Geschrei, während ein paar Jungs, die sich nichts sehnlicher wünschen als einen ordentlichen Pulli, zu acht auf dem Kiesasphalt, den sie Hof schimpfen, Basketball spielen. „Glück“, sagt er. „So wird das also genannt?“, frage ich. „Nein“, sagt er, „so wird es nicht nur genannt, das ist es.“ „Für dich vielleicht“, sage ich. „Für mich, für mich und für mich“, sagt er. „Der ich noch nie Glück gehabt habe. Reicht dir das?“ Meinen Zellennachbarn haben sie zu lebenslänglich verknackt und sein halbes Leben war ein Haufen Mist, und meistens—vor allem an den Tagen, wo er gerade den letzten Tropfen seines weltberühmten selbst vergorenen Weins verdrückt hat—ist es keine gute Idee, ihm zu sagen, dass er kein Nietzsche, Heidegger oder Harold Bloom ist. (Typisch, dass ich immer an die Hobbyphilosophen gerate.) Man sollte ihm lieber nicht auf die Füße treten; er ist nämlich gebaut wie ein Steroid-Roboter, hat Fäuste wie Abrissbirnen und eine Träne unters Auge tätowiert (aus einer Zeit, als ich noch in den Windeln lag), und wenn er den Mund aufmacht, dann hören Idioten wie ich ihm zu. „Aber ohne Scheiß, Kiddo. Nicht viele halten bis zum Ende durch, aber wer es schafft, der lässt den Knast für immer hinter sich. Ich habe zwar keine Ahnung, wie er das macht“, sagt er, „aber es heißt, er würde viel reden und aufschreiben. Jedenfalls scheint es zu funktionieren. An deiner Stelle würde ich also …“ Er hält inne, als ein fetter Wärter zu uns rübergeschlendert kommt und sich in Gestapo-Manier neben unserer Zelle aufbaut. „Nichts gegen deine Gesellschaft, aber wenn sie dir die Möglichkeit geben, deinen Aufenthalt hier zu verkürzen, würde ich dir raten sofort zuzugreifen. Für einen Langzeitknacki fehlt dir die Konstitution.“ Mein Robocop-Zellenkumpel gibt mir einen freundlichen Klaps auf die Schulter, und an der Prellung habe ich noch zwei Wochen später meine Freude. Als der Schmerz langsam nachlässt und die Sirene das Ende des Hofgangs verkündet, machen die Gewichtheber ein elendes Getöse beim Zurücklegen der Geräte.

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2.

