FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Das Ohr ist die nächste technologische Grenze: Michael Breidenbrücker im Porträt

Wir haben den Erfinder von Last.fm und der trippigsten App aller Zeiten, RjDj, getroffen.

Die letzten 6 Jahre über war meine beliebteste iPhone-App eine, die es eigentlich nicht mehr gibt. Seit meinem ersten Smartphone habe ich sie von Handy zu Handy gerettet, wie ein Juwel, das ich vor dem Vergessen retten musste. Die App hieß RjDj und als sie damals im Jahr 2009 im AppStore live ging, war sie die immersivste App, die ich bis dahin gesehen hatte—und auch die trippigste.

Was RjDj so besonders machte, war nicht nur das Streaming an sich, sondern dass jeder Track ein anderes auditives Erlebnis bot. Manche sampleten einfach Sounds aus der Umwelt, andere verwandelten Alltagsgeräusche in merkwürdige nichtmenschliche Klänge. Einmal vergaß ich mit RjDj komplett, wohin ich mit der U-Bahn unterwegs war. Ein anderes Mal verwandelte die App mein Husten in hohe Trompetentöne.

Anzeige

Anfang dieser Woche ging die überarbeitete Neuauflage von RjDj unter dem Namen "Hear" im AppStore online. Damals konnte ich den Finger nicht genau darauf legen, was mich am meisten an der App faszinierte. Ich wusste nur, dass es das Seltsamste war, das ich ohne LSD bisher erlebt habe. Heute weiß ich, dass es neben der ganzen Audio-Drogenerfahrung einen anderen Aspekt gibt, der mich noch viel mehr interessiert: Bei RjDj ging es nicht um Musik, es ging ums Musikhören.

Der Erfinder der App ist Michael Breidenbrücker—ein gleichermaßen charmanter und bärtiger Vorarlberger, der unter anderem die Musik-Website Last.fm gegründet hat. Ich habe Michael getroffen, um herauszufinden, was die Zukunft von Audiotechnologie für uns bereithält.

Ich habe mich gefragt: Was, wenn wir High-End-Technologie einmal für etwas komplett Sinnloses einsetzen würden?

Michael stammt aus einem abgelegenen Teil der österreichischen Alpen—so abgelegen, dass er die Sommer in seiner Jugend als Kuhtreiber und die Winter mit Skifahren verbracht hat. Und ja, das ist weit weniger romantisch, als es klingt: "Ich weiß, es wirkt faszinierend—und für ein, zwei Wochen ist es auch wirklich nett", sagt er. "Aber das kulturelle Leben spielte sich woanders ab. Alles, was ich als Kind wollte, war weg von dort." Gleich nach dem Schulabschluss zog er deshalb nach Schweden, wo er eine Ausbildung zum Ingenieur machte und bei SAAB Space an einer Rakete mitarbeitete. Damals stellte er sich auch die Frage: "Was, wenn wir diese High-End-Technologie einmal für etwas komplett Sinnloses einsetzen würden?"

Anzeige

Der Frage treubleibend wechselte er als nächstes nach London und studierte Kunst. Hier entwickelte er auch den ersten RjDj-Prototypen—im Jahr 1999. "Für mich ist das Jahr gleichbedeutend mit der Geburtsstunde des digitalen Zeitalters. Ich bastelte die erste Version RjDj zusammen und spazierte damit durch London, mit dem Laptop in den Händen. Ich hatte die weirdesten Sounderlebnisse überhaupt. Aber mir wurde ziemlich schnell klar, dass der Markt einfach noch nicht da war."

Also pausierte er die Arbeit an der App und wechselte von der Personalisierung einzelner Songs zur Personalisierung ganzer Song-Sequenzen—durch die Erfindung der Streaming-Seite Last.fm. Heute, wo Apple Music und Spotify die Szene dominieren, wirkt die Idee nicht besonders innovativ. Aber das liegt daran, dass Last.fm mehr als ein Jahrzehnt vor den aktuellen Streaming-Diensten gegründet wurde.

"Ich habe Last.fm im Jahr 2002 in London gegründet", erinnert sich Michael. "Genau wie bei RjDj habe ich auch hier ein Produkt entwickelt, für das es noch keinen Markt gab. Mit einem Unterschied: Diesmal habe ich einen Markt richtig vorhergesagt und als er dann 4 Jahre später da war, hatte ich Last.fm bereits fixfertig, um die Gunst der Stunde zu nutzen."

Keine Frage, für diese Art von Geschäftsmodell braucht man Eier. Immerhin sind Investoren nicht unbedingt einfach für Ideen zu gewinnen, die sich erst nach mehreren Jahren monetarisieren lassen. Aber, wie Michael sagt, wenn es um Marktvorhersagen geht: "Eier zu haben ist meine Spezialität."

