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Occupy Wall Street—Das Original

Die ganze Welt schiebt Frust und Hass auf Banken und Regierungen und hier ist unser Bericht von dort, wo das alles seinen Anfang nahm. Direkt von der Wall Street in New York.

Um sechs Uhr früh hatte sich der Zuccotti Park quasi im wahrten Sinnes des Wortes in einen Zirkus verwandelt. Hunderte Protestanten stopften sich auf dem nassen Boden, gemeinsam mit einer Gruppe kunstvoll kostümierter und mit Umhängen bekleideter Frauen, die von einer USO-Show kommen könnten und einem Zirkel von New Age Anhängern, die um ein Kerzenarrangement herum lautmalerische Gesänge skandierten. Als Weihnachtsmann und Superman angezogene Leute, ein Typ in Folienrobe und dutzende Jugendliche mit Bandanas über dem Gesicht, um auf den großen Showdown vorbereitet zu sein, der jederzeit stattfinden konnte.

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Einer der Bandana-Träger umlief langsam den Gruppenkreis, während er feierlich mit einem Päckchen Weihrauch vor den Gesichtern der anderen herumfuchtelte. Unter anderen Umständen hätte ich ihn unmöglich ernst nehmen können. Doch dann sah ich in seine Augen und mir wurde klar, dass er vollkommen darauf vorbereitet war, mit Tränengas besprüht und geschlagen zu werden, um dann in einen der zahllosen Polizeiwägen geschleppt zu werden, die um den Kreis herum parkten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. So wurde die Szenerie von Kamerablitzlicht, Scheinwerfern und den harten Flutlichtern der omnipräsenten TV-Teams beleuchtet, die den Rand des Parks aus dem gleichen Grund belagerten wie ich: Wir wollten Action sehen. Wir wollten den Besetzern dabei zusehen, wie sie sich ineinander haken und mit Gewalt auseinander gerissen, dann aggressiv gefesselt und in Gewahrsam genommen werden, während sie Parolen brüllen. Und sollten sich einige entscheiden, auf Seattle im Jahr 2000 zu machen und Glasflaschen auf einen der Schwarz-und-Weißen zu werfen—umso besser für die Kameras. Wie die Geier versammeln sich ganz typisch die Medien, wenn sie spüren, dass eine Situation kurz vor der Eskalation steht. Ich frage mich, ob wir nicht fast ein bisschen genervt davon waren, dass nichts passierte, sich alles stabilisierte und eine halbe Stunde vor dem Hammerfall von selbst auflöste. Das jüngste Occupy Wall Street-Kräftemessen begann am vergangenen Mittwoch, als Bürgermeister Bloomberg auftauchte und anordnete—er liebt Anordnungen— dass die Protestanten um sieben Uhr morgens verschwinden müssten, da der Besitzer dieses privaten Parks das Gelände reinigen lassen muss. Natürlich war das eine Ausrede, um die Protestanten und ihre Zelte aus dem Park zu bekommen, ab diesem Zeitpunkt würden die Cops jeden einsperren, der versuchen würde, mit Schlafsack oder Abdeckplane zurückzukommen. Das Internet explodierte förmlich vor „Aufruf zur Aktion“-Petitionen und Einsprüchen. Und vor Ort machten sich die Besetzer bereit auf die Verwandlung von semi-tolerierten Gästen des Brookfield Office Properties zu hundertprozentig illegalen Mietern.
Sie gingen mit der gleichen Tatkraft eines gerade gut genug organisierten Chaos an die Sache heran, die diese Bewegung ausmacht. Das „Sanitärkomitee“ verteilte Abfalleimer für die gespendeten Vorräte und gab Besen aus, um den Boden sauber fegen zu können, obwohl es nicht klar war, dass die Cops oder die Stadt sich darum scheren würden, wenn sie den Platz die ganze Nacht mit Zahnbürsten abschrubben würden (manche schienen darauf vorbereitet zu sein).