Cap kommt vornehm in den Raum geschritten und alles erstarrt, die sichelförmigen Reihen von Metallklappstühlen und wir, eine Handvoll Leute mit Augen wie Untertassen und schmalen Lippen, als hätte man sie zugenäht. Er setzt sich neben die tragbare Tafel, holt einen Stapel Bücher und Unterlagen aus seiner Tasche und blättert sie durch, ohne ein Wort und ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann erhebt er sich schwerfällig, sortiert seine wohl versteinerten Knochen, räuspert sich träge und sieht jedem von uns ins Gesicht. Nach einem gefühlten Lichtjahr sagt er endlich: „Meine Freunde, die Welt ist nicht geschaffen für Leute wie uns. Aber umso mehr haben wir einen Grund, das Beste daraus zu machen.“ Seine Stimme ist tief, metallisch und streng, und sein Bariton klingt so rau, als hätte er Spikes verschluckt. „Und wenn ihr das nicht wollt“, sagt Cap, „solltet ihr gleich wieder gehen. Dieses Programm ist nichts für Schisser.“ Lohnend zu erwähnen, dass keiner geht und eine ehrfürchtige Stille herrscht. Und das ist wohl der Grund: Abgesehen davon, dass wir so gerne aufeinander hocken, sind einige von uns hier, weil wir die Legenden gehört haben. Und die besagen, dass dieser Mann—Brille oder nicht—spielend unsere löchrigen Schutzschirme durchbrechen, zu unserem wohlbehüteten Schatzkästchen durchdringen und hineinsehen kann. Und dann sagt er einem nicht nur, dass er es entdeckt hat, sondern auch—und zwar ohne viel Getue—wie man genau das rausholt, was man braucht, und für die meisten von uns, zumindest für diejenigen, die ein bisschen Grips im Kopf haben, ist das eine Fahrkarte nach draußen, die bis in alle Ewigkeit gültig bleibt. Bei den ganzen Geschichten, die ich gehört hatte, habe ich automatisch einen leibhaftigen Riesen erwartet. Aber in Wahrheit ist der Mann alles andere als kräftig gebaut. Ehrlich gesagt ist er überhaupt nicht imposant, und war es vermutlich auch nicht, als man anfing, ihn Captain oder Cap zu nennen, beim größten Fall, den der Staat je gesehen hat, damals in seiner Sturm- und Drangzeit, als sein Marktwert höher war als der einer Erste-Klasse-Aktie. Nein, er kann höchstens mittelgroß gewesen sein in der Zeit, als er mit seinen Zaubersprüchen Erfolg hatte. Und siehe da, Millenium-Cap ist ein Weltergewicht geworden, gebeugt, sodass er etwa drei Zentimeter von seiner eigentlichen Größe eingebüßt hat, mit papierweißem, länglichem, zurückgekämmtem Haar und einem Gesicht, in das die Jahre ein aufwendiges Furchenmuster gemeißelt haben. Aber wisst ihr was? Seine wettergegerbte Visage ist eine Sache, aber seine Klamotten erzählen eine ganz andere Geschichte. Gebügeltes beiges Hemd, bis oben zugeknöpft, Soldaten-grüne Cargohose, die aussieht, als wär sie halb so alt wie die Hälfte meiner Bekannten, und Stiefel, die so eng geschnürt sind, dass sie jedem anderen Bruder den Fuß abschnüren würden. Er schleicht die Reihen entlang, begrüßt die Jungs mit Faustdruck und fragt nach ihren Namen, und man braucht keine 3D-Brille, um zu sehen, was für einen Respekt er ihnen einflößt. Von den Losern mit Tattoos auf Hals und Knöcheln und zentimetertiefen Scharten im Gesicht bis zum muskulösen Boss der Knast-Mafia verzichten wir alle auf den Hofgang, um hier zu sein. Es ist mir schleierhaft, warum ich—als er endlich bei mir ankommt—ihm den Namen nenne, den keiner, aber auch gar keiner jemals aus meinem Mund hört, außer ich stehe unter Eid. Und nicht nur das, ich will auch, dass er meine Stärke, meinen Glauben, meine Entschlossenheit und das feierliche Versprechen spürt, die in meinem vorhängeverschlossenen Schatzkästchen deponiert sind, und er scheint mir mit seinem Händedruck auch etwas sagen zu wollen, denn er macht keine Anstalten, mich in nächster Zeit wieder loszulassen. „Du! Du!“, sagt er. „Meinst du es ernst oder verschwendest du nur meine Zeit?“ Sagt es und bleibt stocksteif vor mir stehen, nicht groß von Statur, aber überlebensgroß im Geist. Seine Augen durchbohren mich mit der Kraft, meine größte Angst auszulöschen, aber auch meinen liebsten Traum zu zerschlagen, und deshalb fühle ich, wie plötzlich eine Rockband in meiner Brust zu spielen beginnt und meine Achselhöhlen Überschwemmungen produzieren, und aus mir völlig unerfindlichen Gründen verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, mein ganzes Leben vor ihm auszubreiten. Dass es eine Sache ist, ein Ex-Häftling zu sein, aber eine ganz andere, sich verurteilt zu fühlen. Dass ich mich mit jeder Arbeitseinheit hier mehr zu Hause fühle. Dass ich oft tagelang um mich herum nur Sinnbilder dessen sehe, was aus mir hätte werden können. Außerdem ist da die knallharte Wahrheit, die man entweder verdrängt oder akzeptiert: Entweder ist das Pensum voll und man will nicht mehr, oder man kriegt niemals—nicht in diesem Jahr, nicht in diesem Jahrzehnt und nicht in diesem Äon—genug. Aber ich erwähne nichts davon. Und warum nicht? Bist du ein Priester oder was? Warum nicht?! Das geht euch einen Scheißdreck an. Der Raum ist in gelbliches Licht getaucht und riecht so stark nach Desinfektionsmittel, dass man vom Geruch alleine ohnmächtig wird. Eine Weile ist es so still, dass jeder kleinste Atemzug, jede kleinste Bewegung, jedes Murmeln, jedes Knarren, Husten und Schniefen auf der Richterskala erscheinen würde. Dann vermengen sich die Hintergrundgeräusche zu einem leisen Klangteppich und Cap segelt durch die Pseudostille zu einem Anlegeplatz in der Mitte. Er nimmt ein Stück Kreide und kritzelt das Wort GESCHICHTE in Schreibschrift auf die Tafel. „Meine Freunde, jeder von uns hat eine Geschichte, die zu Tränen rührt“, sagt er. „Aber wisst ihr was? Die interessieren keinen Schwanz. Worauf die Welt wartet—falls sie wartet—ist zu erfahren, wer ihr in diesem Augenblick seid und was ihr damit anzufangen gedenkt.“ Man braucht kein Hellseher zu sein, um sich auszurechnen, dass die ganz Abgebrühten, ganz gleich, wie oft man sie mit der Nase darauf stößt, sich weigern, diesem Mann mit dem gebührenden Ernst zu begegnen—ein schwerwiegender Fehler, den ich an den meisten Tagen—bequem zurückgelehnt—gelassen zur Kenntnis nehme. Aber manchmal—Gott allein weiß, warum—habe ich das dringende Bedürfnis, dieser Handvoll Galgenvögel und Nichtsnutze klarzumachen, dass der Mann vielleicht unsere letzte Chance ist—und ich sage nicht die vorletzte oder die Halbfinal-Chance—sondern die absolut allerletzte Chance, unsere Überseele zu retten.

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Porträt eines Mannes, der bisher 17 Jahre im Gefängnis gesessen hat, wobei das Verhältnis zwischen der Anzahl der Jahre, die er im Gefängnis verbracht hat, zur Anzahl seiner Lebensjahre den Grad der Auflösung seines Bildes bestimmt.