Anzeige

Last.fm war noch mehr als eine mutige Vorhersage—es war der erste Schritt in die Richtung von etwas, das später als "Web 2.0" bekannt werden sollte. Mit Peer-to-Peer-Technologie und dem Erfolg von Seiten wie Napster in den frühen 2000ern war der Zugang zu Musik längst nicht mehr das Problem. Stattdessen beschäftigten sich Menschen mit der (relativ neuen) Frage, wie man mit dieser fast unendlichen Menge an Musik umgehen sollte.

"Auf einmal hatten die Leute sämtliche Songs auf Kommando abrufbar, aber niemand wusste, welche davon er sich anhören sollte", sagt Breidenbrücker. Es war die Zeit der kulturellen Verlagerung von den Produzenten zu den Konsumenten und Last.fm zählte zu den ersten Unternehmen, die daraus Geld machten.

Es hat 40 Jahre gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich nicht auf Musik stehe, sondern aufs Musikhören. Wenn du das erst mal verstanden hast, ist alles Musik für dich.

Die Demokratisierung der Medien führte nicht nur zu einer Umkehr der Mächteverhältnisse, sondern auch zu einem völligen Umdenken in der Beziehung von Medienmacher und Konsumenten. "Vor dem Netz gab es keine Möglichkeit für die Menschen da draußen, einfach etwas zu veröffentlichen, ohne deine Ideen an den Kontrollmechanismen etablierter Medien vorbeizubringen. Im Vergleich zu heute waren die Menschen stumm geschalten."

Genau hier setzt RjDj an. "Es hat fast 40 Jahre gedauert, bis ich drauf gekommen bin, dass ich mich eigentlich nicht für Musik interessiere, sondern fürs Zuhören", sagt Michael. "Das ist ein großer Unterschied. Aber sobald du den mal verstanden hast, ist alles musikalisch."

Anzeige

"Das Ohr ist die nächste technologische Grenze, die wir erobern sollten. Mit RjDj waren wir unter den ersten Teams weltweit, die auditive Erlebnisse erforschten."

Seine weiteren Zukunftspläne drehen sich allem voran um sogenannte "Hearables", bei denen es unterschiedliche Ansätze gibt—vom Designen produktivitätssteigernder Geräuschkulissen (Extraktion einzelner Elemente) bis zu ganzheitlichen Erlebnis-Environments (Transformation einzelner Elemente).

"Amerikanische Erfindern beschäftigen sich meistens eher mit Extraktion", sagt Michael. "Ihnen geht es immer um die Optimierung von Prozessen. Zum Beispiel, indem dein Device die Stimme deiner Mutter ausblendet, wenn du lernst. Für mich geht es mehr um Transformation. Indem man zum Beispiel nervige Geräusche in etwas anderes, Angenehmeres verwandelt—ob das nun deine Mutter ist oder Caféhauslärm, aus dem neue Sounds entstehen. Ich finde, es ist einfach der elegantere Weg, mit der Welt umzugehen."

Dabei geht es keineswegs immer nur um Spaß und Spiele. "Das vielleicht wichtigste Feedback, das ich auf RjDj bekommen habe, kam von einem Autisten, der mir erzählte, dass er sich durch die App besser auf seine Umwelt konzentrieren konnte. Für ihn hatte das damit zu tun, dass RjDj die ablenkenden Hintergrundgeräusche aktiv in sein Hörerlebnis einarbeitete. Irgendwie fiel es ihm so leichter, damit umzugehen."

Nach unserem Gespräch machte sich Michael Breidenbrücker auf den Weg in sein abgelegenes Haus in denselben abgelegenen Alpen, aus denen sein jüngeres Ich damals abgehauen war. Heute hat er keine Kuhherde mehr zu betreuen. Manchmal betätigt er sich aber immer noch als Holzfäller. Als wir uns verabschiedeten, erzählte er mir noch, dass er für 2016 einen weiteren, großen Move geplant hätte, über den an dieser Stelle aber noch Stillschweigen bewahrt werden muss.

Vielleicht erweisen sich seine Vorhersagen ein drittes Mal als richtig. Vielleicht verbringt Michael Breidenbrücker auch die kommenden 4 Jahre damit, abzuwarten, ob sich der Markt seinen Prognosen annähert oder nicht. So oder so: Es wirkt, als hätten ihn seine frühen Jahre als Cowboy ganz gut auf die Jahre vorbereitet, die er vielleicht auf Ergebnisse warten muss.

Hier könnt ihr euch die App "Hear" herunterladen, wenn ihr ein iPhone habt.

Michael Breidenbrücker auf Twitter