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The Boys Of Summer (Ataris Version) Issue

Pounding the Pavement

Nach den schlecht formulierten Anfragen zu urteilen, die VICE täglich zu Dutzenden erhält, ist „Straßenfotografie“ heutzutage gleichbedeutend mit „Ich bin ein Graffitifan und DJ, einem schlimmen Sozialverhalten und einem Interesse an Clubs und den...

Nach den schlecht formulierten Anfragen zu urteilen, die VICE täglich zu Dutzenden erhält, ist „Straßenfotografie“ heutzutage gleichbedeutend mit „Ich bin ein Graffitifan und DJ mit einer Sammlung ausgefallener Hüte, einem schlimmen Sozialverhalten und einem Interesse an Clubs und den Leuten, die sie besuchen. Oh, und ich habe eine Aversion gegen das Fokussieren der Kamera.“ So kann man leicht vergessen, dass dieses Genre bis vor kurzem für etwas ganz anderes stand, und zwar die folgende simple Definition: das fotografieren von Bildern in Zuständen unkontrollierten Wahns, spontaner Freude, herzzerreißender Trauer, Bildern von kriminellem Verhalten, wasserspeienden Hydranten, und all den anderen Variationen von Dreck und Grandiosität, die sich beobachten und dokumentieren lassen, wenn man einfach einen Spaziergang durch eine unbekannte Gegend macht. Einer der Vorreiter dieses Genres—und vielleicht sein wichtigster Vertreter—ist Bruce Gilden. Seine Karriere begann auf den Straßen New Yorks, deren seltsame und extrem unterschiedliche Charaktere ihn faszinierten. Sein Stil erfuhr sofort Anerkennung von Meistern der Fotografie wie Henri Cartier-Bresson, der Bruces Arbeiten mit Lob überschüttete. Zu seinen Motiven gehört die japanische Yakuza, die bittere Armut Indiens und Haitis, irische Buchmacher und Spielsüchtige, Prostituierte und Mitglieder von Motorradgangs, und alle, auf die sonst noch so sein anspruchsvoller Blick gefallen ist. VICE hatte das große Glück eine Auswahl noch nicht veröffentlichter Arbeiten von Bruce in die Hände zu bekommen und er erklärte sich freundlicherweise bereit, sich zudem kurz mit uns über seine Gabe zu unterhalten, jeden beliebigen Menschen dazu überreden zu können, sich vor seine Linse zu stellen und darüber auch noch glücklich zu sein. VICE: Ich habe irgendwo gelesen, dass Fotografie als Kind nicht unbedingt dein Traumberuf war.
Bruce Gilden: Ich hatte ursprünglich keine Ambitionen Fotograf zu werden. Ich wollte nur drei Dinge im Leben: boxen, einen Affen besitzen und Drummer werden. Ich durfte nicht boxen, weil mein Vater Angst hatte, dass sie mir das Hirn aus dem Schädel schlagen würden, ich durfte keinen Affen haben, weil sie dreckig sind, und ich durfte nicht trommeln, weil Drums zu laut sind. Jahre später, im College, wusste ich nicht, was ich studieren sollte. Also brach ich ab und begann stattdessen Unterricht in Schauspiel und Fotografie zu nehmen. Die Schauspielerei war OK, aber als ich das erste Mal ein Foto machte und es selbst entwickelte, sagte ich zu mir, „Großer Gott, das habe ich wirklich gemacht?!“ Ich war überwältigt von dem, was ich geschaffen hatte, weil das einzige, worin ich bis dahin gut gewesen war, Sport war. Du näherst dich deinen Subjekten an, als wären sie Charaktere in einem Buch oder Film. Hast du Menschen und Fremde immer auf diese Weise gesehen?
Ich bin schon mein Leben lang von ihnen fasziniert. Mein Vater war ein echtes Original, ein gangsterhafter Hüne, der Hüte und Diamantenringe trug und immer eine fette Zigarre im Mundwinkel hatte. Ich verehrte ihn, bis ich es irgendwann besser wusste. Ich glaube, der einzige Grund, warum ich den Leuten gern näher komme, wenn ich sie fotografiere, ist, dass mein Vater jeden umgelegt hätte, der das versucht. Ganz im Ernst. Ich glaube, das ist meine Art es ihm heimzuzahlen. Bist du je in Schwierigkeiten geraten, weil du jemanden, den du fotografieren wolltest, überrumpelt hast?
Ja, gelegentlich. Ich bin in ein paar Schlägereien geraten. Ich habe nie verloren, aber einmal hat ein Typ, der mich schlagen wollte, meine Kamera zerstört. Ironischerweise hatte ich sie vorsichtshalber abgelegt, damit sie keinen Schaden nimmt, aber er griff danach und schmiss sie zu Boden. Aber im Allgemeinen habe ich sehr gute Manieren, so dass diese Dinge nicht allzu oft passieren. Ich habe ein gutes Gefühl dafür, wen ich ansprechen kann. Ich lasse mich aber auch von niemandem blöd anmachen, sogar jetzt nicht, obwohl ich 64 Jahre alt bin. Einmal war ich beim Mardi Gras und so eine Bikerbraut kam zu mir und sagte: „Magst du ein Foto von meinen Brüsten machen?“ Ich sagte, „Sicher.“ Ich machte das Bild und dann krallte sie sich die Kamera, die an meinem Hals hing und zerrte mich damit wie an einer Hundeleine über den Karneval. Mich interessiert auch, wie deine Arbeit mit den Yakuza-Mitgliedern war. Wie bist du an sie herangekommen?
Ich bat ein paar Leute von dort die Verbindung herzustellen, aber es war auch nicht allzu schwer diese Yakuza-Leute zu finden. Bei den ganzen Tattoos, die sie tragen, weiß man ziemlich genau, wer auf der Straße ein Yakuza ist. Ich bin umgeben von Gangstern aufgewachsen und gehe deshalb recht entspannt mit ihnen um und behandle sie wie jeden anderen auch. Wenn ich ein Problem habe, sage ich das und ich erwarte dasselbe von ihnen. Ich habe für das Buch über einen Zeitraum von zehn Monaten nur ca. sechs Tage lang fotografiert, und habe den Großteil der Aufnahmen einfach auf der Straße gemacht, was sie nicht sonderlich zu stören schien. Du hast in Japan auch ein paar Bikergangs fotografiert. Hattest du keine Angst, dass sie sich als langweilige Imitatoren herausstellen würden, wie diese japanischen Rockabillys, die im Prinzip wie Comicfiguren aussehen?
Bevor ich dort hinkam, dachte ich, dass sie nur Kids wären, die versuchten, wie jemand anderes auszusehen. Aber sie waren eigentlich alle erwachsen, womit ich sagen will, dass man wusste, wer der Boss werden würde. Genauso wusste man, wer der Macker werden würde und wer der schlaue Typ und wer das modische Jüngelchen und wer Alkoholiker. Es ging ihnen um mehr als ums Aussehen. Was ist bei dir als nächstes dran?
Ich arbeite weiter an einem Projekt über die Zwangsvollstreckungen in den USA. Davon fang ich lieber gar nicht erst an zu reden. Das Ganze ist die pure Abzocke von Seiten der Banker und der Regierung und ich fotografiere die Opfer dieses Betrugs. Und dann habe ich auch noch ein fortlaufendes Projekt über Gangster. New York, New York, 1982 New Orleans, Louisiana, 1975 New York, New York, 1979 New Orleans, Louisiana, 1975 Lourdes, Frankreich, 1992 New York, New York, 1980 New York, New York, 2004

Fotos von Bruce Gilden