3.

Die Kapelle ist nicht gerade zum Bersten voll, aber leer ist sie auch nicht. Wir Absolventen belegen die Reihen, die sich am nächsten an der wackeligen Kanzel befinden. Hinter der Kanzel, auf samtgepolsterten Stühlen, sitzen der Polizeipräsident mit seiner Assistentin, die aussieht wie ein Mann, der mürrisch dreinblickende Sergeant, der Kaplan und Cap. Letzterer lässt seine anthrazitgrauen Augen in die Ferne schweifen, vielleicht zu der Handvoll von Familienangehörigen (hauptsächlich Frauen, aber mein Mädchen ist nicht darunter) oder zum Reporter, dem einzigen, der heute gekommen ist, und der über seine Notizen gebückt dasitzt. Vielleicht aber auch weiter weg zu den Wachen, die die Ausgänge hüten, als wären es die goldenen Pforten zum dritten Himmelreich. Der Gottesdienst ist alles andere als feierlich und bei dem nüchternen Ablauf würde ich normalerweise absolut cool bleiben und mein Puls würde ruhig und gleichmäßig schlagen. Doch weit gefehlt! Meine Augen zucken unablässig und mein Herz ist unruhig wie ein zwitschernder Vogel. Kein Scherz: Wäre ich nicht ich, würde ich gleich den riesenhaften Hohlkopf, der seit zehn Jahren wegen Brandstiftung einsitzt, anstupsen und fragen, ob er sich auch so fühlt, als hätte er Sterne verschluckt. Aber nur, wenn ich nicht ich wäre! Und ich sage euch eins: Mit oder ohne Programm, an Orten wie diesem benimmt man sich selten normal. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich jetzt darum geben würde, irgendwo gemütlich die Zeit zu vertrödeln, anstatt hier zu sitzen und vor Anspannung zu platzen. Schließlich betet der Geistliche mit uns, was so ergreifend ist, dass sogar unser konvertierter Moslem eine ehrfürchtige Haltung einnimmt. Danach steht der Polizeipräsident auf und sein strahlendes Lächeln lässt die falschen Zähne blitzen. Er klopft auf das Mikro und hält eine Rede, wie man sie sich verstaubter kaum vorstellen kann, über „Gelegenheiten“, „sein Leben ändern“ und die „zweite Chance“, und der Einzige, den er zu überzeugen scheint, ist er selbst. Als er fertig ist, sagt er ein paar rasche, einleitende Worte zu Cap, badet im Blitzlicht der Kameras und trottet wieder zu seinem Platz zurück. Cap hatte noch nie Angst vor dem Rampenlicht, im Gegenteil, er richtet sich theatralisch auf und watschelt dorthin, wo ihn alle sehen können. Neben der Kanzel bleibt er kurz stehen und betrachtet die Menge, wobei er von einem Gesicht zum nächsten wandert, bis er auf meinem verharrt und sich in eine knorrige, faltige Faust räuspert. „Wir sind umgeben von Lärm“, sagt Cap in einem geradezu magischen Tonfall. „Das Gequatsche der neuesten Nachrichten, das Poltern früherer Taten und das Gezeter künftiger Erwartungen. Und je weniger es jemand schafft, sich diesem Lärm zu entziehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er in einer Einrichtung wie dieser hier landet. In den letzten Monaten haben diese Männer hier erkannt, dass sie einst Sklaven des Weltgetöses waren. Und sie haben festgestellt, dass sie—wie jeder andere auch—erst frei sein können, wenn sie sich so weit wie möglich vom Gepolter der weltlichen Erscheinungen fernhalten.“ Cap hebt die Hand und hustet, und es klingt, als würde er ein Stück Lunge herauswürgen. Dann setzt er wieder an. „Nur so kann man verhindern, dass sein Leben von dem bestimmt wird, was war, und stattdessen das leben, was der Augenblick bringt. Nur so können wir wirklich ein neues Leben beginnen.“ Der Mann der Stunde wandert von einer Seite des Altars zur anderen und sieht mit seinen steinfarbenen Augen in die graue Ferne. „Und das Leben, das ich meine und das diesen Männern nun bevorsteht, hat die Beschaffenheit von Stille“, sagt er und hinkt vom Altar. Ein paar Zentimeter vor unserer Bankreihe bleibt er stehen. „Ihr sollt wissen, dass ihr—wenn ihr diesen Ort verlasst—nicht auf euch allein gestellt seid“, sagt er. „Ich werde immer für euch da sein“, sagt er, schwappt wie eine Welle an unserer Reihe vorbei und bleibt vor jedem Einzelnen eine Weile stehen, was mir so lang vorkommt wie der Rest meines Lebens. „Meine Freunde, mit all der Lebenskraft, die mir noch bleibt, will ich Folgendes einlösen: Wenn ihr draußen Hilfe braucht, kommt zu mir“, sagt er. „Denn auf Cap könnt ihr vertrauen. Auf Cap könnt ihr jederzeit vertrauen.“ Er watschelt zurück zur Kanzel und stellt sich dahinter, mit klarerem Kopf denn je, klein von Gestalt, aber riesig im Geist. „Freunde, Familienmitglieder, Herr Kaplan, Herr Polizeipräsident. Wenn diese Männer, die Sie hier vor sich sehen, die Umzäunung dieser Mauern hinter sich lassen, sind sie nicht nur Absolventen eines Programms, sondern Philosophen, die eine neue Art des Seins repräsentieren.“ Als der Gottesdienst vorbei ist, scherzt Cap mit dem Polizeipräsidenten, und ich schwöre, ich habe noch nie so viele lächelnde Gesichter, Schulterklopfer und nickende Menschen gesehen wie in diesem Moment; ein Handschlag, der einen Weltkrieg beenden könnte. Wie gesagt, von meiner Familie ist keiner da, und da mir nicht nach Smalltalk mit den Frauen der anderen zumute ist—Abschlussfeier hin oder her—rühre ich mich nicht vom Fleck. Stattdessen beobachte ich, wie Cap mit den Leuten feilscht und dann zu mir rübergehumpelt kommt und sich neben mich setzt. Er sortiert den Müll aus seinen Hosentaschen aus und setzt sich so hin, dass wir einander ansehen können. „Es ist nicht leicht da draußen“, sagt er und lässt das Schweigen danach einen Tick zu lange dauern. „Aber du hast es nicht anders gewollt. Leicht wollen es nur die Esel und Dumpfbacken haben, und zu denen, mein Freund, gehörst du nicht.“ Plötzlich wird alles still. Die Wärter sammeln uns wieder ein, viel früher als geplant war.

