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Porno ist jetzt eine ernstzunehmende wissenschaftliche Disziplin

Die erste Ausgabe einer Fachzeitschrift zum Thema Pornos ist erschienen und hat sofort die Anti-Porno-Bewegung auf die Barrikaden getrieben. Jetzt streiten sich Feministinnen und Wissenschaftler um den Wert von Pornos.

Screenshot via Youtube-Uploader semeesha1000

Die erste Ausgabe von Porn Studies, der „ersten […] wissenschaftlichen Zeitschrift, die sich kritisch mit all jenen kulturellen Produkten und Angeboten auseinandersetzt, die als Pornografie bezeichnet werden“, ist am Freitag erschienen und momentan noch kostenlos erhältlich. Für einen begrenzten Zeitraum können Nicht-Akademiker wie du und ich diese Publikation studieren und versuchen, unsere bebenden Gehirne mit etwas pulsierendem Wissen zu füllen, bevor die ganzen geilen Artikel kostenpflichtig werden.

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Der Zeitpunkt könnte gerade nicht besser sein, um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pornografie einen weiteren Schritt in Richtung Anerkennung als eigene akademische Disziplin zu treiben. Der Fachbereich verfügt jetzt nicht nur über ein eigenes Journal, sondern auf der 2014er Society for Film and Media Studies Konferenz in Seattle gab es neben verschiedenen Vorträgen zum Thema Pornographie auch einen Workshop mit dem Namen „The Pedagogy of Pornography“. Derartige Konferenzen erwecken jetzt nicht unbedingt die Aufmerksamkeit der Medien und so kam es auch nicht zu einem allgemeinen Kribbeln, als sich die Giganten der Porn Studies zu einer All-Star Show zusammentaten. Deswegen setzte ich mich mit ihnen in Verbindung, um herauszufinden, wie es gelaufen war.

Aber checkt erst mal die ganze heiße Action auf der Webseite des Journals. Ihr bekommt unzensierten Zugang, nicht nur zu Thumbnails, sondern auch zu ungeschnittene Essays in voller Länge—mit Titeln wie „Humanities and Social Scientific Research Methods In Porn Studies“, „Positionaility and Pornography“, „Authenticity and Its Role Within Feminist Pornography“ und meinem Favoriten: „Deep Tags: Toward a Quantitative Analysis of Online Pornography“. Und wenn du deine quantitativen Studien am liebsten hart und ungeschminkt magst, findest du hier einen Link zu den Tabellen mit allen erhobenen Daten. Für meinen Geschmack etwas zu krass, aber es soll ja Menschen geben, die auf so etwas stehen.

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Die Zeitschrift selber wird von Taylor & Francis veröffentlicht, einer seit 200 Jahren bestehenden britischen Verlagsgruppe, die einer solchen Publikation die entsprechende Relevanz verleiht und wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass diverse Anti-Porno-Aktivsten darauf aufmerksam geworden sind und sich darüber erzürnt haben. Obwohl die Zeitschrift ein Kompendium wissenschaftlicher Essays mit Fußnoten und korrekter Zitierweise ist, das vor allem dazu gedacht ist, von nerdigen Akademikern gelesen zu werden, scheint sich eine internationale Kontroverse anzubahnen.

Wahrscheinlich sollte mich das nicht weiter verwundern, immerhin geht es in der Zeitschrift ja um Videos mit fickenden nackten Menschen.

Gail Dines, Screenshot von YouTube-User PublicChristianity

Wie du siehst, gibt es Debatten über die Ethik von Pornografie, die tiefer gehen als die altbekannten Grabenkämpfe wie The People vs. Larry Flynt oder Mutter vs. ihr 17-jähriger Sohn, und wenn der Independent in Großbritannien darüber schreibt, dann weißt du schon, dass es rund gehen wird. Solche Zeitungen halten dann nach einer Person Ausschau, die eloquent und rational genug klingt, um einen veritablen Standpunkt zu vertreten, aber recherchieren selten weiter, als bis zu Personen wie Gail Dines—einer Art britische Alice Schwarzer—die ebenfalls Artikel für den Independent schreibt. Diese bieten dann eine Plattform für Aussagen wie: „diese Autoren kommen von einem pro-Porno Standpunkt“, was impliziert, dass eine objektivere Zeitschrift einen sehr strikten Anti-Porno-Ansatz fahren würde.

