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Party like it's 2005 – Ich habe ein Wochenende wie vor zehn Jahren verbracht

Merkel wird Kanzlerin, Tom Cruise war damals schon merkwürdig und Pete Doherty lebt immer noch. Ein Bericht über Indie-Partys und iPods.

Nostalgie ist eine heikle Angelegenheit. Sie hat keinen sonderlich guten Ruf, denn abgesehen von Holden Caulfield aus Der Fänger im Roggen, der für Generationen von Jugendlichen die Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit perfekt beschrieben hat, sind Nostalgiker alles andere als cool. Die Glorifizierung der „guten alten Zeit" lässt die Realität verschwimmen, bis sie kaum noch zu erkennen ist, und ehe man sich versieht, landet man bei Retro-Shows mit Oli Geissen und Rentnern, die sich mit Tränen in den Augen an die schöne Zeit in der HJ erinnern. Neben dem Versuch, sich die eigene Vergangenheit viel schöner zu reden, als sie eigentlich war, ist Nostalgie aber vor allem eins: ein unumstößlicher Beweis dafür, dass man langsam aber sicher alt wird. So alt, dass die eigene Jugend ein ganzes Jahrzehnt oder länger zurückliegt und man unwissenden 17-Jährigen erklären kann, was „gruscheln" bedeutet.

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Einigen wir uns also darauf, dass Nostalgie ziemlich uncool ist. Zeitreisen waren dagegen schon immer super. Aus dem Anlass, dass VICE Deutschland in diesem Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feiert, entschloss ich mich also dazu, in die Vergangenheit zu reisen. Außerdem ist 2015 das Jahr, in das Marty McFly im zweiten Teil von Zurück in die Zukunft reist, und bietet sich allein schon deshalb besonders gut für derartige Unternehmungen an, und so verbrachte ich ein Wochenende wie vor zehn Jahren, im guten alten Jahr 2005. Für alle, die noch zu jung sind, sich wirklich daran erinnern zu können oder alles schon wieder vergessen haben: Mitte der 2000er Jahre gab es in Deutschland weder Smartphones noch Facebook, Twitter oder Instagram—jungen Menschen blieb für die virtuelle Selbstdarstellung einzig Myspace und das neu erfundene studiVZ. George W. Bush war der mächtigste und meistgehasste Mann der Welt, statt Joko und Klaas gab es Elton und Simon, Mädchen trugen Hüfthosen, Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin und Singstar auf der Playstation 2 war das Highlight jeder Hausparty. Ein oberbayerischer Hardliner wurde Papst, im Schloss Bellevue residierte der längst vergessene Bundespräsident Horst Köhler und Tom Cruise machte Katie Holmes am Rande des Wahnsinns ein öffentliches Liebesgeständnis, das trotz aller Peinlichkeit nur ein paar unbelehrbare Zyniker hätte vermuten lassen, dass es mit dieser Liebe nur wenige Jahre später schon wieder vorbei sein sollte.

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Ich startete das Wochenende damit, mir alte Fotos anzusehen und mich mit der passenden Musik auf dem iPod in Stimmung zu bringen. Ich benutzte das gleiche klobige Modell, das im Jahr 2005 meinen alten Discman abgelöst und mein Leben so viel leichter gemacht hatte, weil ich plötzlich alle meine Lieblingsalben immer dabei haben konnte, ohne mich an meiner CD-Sammlung totzuschleppen. Leider funktionierte der iPod inzwischen nur noch mit dem dazugehörigen Ladekabel, weshalb ich unterwegs auf Musik verzichten musste. Immerhin entschädigte das antiquierte Klickgeräusch des Rädchens für so manche Unannehmlichkeit. Ich legte mich aufs Bett und hörte das erste Babyshambles-Album und freute mich darüber, dass Pete Doherty bis heute nicht gestorben ist, obwohl die Klatschmagazine ihm schon vor zehn Jahren den Drogentod und eine Mitgliedschaft im Club 27 vorausgesagt hatten.