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4.

Man kann sich leicht in kleinen Zeiteinheiten verlieren: fünf Monate hier, sechs Monate da … Und eines Morgens kriechst du aus einer winzigen Schlafkoje in einem Gebäude, das von Stacheldraht umzäunt ist, und fragst dich: Wo ist meine Jugend hin? Und im Handumdrehen bist du Mitte 30, ziehst dir im Gemeinschaftsbad die ersten grauen Haare aus dem Kinn und bedauerst den unübersehbaren Rückgang deines einst so kräftigen Haaransatzes. Aber das Schlimme ist, du hast all das verloren, und das Wenige, das von dem teuren Rest noch bleibt, dauert nur noch ein paar Tage, bis der letzte Weckruf droht. Und das passiert, wenn man draußen ankommt: Erst wird gefeiert mit den Leuten, die man seit dem letzten Mal, als man zu Hause war, nicht mehr gesehen hat, oder vielleicht ein oder zwei Mal für einen flüchtigen Wochenendbesuch in den ersten Monaten der Haft. Danach braucht man gar nicht erst zu versuchen, Leute von früher zu treffen. Wenn man nach Hause kommt, kriegt man—wenn’s hochkommt—einen Tritt in den Arsch von seiner Frau, der Familie oder den Kumpeln, all jene, die nicht nur sagen, dass sie wollen, dass du wieder auf die Beine kommst, sondern die es auch ernst meinen, dir versichern, dass sie hinter deinem Rücken nicht über dich lästern und dir ein paar Kröten zustecken. In diesen ersten Tagen und Wochen in der freien Welt sieht man den Fortschritt der Menschheit wie im Zeitraffer. Als man in den Knast ging, war gerade mal das Rad erfunden worden, und jetzt fliegen wir Raumschiffe. Falls man kein Obertrottel ist, wartet zu Hause eine Fülle von Ehemaligen, die jetzt deinen neuen (aber in den meisten Fällen nur vorübergehend) antrainierten Bizepsen mit runderneuerndem Sex Tribut zollen. Aber nachdem man seine ersten emanzipierten Atemzüge in Freiheit getan hat, starrt man früher oder später dem echten, realen, riesigen, gleichgültigen Kosmos in den Schlund, der dir zuruft: Und? Wie wirst du es diesmal angehen? Und da begreift selbst der größte Idiot, wie begrenzt die Optionen sind. Man kann so werden, wie man war. Man kann so werden, wie man immer sein wollte. Oder man wird ein ganz neuer Mensch.

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5.