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Dines begann als Feministin, und ich schätze mal, dass sie immer noch eine ist, aber in den 1970ern und 80ern gab es eine tiefe Spaltung in der feministischen Bewegung darüber, wie mit Sex umgegangen werden soll. Diese Zeit, die auch bekannt unter dem Namen Sex Wars ist, beendete viele feministische Freundschaften und führte zur Spaltung ganzer Gruppen. Dines ging eine behelfsmäßige Koalition mit der religiösen Rechten ein und bis heute schreibt sie Bücher und gibt Interviews darüber, wie schädlich Pornographie ist. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Dines Veröffentlichungen auch mit harten Zahlen und Fakten aufweisen können. In einem Gastkommentar für die New York Times schrieb sie 2012 folgendes:

Die in den letzten zehn Jahren am meisten begutachtete Studie fand heraus, dass ein Großteil der Szenen in den 50 meistverliehenen Pornofilmen physischen und verbalen Missbrauch der weiblichen Darstellerinnen enthält. Körperliche Gewalt—Spanking, das Schlagen mit offener Hand und Würgen—fanden in 88 Prozent der Szenen statt und Anzeichen verbaler Gewalt—meistens die Beschimpfung der Frau durch den Mann mit herabwürdigenden Ausdrücken—in 48 Prozent der Szenen.

Wenn du Statistiken vorweisen kannst, bist du automatisch im Recht, oder? Ich glaube, wir können uns alle darauf einigen, dass es dem Löwenanteil zissexueller Heteropornos an Szenen mangelt, in denen einfühlsame Männer darum bemüht sind, eine Frau mit allen Mitteln der Kunst zu verwöhnen. Pornografie ist allzu oft ein alptraumhaftes Schauspiel, in dem wieder und wieder die phallozentristischen Fantasien des gesellschaftlichen Mainstreams durchgespielt werden. Um es in andere Worte zu fassen:

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[In Pornos] vögeln perfekt gebräunte, junge Frauen mit langen platinblonden Haarverlängerungen, Silikonbrüsten und falschen Fingernägeln künstlich erigierte Schwänze. Sie vokalisieren mit Stöhnen und Quieken eine performative Form von Lust während ihre männlichen Counterparts sie durch eine Reihe von standardisierten Sexpositionen führen, die dazu dienen, den penetrativen Akt für die Kamera zugänglich zu machen, um damit die Lust des Zuschauers zu bedienen—nicht ihre eigene. Die Aneinanderreihung von pornografischem ‚Fast Food’ Sex wird fortgeführt, bis die weibliche Schauspielerin angewiesen wird, einen Orgasmus  zu simulieren, um daraufhin eine Ladung Sperma auf ihrem Gesicht zu empfangen.

Irgendeine Idee, woher ich dieses Zitat habe? Aus einem Artikel in Porn Studies, der gleichen Zeitschrift, die Dines so vehement ablehnt.

Dines Zensurrhetorik, wie auch in ihrem Artikel „Stop Porn Culture“, könnte eine Veröffentlichung mit dem Namen Porn Studies nur gutheißen, wenn darin untersucht wird, wie man Pornografie am besten abschafft. Wie dem auch sei, dadurch, dass Pornos von so ziemlich jeder Person konsumiert werden und es nach einigen Schätzung so etwas wie ein komplettes Internet nur aus Pornos gibt, scheinen solch einfache Aufrufe zur Abschaffung nicht ganz förderlich zu sein; Im Gegensatz zu dem, woran die Herausgeberinnen, Mitwirkenden und Leser von Porn Studies gerade arbeiten: Pornographie als Teilgebiet dessen zu etablieren, was unter Akademikern als Cultural Studies bekannt ist.

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John Stadler, ein Doktorand der Literaturwissenschaften an der Duke University und eine wichtige Person in dem Feld der Porn Studies, erklärte mir dies ausführlich in einer E-Mail. „Pornographie ist Teil unserer Kultur, und, egal ob wir das gut finden oder nicht, war und wird sie so lange es uns gibt Teil unserer Kultur bleiben. Wir als Gesellschaft sind dazu verpflichtet, uns damit kritisch auseinanderzusetzen, ohne eine vorher festgelegte Absicht zu verfolgen.“

Es war wohl dieser Nebensatz: „ohne eine vorher festgelegte Absicht zu verfolgen“, der ihn davon abzuhalten schien, sich in den Anti-Porno Reigen einzuklinken. Derartige Lobbyarbeit gehört nun mal nicht zu seiner Jobbeschreibung. Wenn das System der Wissenschaft richtig funktioniert (und das tut es nicht immer), erlangen die Menschen, die etwas Interessantes zu einem Thema beitragen können, Bekanntheit und Anerkennung, und die, die einfach nur gegen irgendjemanden oder irgendetwas ins Feld ziehen, werden in Fernsehtalkrunden und auf die Kommentarspalte der New York Times verfrachtet.

Um mehr darüber zu erfahren, kontaktierte ich Dr. Constance Penley, eine der renommiertesten Wissenschaftlerinnen im Feld der Porn Studies. Penley hat einen Lehrstuhl für Film und Medienwissenschaften an der UC Santa Barbara und ist einer der ersten Menschen, die sich jemals wissenschaftlich mit kulturellen Phänomenen wie Fan-Fiction auseinandergesetzt hat.