Doch trotz der leicht nostalgischen Stimmung, die sich inzwischen bei mir einstellte, fiel es mir schwer, Kontakt mit meinem zehn Jahre jüngeren Ich aufzunehmen. Als ich an mich selbst zurückdachte, fiel mir vor allem auf, was ich damals alles noch nicht wusste. Im Jahr 2005 lebte ich noch bei meinen Eltern auf dem Land und überlegte mir, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich träumte von einer eigenen Wohnung, davon, ins Ausland zu gehen, und hatte selbst mit meinem postpubertären Traum, ein berühmter Rockstar oder wenigstens die Freundin eines berühmten Rockstars zu werden noch nicht ganz abgeschlossen—auch wenn ich weder singen noch ein Instrument spielen konnte und Pete Doherty inzwischen mit Kate Moss zusammen war, mit 30 meiner Meinung nach viel zu alt für ihn. Darüber, wie mein Leben in zehn Jahren aussehen würde, machte ich mir keine Gedanken: Es war viel zu weit weg. Ich erwartete bestimmt nicht, dass ich mit Mann und Kind in einer Doppelhaushälfte am Stadtrand sitzen würde, aber genauso wenig hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass ich fast acht Jahre lang studieren und danach immer noch nicht recht wissen würde, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Als meine beste Freundin und ich mit 17 anfingen, exzessiv auszugehen, wunderten wir uns über die „alten Leute", die immer noch feiern gingen. Alt bedeutete für uns damals 30. Manchmal auch schon 27. Heute habe ich viele Bekannte, die jenseits der 30 noch fast jedes Wochenende feiern gehen und finde das vollkommen normal.

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Als ich noch bei meinen Eltern wohnte, besaß ich keinen eigenen Computer und hatte noch nie einen Porno gesehen—zwei Aspekte meiner Jugend, die mir heutzutage völlig undenkbar erscheinen. Damals hingegen wäre es für mich unvorstellbar gewesen, ohne Fernseher zu leben. Ich glaube, ich habe mir ziemlich viel Schrott angesehen, aus dem einfachen Grund, dass es im Jahr 2005 noch keine große Auswahl und keine Streaming-Dienste gab. Ich beschloss, es im Rahmen meines Zeitreise-Experiments mit der Authentizität nicht 100 Prozent genau zu nehmen und behielt meinen Laptop. Immerhin gab es vor zehn Jahren schon YouTube, mit dessen Hilfe ich mir mein eigenes Retro-TV-Programm zusammenstellen konnte: Schmeckt nicht, gibt's nicht, Scrubs, Lost, Desperate Housewives und dazwischen eine ordentliche Dosis Werbung für Jamba-Klingeltöne. An dieser Stelle ein kurzer Hinweis für alle unbelehrbaren Nostalgiker: Der bekloppte Frosch, die Partybiene und Sweety, das Küken, sind drei unfassbar gute Gründe, sich die Vergangenheit niemals, niemals wieder zurückzuwünschen.

Ich schaltete mein iPhone aus und stieg auf ein stylishes Klapphandy um, auf dem man leider nicht Snake spielen konnte. Da ich noch bis vor einem Jahr ohne Smartphone gelebt hatte, gewöhnte ich mich schnell wieder daran, auf einen winzigen Bildschirm zu starren, und erinnerte mich daran, dass man mit richtigen Tasten viel schneller SMS schreiben kann. Selbst dann, wenn man schon ziemlich betrunken ist. Allerdings fiel mir auch auf, wie sehr ich inzwischen an mobiles Internet gewöhnt war. Als jemand, der alle zehn Minuten nervös seinen E-Mail-Eingang und Twitter checkt, war ich es nicht mehr gewohnt, mehrere Stunden am Stück offline zu sein. Auch auf Facebook zu verzichten, fiel mir schwerer, als ich erwartet hatte. Das lag hauptsächlich daran, dass ich das Wochenende zum größten Teil allein verbrachte, da ich mir vorgenommen hatte, nur Kontakt zu Menschen zu haben, die ich bereits im Jahr 2005 gekannt hatte. So blieben mir außer meiner Familie und einem Freund, der zum Glück in Berlin wohnt und sich dazu bereit erklärte, mit mir auszugehen, nur zwei Schulfreundinnen, von denen eine seit drei Jahren verheiratet und die andere hochschwanger ist. Facebook hat die Art unserer Beziehungen stark verändert. Früher hatte ich ausschließlich Kontakt zu Menschen, mit denen ich gut befreundet war, oder die mir so gut gefielen, dass ich ihnen meine Handynummer gab. Andere verschwanden so schnell aus meinem Leben, wie sie aufgetaucht waren. Heute ist es normal, über das Leben von Leuten informiert zu sein, die man nicht sonderlich gut kennt. Darüber, welcher Arbeitskollege am Wochenende auf welche Party geht, welche alte Schulfreundin die schönsten Cupcakes bäckt und welche ehemalige Urlaubsaffäre gerade per Anhalter durch Montenegro reist. Und obwohl es mir selbst ziemlich lächerlich erschien, hatte ich Angst, ohne Facebook etwas Entscheidendes zu verpassen—auch wenn es am Ende nur ein Haufen nutzloser Informationen und lustiger Tiervideos sein sollte.