Willkommen zu Hause“ steht auf dem Schild, und man sollte meinen, dass mein neues Ich die Rückkehrerparty meiner Familie aufmischen kann. Meine Mama, meine Schwester und mein kleiner Bruder, meine Zwillinge (die inzwischen laufen können), meine klasse Frau, alle stehen sie auf der Terrasse und jubeln mir zu, während ich mein Gepäck, eine vom Staat spendierte Mülltüte, die klapprigen Stufen hochhieve. Eine Billion Schulterklopfer auf meine kräftigen Muskeln, die ich mir an den Geräten und mit regelmäßigen Liegestützen und Klimmzügen mühevoll antrainiert habe. Ich werde mit aufmunternden Sprüchen überhäuft und höre nur noch ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Onkel Slip steht im Garten über den rauchenden Grill gebeugt und fuchtelt mit einer langen Grillzange; auf einem Beistelltisch steht neben dem Grillfleisch eine halbvolle Bierflasche. Irgendjemand—einer von meinen kleinen findigen Neffen wahrscheinlich—hat die riesigen Lautsprecher aus dem Haus so verkabelt, dass sie auch die unregelmäßig bewachsene, hügelige Wiese beschallen. Man hört eine alte Soulstimme klagen, was darauf schließen lässt, dass einer der betagteren Verwandten den DJ-Job an sich gerissen hat. Mein ältester Onkel tänzelt vor sich hin und wackelt mit seiner graumelierten Naturkrause. Er trällert den Refrain mit, bis er mich auf der Terrasse sieht. „Was es ist, Neffe?“, fragt er. „Was es ist, was es nicht ist und was es sein wird?“ „Unc“, sage ich. „Du weißt Bescheid.“ Und das tut er wirklich. Unc ist der Einzige aus der ganzen Familie, der mehr Zeit im Bau verbracht hat als ich. Wenn einer von uns einen Gerichtstermin hat, gehört er zu den alten Spezialisten, die einem das voraussichtliche Urteil unter den neuen und alten Richtlinien prophezeien können. Er hat wahrscheinlich die meiste Zeit seines erwachsenen Lebens (Bewährung, Hausarrest, richterlich verordnete Gemeindedienste, vorgeschriebene ambulante Reha-Programme und städtisch bezuschusste Maßnahmen wie „Weiße Weste“, „Neuer Anfang“ und „Zweite Chance“) auf einem Formular verbracht. Aber Uncs illustre Gesetzesbrecher- und Entzugskarriere ist eine andere Geschichte. Ich habe genug damit zu tun, meine eigene zu verarbeiten. Die restliche Szenerie: Man sieht Klapptische im Garten herumliegen, hübsch in Form gestutzte Büsche, hier und da laufen Erwachsene (und ein paar gewiefte Jugendliche) mit Styroporbechern in der Hand herum und umschiffen geschickt die Erdlöcher. In einem schattigen Eckchen wird Domino gespielt, wobei einer meiner wortgewandten Cousins ein paar Typen volllabert, die mir nicht bekannt vorkommen, mich aber in Klamotten und Auftreten an die Alten aus der Nachbarschaft erinnern, die immer zusammenhocken und palavern und Ratschläge erteilen, die sie selber nicht clever genug waren zu befolgen. Ich überwache die Szene, da klopft mir meine Frau auf den Arm und will, dass ich mitkomme. Ich sage euch, ganz gleich ob von vorne oder von hinten, mein Baby ist ein Knaller! Aber was noch besser ist: Ihr Aussehen ist nicht ihr einziger Vorzug. Fragen Sie die Alten, und jeder wird Sie davor warnen, zu viel Vertrauen in eine Frau zu setzen, wenn man weg ist. Sicher ist das ein weiser Ratschlag, aber einmal in tausend Jahren trifft man vielleicht eine ganz besondere Frau, eine, die während der ganzen Zeit da bleibt, und damit meine ich, dass sie dein Konto weiterführt, dich regelmäßig besucht und dir genug Pornoheftchen schickt, damit deine Eier nicht auf Melonengröße anschwellen. Und wenn man schon selten genug eine Frau findet, die das einmal schafft, wie außergewöhnlich engelsgleich muss dann erst die Frau sein, die das öfter als einmal tut! Und, liebe weltoffene Leser, bitte!—bitte bitte bitte—fällt kein voreiliges Urteil. Ja, es kann schon sein, dass sie in meiner Abwesenheit auch andere beglückt hat. Aber ich weiß auch, dass mein Herz eine genaue Überprüfung nicht überstehen würde. In der Hoffnung, dass der Stern meines Lebens mich nach oben lockt, um es mir premiummäßig zu besorgen und mich dann in ihren Nexus eintauchen zu lassen—die Willkommens-Kombination, wie ich sie mir erträumt habe—laufe ich ihr hinterher. Mein Mädchen zuckt nicht mal mit der Wimper, als ich ihr sage, wie sehr ich sie vermisst habe und sie frage, warum sie mich in den letzten Wochen nicht mehr besucht hat. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll …“, sagt sie, und es tut sich ein Loch vor mir auf und saugt mich hinein. Und hört mir gut zu: Mir ist egal, was ihr denkt oder was irgendwer denkt. Manchmal lohnt es sich, hart wie Stahl zu sein. Aber manchmal hat man einfach nicht die Kraft, ein Herz aus Stein vorzutäuschen. Und als ich denke, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, kommt auch noch mein Bewährungshelfer auf eine Stippvisite vorbei. Meiner ist ein Indianer, Verzeihung, ein amerikanischer Ureinwohner, aus irgendeinem Stamm in Nord-Washington, dessen Name mir jetzt gerade ums Verrecken nicht einfällt. Man sollte ja meinen, dass er als Angehöriger eines Volkes, das selbst viel mitgemacht hat, Mitleid haben oder zumindest ein Fünkchen Mitgefühl zeigen würde. Aber nein, der Typ behandelt mich, als wäre ich das Urbild des weißen Eroberers. Seht euch den schäbigen Knilch an, wie er in Papas (er ruhe in Frieden) Lieblingskippstuhl—mit seinem Notizblock auf dem Schoß—abhängt und die Füße hochlegt! „Ich dachte, ich schau mal vorbei“, sagt er und strahlt mich an mit seinem arroganten Dein-Billigleben-gehört-mir-Grinsen. „An meinem ersten Tag zu Hause schauen Sie mal vorbei?“, sage ich fragend und anklagend zugleich. „Wollte nur sichergehen, dass du einen guten Start hast“, sagt er. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich bin ein anständiger Typ. Habe sogar dafür gesorgt, dass dir ein paar Jährchen gestrichen werden. Und ganz ehrlich, ich fände es klasse, wenn ich mich um dich nicht mehr kümmern müsste.“ „Das sehe ich genauso“, sage ich. „Dann besorg dir diesmal endlich einen Job“, sagt er und schreibt sich was auf. „Klar“, sage ich. „Super“, sagt er. „Dann sehe ich dich die Tage in meinem Büro mit ’ner Gehaltsabrechnung.“ Mein Billionen-Kilo Bewährungsfuzzi—ohne Scheiß, der hat sicher einen ganzen Apachenstamm verspeist—watschelt zur Tür, sein langer Pferdeschwanz wedelt über den riesigen Schweißfleck hinten auf seinem T-Shirt und seine Schuhsohlen sind so abgetragen, dass sie aussehen wie Schutthalden. Häuptling „Schänden macht Spaß“ dreht sich zu mir um, erst seinen dicken Hals und dann den Rest. „Du hast ja ’ne richtige Party laufen“, sagt er. „Aber an deiner Stelle würde ich mir die Rauschmittel verkneifen. Du weißt ja selbst: Die Pinkelpolizei kann jederzeit vorbeischauen.“