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Constance Penley, Screenshot von der Huffington Post

Sie erzählte mir, dass die Veröffentlichung von Porn Studies nur die Spitze des Eisberges in diesem Forschungsfeld darstellt. Wie sie sagt, war „2013 ein Hattrickjahr für Porn Studies.“ Zusätzlich zu der Zeitschrift gab es noch andere Ereignisse wie „die Veröffentlichung von The Feminist Porn Book und dem Stattfinden der ersten alljährlichen Feminist Porn Conference.“ Während also Gail Dines von Mänerrechtsaktvisten als die Männerhasserin, die allen den Spaß verderben will, angegriffen wird, scheint sie nicht gerade eine wichtige Rolle bei der feministischen Auseinandersetzung mit Pornographie zu spielen.

Penley erzählte mir, dass Anti-Porno Aktivisten auf dem intellektuellen Radar derjenigen, die in diesem Feld richtige Forschung betreiben, kaum in Erscheinung treten. „Es gibt unter Wissenschaftlern keine Diskussionen darüber, ob man für oder gegen Pornografie ist, aber es gibt Proteste gegen die Lehrenden durch Anti-Porno-Gruppen, von denen sich manche als Wissenschaftler ausgeben, denen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten nicht gefallen.“

In anderen Worten ist Porn Studies „Pro-Porno“, wenn der oder die Autorin zu einem positiven Fazit kommt und „Anti-Porno“ wenn das nicht der Fall ist—und in den allermeisten Fällen wird die Meinung gegenüber Pornografie als Ganzes einfach nur ambivalent ausfallen. Das bedeutet, dass, anstatt die alte Sex Wars Debatte wieder neu aufzuwärmen, die Argumente jetzt in Druckform vorliegen, alle drei Monate aufgefrischt und von internationalen Wissenschaftlern begutachtet werden.

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Penley sagt, dass das Problem mit solchen Meinungsverfechtern wie Dines vor allem das ist, dass sie zu einer erdrückenden Atmosphäre in der Wissenschaft führen. „Fast 70 Prozent des Lehrstuhls haben nur befristete Hilfskraftstellen und können dabei noch nicht mal den Schutz akademischer Freiheiten genießen, das zu lehren und zu forschen, was die Akademiker für wichtig und nötig erachten. Teilfakultäten können es nicht riskieren, Neues oder Abseitiges zu machen, was aus dem traditionellen Rahmen fällt und Kontroversen hervorrufen könnte. Das ist natürlich nicht nur ein Problem von Porn Studies, sondern von allen Bereichen geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung.“

Es ist schwer für eine Fakultät, die noch nicht etabliert ist und deren Mitarbeiter keine sichere Anstellung haben, in kontroversen Gebieten zu forschen, da die Möglichkeit besteht, dass sie von der Hochschule gefeuert werden, sobald die Medien das Thema aufgreifen und zu einer Boulevardgeschichte verwandeln. Die akademische Landschaft kann sich immer weniger gegen schlechte PR behaupten. Spender, auf die die Wissenschaft angewiesen ist, sind extrem anfällig für PR und es ist wesentlich einfacher für eine Universität, sich einfach der Fakultätsmitglieder zu entledigen, die die Kontroverse ins Rollen brachten, als einen guten Imageberater anzustellen, um die Lehrkräfte zu verteidigen—auch wenn das Forschungsfeld zweifellos relevant ist und es eigentlich gar nicht nötig haben sollte, sich zu verteidigen.

Wie wird diese neue Wissenschaftsdisziplin nun aussehen? Wenn es nach Stadler geht, wird es wenigstens zum Teil darum gehen, versteckte Komplexitäten aufzuzeigen. „Pornographie wird meistens als etwas sehr einfaches, sehr primitives behandelt. Der Körper war schon immer ein Gebiet, das es schwer hatte, seine Beziehung zum sozialen Wissen unter Beweis zu stellen. Dieses Missverständnis ist eine Sache, die korrigiert werden muss.“

Die Beziehung des Körpers zum sozialen Wissen? Wenn du fähig bist, hochakademische Texte zu lesen, dann kannst du dich schon bald auf ein paar dicke Wälzer über Pornografie freuen. Ich persönlich hoffe einfach, dass ich die nötige Ausdauer habe.

Folgt Mike Pearl auf Twitter @mikeleepearl

Nachtrag: Auch die deutschsprachige Wissenschaft ist nicht gerade prüde, wenn ihr also ein paar versaute Studien lesen wollt, geht in die nächste Unibibliothek (Abteilung Geisteswissenschaften): #Sexualsoziologie #Körpersoziologie #Genderstudies #Sexualpädagogik #Medienwissenschaften #Literaturwissenschaften