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Im Jahr 2005 gab es keine Shitstorms und keinen Twitter-Beef, dafür beschimpften sich die Leute im virtuellen Gästebuch unseres Lieblingsclubs, das wegen persönlicher Beleidigungen sogar vorübergehend geschlossen wurde. Das Internet half den Menschen schon damals, ihren Hass zu kultivieren. Es gab kein Tinder, kein Whatsapp, keinen Facebook-Messenger und keine Seenzone. Wenn man keine Lust hatte, jemandem zu antworten, konnte man immer noch behaupten, die Nachricht einfach nicht erhalten zu haben. Und wenn man selbst keine Antwort erhielt, musste man nicht zwangsweise davon ausgehen, mutwillig geghostet worden zu sein, sondern konnte sich die Illusion bewahren, dass die SMS einfach unterwegs irgendwo verschwunden war. Bis heute glaube ich fest daran, dass ein Junge, der mir vor zehn Jahren beim Feiern im Club seine Handynummer gab, meine mit viel Liebe und Kalkül verfassten Kurznachrichten nie bekommen hat. Vielleicht weil es irgendwelche technischen Störungen gab, vielleicht weil ich die Nummer falsch abgespeichert hatte—ich weiß es nicht, denn getraut, ihn anzurufen, habe ich mich natürlich nie.

Da ich keinen Klatsch und Tratsch aus dem Bekanntenkreis über Facebook erfahren konnte, verbrachte ich den Samstagnachmittag damit, Frauenzeitschriften zu lesen, weil ich das früher auch gern getan hatte. Ich war zwar politisch interessiert, aber soweit ich mich erinnere, beschränkte sich mein Nachrichtenkonsum damals auf die Tagesschau. Die Zeitung, die meine Eltern abonniert hatten, nahm ich fast nie in die Hand. Ich freute mich, dass ich im September 2005 zum ersten Mal wählen durfte, zum einen, weil es bedeutete, dass ich offiziell erwachsen war, zum anderen, weil Gerhard Schröder auf mich aus mir heute schleierhaften Gründen eine starke sexuelle Anziehungskraft ausübte, an der selbst sein öffentlich zur Schau gestellter Wahnsinn nichts ändern konnte. Doch zu meiner Enttäuschung gewann nicht er, sondern Angela Merkel die Wahl—damals noch stärker geschminkt und besser gelaunt. Wahrscheinlich hätte damals niemand damit gerechnet, dass sie zehn Jahre später immer noch da sein würde, am allerwenigsten Gerhard Schröder.

Der Samstagabend stellte mich vor die größte Herausforderung meines Zeitreise-Experimentes, denn der wichtigste Unterschied zwischen damals und heute besteht meiner Meinung nach in der Musik und der Art zu feiern. Für alle, die 1991 oder später geboren sind: Rockmusik war damals cool. Im Ernst. Führende deutsche Musikmagazine bezeichneten kürzlich das Jahr 2005 als das letzte große Jahr des Indierock. Statt DJs feierte man Bands wie Bloc Party und Franz Ferdinand, Techno galt als asozial, alle tranken Bier und niemand in meinem Bekanntenkreis nahm chemische Drogen. Ein Party-Erlebnis wie im Jahr 2005 herbeizuführen, war folglich gar nicht so einfach. Zwar gibt es auch in einer Elektro-Hochburg wie Berlin selbst heutzutage noch einige Indiepartys, aber ob sich auf einer dieser Veranstaltungen der Vibe längst vergangener Tage heraufbeschwören lassen würde, blieb mehr als fraglich. Schließlich entschieden mein Freund und ich uns nach reichlichem Biergenuss dazu, eine Party mit dem vielversprechenden Namen Independent Tanzmusik im Prenzlauer Berg zu besuchen. Für alle Nicht-Berliner: Prenzlauer Berg ist der letzte Stadtteil, in dem ein junger Mensch heute nach einer angesagten Party suchen würde.