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Porträt eines Mannes, der bisher 26 Jahre im Gefängnis gesessen hat, wobei das Verhältnis zwischen der Anzahl der Jahre, die er im Gefängnis verbracht hat, zur Anzahl seiner Lebensjahre den Grad der Auflösung seines Bildes bestimmt.

6.

Ein paar Tage nach den Festlichkeiten gehe ich mit meinem Startkapital in der Hosentasche, für das sich mein altes Ich wahrscheinlich eine Tüte Gras gekauft hätte, ins Einkaufszentrum und kaufe mir ein weißes und ein blaues Hemd, eine Khakihose, eine Hose aus Polyester-Gemisch, eine neue Krawatte und ein Paar Schuhe mit fester Sohle, und am nächsten Tag durchstreife ich die Stadt auf der Suche nach Schildern mit der Aufschrift „Hilfskraft gesucht“; hoffend, dass meine Angst vor Misserfolg mir nicht auf der Stirn geschrieben steht, spreche ich in Eckläden, Lebensmittelgeschäften und Schnapsläden, bei Waschanlagen, Pfandleihen, Restaurants und Blutbanken, Tankstellen, Lagerhäusern und Reinigungen vor und fülle eine Bewerbung nach der anderen aus, in der Hoffnung, dass jemand mit Einfluss oder Mitleid, oder möglichst beidem, sich traut, die Nummer anzurufen, die ich aufgeschrieben habe, auch wenn es sich dabei um die Nummer meiner Mutter handelt, die sie eigentlich hütet wie ein Rottweiler oder Dobermann sein Herrchen, aber jedenfalls bete ich zu Gott, dass wenigstens einer sich erbarmt, mich anzurufen und mir ein Einstellungsgespräch anzubieten; da das aber keiner tut, sitze ich den ganzen Morgen da und glotze auf ein Gerät (mit prähistorischer Wählscheibe), das ich immer wieder durch Hypnose zu aktivieren versuche, und weil nichts passiert, bis es fast Mittag ist, ziehe ich mich an, und weil sie einem Häftling den Führerschein wegnehmen und erst am Sankt-Nimmerleins-Tag zurückgeben, gehe ich raus, um mit der Stadtbahn oder dem Bus zu fahren, oder—wenn ich Glück habe—eine Mitfahrgelegenheit zu erwischen oder—wenn ich weniger Glück habe—unendliche Blocks zu Fuß zu laufen, um eine ganz neue Gegend zu erschließen, die mich, der ich kurz vor der Pleite stehe, mit praktisch unerreichbaren Möglichkeiten lockt, und obwohl ich weiß, wie gering die Chancen sind, fülle ich unermüdlich weiter Bewerbungen aus und wünsche mir bei jeder neuen, ich hätte einen anderen Lebenslauf vorzuweisen, bevor ich wieder nach Hause zurücktrotte, in kalten Essensresten stochere, meine ständig schwindenden Geldmittel zähle, versuche zu schlafen und wieder von vorne anfange, und irgendwann habe ich so viele Vormittage hintereinander den gleichen Text gekritzelt, dass es mir vorkommt, als wäre ich für den Rest meines Lebens dazu verdammt, und ich kritzele den gleichen Text so viele Vormittage lang hin, dass ich eines Morgens aus lauter Verzweiflung zu dem Einkaufszentrum zurückgehe, wo ich meine bisher noch ungenutzten Bewerbungsklamotten gekauft habe, und die Sicherheitsbeamten, Lagerarbeiter, Verkäufer und Manager, kurz alle, die ein Namensschild oder ein schwarz-weißes, geknöpftes Hemd tragen, frage, ob es eine freie Stelle gibt, irgendeine, obwohl weit und breit keine Schilder mit „Hilfskraft gesucht“ in Sicht sind, was mir eine endlose Kette von Neins einbringt, und da ein Mensch nicht unendlich viele öffentliche Rückschläge verkraften kann, verbringe ich die nächsten Stunden beim Arbeitsamt und gehe die Angebote durch, die so weit jenseits meiner Möglichkeiten liegen, dass sie wie Auszüge aus einem Science-Fiction-Roman klingen, und die fantastischen Hirngespinste lese ich so lange, bis ich richtig frustriert bin, wieder nach Hause trotte, um zu essen, wieder eine Ewigkeit lang deprimierende Fernsehnachrichten kucke und meine letzten Kröten zähle, und wenn es mir richtig schlecht geht, lege ich mich auf die flache Matratze im Zimmer über dem meiner Mutter und hoffe halbherzig, dass ich nicht mehr aufwache, aber da meine Wünsche grundsätzlich nie in Erfüllung gehen, reißt mich am nächsten Morgen eine unbekannte Macht aus dem Bett und schickt mich nach unten auf meinen Posten am Telefon, das sowieso nur klingelt, wenn ein Gläubiger anruft oder einer, der mir was verkaufen will, doch da es manchmal mehr Mut erfordert aufzugeben als weiterzumachen, stolpere ich—betend, dass meine Frustration mir nicht ins Gesicht geschrieben steht—aus dem Haus und in die Fänge eines neuen schrecklichen Tages.