Als wir uns in Streifenshirts und Lederjacken auf den Weg machten, malten wir uns verschiedene Szenarien aus, welche Art von Publikum uns erwarten würde. Vielleicht wären die Leute im Club noch immer dieselben, die schon vor zehn Jahren dort gefeiert hatten, vielleicht gab es aber auch schon längst eine Revival-Bewegung von Luftgitarre spielenden Jugendlichen, von der wir nur nichts mitgekriegt hatten, weil wir selbst inzwischen zu alt waren. Doch mein betrunkener Traum, noch einmal 20-jährige Mando-Diao-Lookalikes zu den Lieblingssongs meiner Jugend tanzen zu sehen, löste sich in Rauch auf, sobald wir den vernebelten Kellerclub betreten hatten. Die Mehrzahl der anwesenden Gäste war über 35 und niemand sah schick aus. Dafür schienen die Leute fernab von jeglichem elitären Coolness-Gehabe immerhin ihren Spaß zu haben und tatsächlich wurde nicht ein einziger Song gespielt, der weniger als zehn Jahre alt war. Da ich inzwischen genug Bier und Mexikaner intus hatte, fing ich an zu tanzen, während in meinem vernebelten Hirn langsam die Erkenntnis reifte, dass sich die eigene Jugend nicht zurückholen lässt. Dass nostalgisch verzerrte Erinnerungen immer noch besser sind als der Versuch, etwas Vergangenes künstlich zu reproduzieren, und dass die Schmerzgrenze spätestens dann erreicht ist, wenn der DJ irgendwann „Teenage Dirtbag" von Wheatus spielt.

Am nächsten Tag war mir die Lust, Musik zu hören, vergangen: Ich war geheilt von meinem kurzen Nostalgieschub und ließ den iPod unbenutzt auf dem Nachttisch liegen. Vielleicht erleben die 2000er irgendwann ein ähnliches Revival wie es heute die Neunziger tun, aber das wird höchstwahrscheinlich noch eine ganze Weile dauern. Ich verbrachte den Sonntag stattdessen damit, mir leicht verkatert vom jungen Tim Mälzer erklären zu lassen, wie man mit viel Fantasie und wenigen Zutaten tolle Sachen kochen kann. Danach sah ich mir Matchpoint mit der ebenfalls blutjungen Scarlett Johansson an, wobei mir auffiel, dass ich mir schon lange keinen Film mehr angesehen hatte, ohne nebenbei auf dem Smartphone zu chatten, meine Bankgeschäfte zu erledigen oder zumindest den Wikipedia-Eintrag über den Film zu lesen. Nachdem es mir erst etwas schwer fiel, mich zu konzentrieren, erschien es mir plötzlich unglaublich erholsam, den Film einfach nur auf mich wirken zu lassen. Natürlich wusste ich, dass ich mich schon am nächsten Morgen wieder auf Facebook einloggen, mein iPhone einschalten und alle zehn Minuten mein E-Mail-Postfach checken würde. Ich weiß, dass ich heutzutage gar nicht anders leben könnte, schon allein weil ich aus beruflichen Gründen immer über alle aktuellen Dinge Bescheid wissen muss. Ich weiß, dass ich trotzdem immer Angst haben werde, irgendetwas zu verpassen. Aber ich weiß jetzt auch, dass es manchmal unglaublich gut tun kann, sich für ein paar Tage von all dem zu verabschieden und so zu tun, als sei die Welt vor zehn Jahren stehen geblieben.