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7.

Aber schließlich begebe ich mich, ausgestattet mit meinen nagelneuen Bewerbungsklamotten, zu einer Adresse auf Swan Island, wo ich auf einen Wärter in einer kleinen Holzhütte zugehe, der mich auf ein Gebäude am anderen Ende des Geländes verweist. Drinnen bin ich überwältigt von der Masse der erwartungsvollen Gesichter, die alle um einen Job wetteifern, mit dem sich jeder Mensch, der ein bisschen was auf sich hält, allerhöchstens den Hintern abwischen würde. Bei der großen Zahl von Bewerbern für diesen Ausbeuterjob wäre ich schön blöd, wenn ich irgendetwas erwähnt hätte, das mich für die Firma noch unattraktiver machen würde, als ich ohnehin schon bin. Und da ich an meinem neuen Ich arbeite, schreibe ich—wenn ich zu der Stelle mit den Vorstrafen komme—„zur weiteren Diskussion im Bewerbungsgespräch“, und zwar in meiner schönsten Schrift. Ein Typ in verblichenem Jeanshemd und knittrigen Dockers kommt aus dem Büro gestapft und ruft meinen Namen. Und aus Gründen, die ich niemandem verraten würde, verwandeln sich meine Beine in dünne Äste, kleine Stöcke, auf denen ich mit knapper Not in das spärlich eingerichtete Büro gelange: ein Schreibtisch und ein paar Stühle vor einer schmucklosen Wand. Der Typ, wahrscheinlich einer von den Arschlöchern, die ein unbekanntes, überflüssiges und risikoloses Leben führen, sagt mir, ich solle mir einen Stuhl heranziehen. Er selbst steht auf der anderen Seite eines riesigen Schreibtischs und starrt mir Löcher in den Schädel. „Also“, sagt er, „ich muss sagen, Ihr Lebenslauf ist ein wenig lückenhaft.“ „Es waren ein paar harte Jahre“, sage ich. „Aber ich hoffe, es wird jetzt besser.“ „Ach ja?“, sagt er und überfliegt das Blatt. „Und was ist das hier, das Sie noch weiter diskutieren wollen?“

8.

Am nächsten Morgen stochere ich in meinem Essen herum, zu dem ich—worauf mich meine Mutter immer häufiger hinweist—keinen Dollar beigetragen habe, und ich beschließe, dass ich keinen Bock mehr habe, auf das verdammte Telefon zu starren. Stattdessen wühle ich in meinem Schatzkästchen für Namen und Telefonnummern und rufe eine Nummer nach der anderen an, bis ich jemanden gefunden habe, der Caps Telefonnummer zu Hause kennt. „Mein Freund, mein Freund“, sagt Cap. „Welch eine Überraschung.“ Er sagt, dass er nicht viel Zeit hat, aber er gibt mir ein paar Sekunden, um Dampf abzulassen, bis er mich wieder abhängt. Er sagt mir seine Adresse und wann ich am nächsten Tag vorbeikommen kann. In diesem Augenblick ist meine Erleichterung größer, als ich in Worte fassen kann. Caps riesiges viktorianisches Haus liegt in einer Gegend, wo meine Kumpel und ich früher öfter eingebrochen sind, deshalb habe ich keine Schwierigkeiten, die Adresse und die Terrasse zu finden, auf der Bücher, Holz und Metallschrott gestapelt sind. Ich steige die Stufen hoch und habe nicht die geringste Ahnung, was ich sagen soll. Ich schelle an der Tür, und die Schelle klingt wie ein Gong. Man hört, wie mehrere Schlösser geöffnet werden und dass die Scharniere dringend mal geölt werden müssten. „Komm doch rein“, sagt Cap und führt mich in sein etwas heruntergekommenes Vorzimmer, wo er auf eine gepolsterte Couch zeigt, bevor er mich daran erinnert, dass er bald weg muss. „Was gibt’s denn?“, fragt er. „Es ist alles Scheiße“, sage ich. „Zwischen Scheiße und Oberscheiße.“ „Das sehe ich“, sagt er. „Weißt du, was die Lösung ist? Ein Wort: Beischlaf.“ „Was?“, frage ich. „Beischlaf“, sagt er. „Tust du es?“ „Ist das Ihr Ernst?“, frage ich. „Das kann nicht Ihr Ernst sein.“ „Mein Freund, lass dir von mir sagen: Die richtige Frau kann fast alle Sorgen beseitigen“, sagt er, knöpft sein Hemd zu und legt sich Manschetten an. „Du siehst nämlich aus wie einer, der weniger davon bekommt, als er sollte. Beziehungsweise gar keinen. Geh raus und such dir was und sieh dich um.“ „Häh?“, frage ich. „Wonach soll ich mich umsehen?“ „Ach komm“, sagt er. „Das war’s!“, sage ich. „Und was, wenn nicht?“, sagt er. Er steht schwerfällig auf und bedeutet mir, ihm zu folgen. „Ich würde mich ja gerne weiter unterhalten“, sagt er. „Aber wie ich bereits sagte …“ „Warten Sie“, sage ich. „Was ist denn mit dem Kram, den Sie uns im Knast erzählt haben? Über die Geschichten und den Lärm?“ „Mein Lieber“, sagt er. „Du bist doch nicht darauf reingefallen. Erzähl mir nicht, du hast mir den Scheiß abgenommen. Himmel, kann ein Mann nicht mal in Ruhe seinen Lebensunterhalt verdienen?“ „Nein“, sage ich. „Nein.“ Er stößt die Tür weit auf und gleißendes Licht flutet über ihn, so hell, wie ich noch nie welches gesehen habe. „Hör mal, Junge, sei kein Schisser. Wir stecken doch alle bis zum Hals drin. Nicht nur du. Es gibt kein großes Geheimnis. Du musst bloß eine Entscheidung treffen.“ „Was für eine Entscheidung?“, frage ich. „Die mit den größten Konsequenzen“, sagt er. „Ob du deine Seele retten willst oder dich selbst.“

9.

Mein Onkel Slip sitzt in einer Kneipe im Nordosten, mit einem halb verdrückten Bier neben sich, an der Bar und quatscht einen Typen voll, der aussieht wie ein Apostel. Als ich ihm auf die Schulter tippe, wirbelt Unc herum und begrüßt mich mit schwerer Zunge. Seiner gläsernen, rot-gefärbten Lederhaut nach zu urteilen und der Tatsache, dass er riecht, als hätte er in seinem Lieblingsdrink gebadet, hat er seinen normalen Promillewert längst überschritten. „Neffe“, lallt er. „Was gibt’s? Einen Blizzard?“ „Eher einen Schneesturm“, sage ich. „Hol dir einen Stuhl; ich bestell dir was, das dir den Kopf zurechtrückt“, sagt er. „Augenblick, bist du immer noch in der Akte? Wann musst du das nächste Mal antanzen?“ Ich kann nur noch den Kopf schütteln. „Junge, Junge, vielleicht solltest du nüchtern bleiben. Man kann nicht vorsichtig genug sein heutzutage.“ „Jetzt“, sage ich. „Oh Mann, Unc, genau jetzt!“ Unc warnt mich davor, diesen Weg jetzt schon einzuschlagen, und behauptet, er hätte glücklicherweise jemanden an der Hand, der mir helfen könnte, ein paar Münzen aufzutreiben. Der Barkeeper kommt zu uns geschlurft und Unc bestellt zwei Schnäpse. Eine Glühbirne geht aus und die Jukebox fängt an zu stöhnen. Ich sage zu Unc, dass das besser keine Falle ist, dass ich wirklich hoffe, dass das keine Falle ist. „Nein, nein, Neffe“, sagt er. „Hier geht alles mit rechten Dingen zu; die sind sauber. Dein alter Unc erkennt so was auf den ersten Blick.“ Die Drinks kommen, ohne Eis und klar und randvoll gefüllt. Unc rührt mit dem kleinen Finger in seinem Doppelten herum, streicht über seine pomadegestylte Hochglanz-Frisur, zeigt ein breites Lächeln und Goldzähne, hebt sein Glas und bringt einen Toast aus, einen Toast „auf die Zukunft“. Aber ich ignoriere ihn, kipp meinen Drink in einem Schluck runter, knall das Glas auf die Theke, und mit dem letzten Rest meines Startkapitals bestelle ich noch eine Runde.