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So weit ich das sagen kann, gibt es einen kleinen, kompetenten Kern bei Occupy Wall Street, der die Dinge zum Laufen bringen kann—aktive Komiteemitglieder und Webseitenbetreiber, die die Orte der Märsche bestimmen—und diese größere Gruppe, die manchmal an den „allgemeinen Zusammenkünften“ teilnimmt, aber öfter im Zuccotti rumzuhängen scheint, weil es der beste Treffpunkt für semi-obdachlose Rumtreiber ist. Das sind diese junge Leute, die in faulig riechenden, provisorischen Zelten lebten und sich betranken und in der Nacht zwischen all dem politischen Zeug rummachten—Jugendliche wie Cheney, der für Fotos herkam und dann in die Szene hineinrutschte. „Hier aufzuwachen gibt mir das beste Gefühl,“ erzählte er. „Auch wenn du nur drei Stunden Schlaf hattest, wachst du scheißglücklich auf, weil jeder hier scheißglücklich ist.“

Aus Angst, die Cops würden ihre Strategie zufällig mitbekommen, verließen sich die Protestführer meist auf Mund-zu-Mund-Absprachen, um die Widerstandstaktiken festzulegen, wenn die Behörden kämen. Gerüchte und halbfertige Pläne kursierten die ganze Nacht—die Polizei würde um vier Uhr morgens anrücken, um die Besetzer überraschend einzukassieren; sie würden sich am Samstag im Tompkins Square Park wiedertreffen, falls der harte Durchgriff stattfinden sollte; sie sollten sich lieber in ihre Vorratsboxen setzen, um dem Arrest besser zu entkommen … Vage Geschichten kamen mir zu Ohren: über Zivilbullen und „sichere Häuser“ in den Gebieten, in denen „sensible Informationen“ aufbewahrt würden. Am frühen Morgen schlängelte sich eine Sportlimousine an der Straße neben des Parks entlang, aus einem offenen Fenster ragte eine Telefotolinse. Ein junger Typ, das Gesicht mit einem Bandana verdeckt, schritt durch den Park und schlug auf eine hohle Silverschale, die in unregelmäßigen Intervallen Gong-ähnliche Geräusche von sich gab. In meinen schlampigen Aufzeichnungen dieser langen, langen Nacht findet sich immer wieder das Wort „Paranoia“—wahrscheinlich aus gutem Grund.

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Zwei Blocks von der Besetzten Wall Street entfernt, die sich langsam eher wie belagert anfühlte, fand die mit Occupy Wall Street inoffiziell verknüpfte Kunstshow statt—bereits seit 96 Stunden, angelegt war sie als 24-stündige Ausstellung. Ein paar Nachzügler betranken sich hier ganz öffentlich: ein Typ fiel beim Versuch hin, Fahrrad zu fahren, ein junges Pärchen machte in der Mitte des Raumes rum und ein Deutscher namens Wolf Geyr warf Konfetti. Er schwor allen Besuchern der Ausstellung, dass das Konfetti aus echten, geschredderten 100-Dollarscheinen bestehe. Ich sprach mit Wolf und zeichnete unser Interview auf. Jetzt im Tageslicht kann ich aus seinem Geschwaffel keinerlei Gehalt ziehen. Er erzählte, er sei sofort ins Flugzeug gestiegen, als er von der Kunstshow hörte. Er verwies auf seine lukrative, aber inzwischen beendete Karriere in der kommerziellen Fotografie und sprach leidenschaftlich von der fehlenden Verbindung zwischen der Seriosität und dem Gehaltscheck eines Künstlers. Dann schmiss er mir noch mehr geschreddertes Geld ins Gesicht.

Einige der Künstler der Ausstellung bildeten ein Kollektiv namens Abstract Science und waren von dem Erfolg eines T-Shirtdesigns begeistert, das sie sich ausgedacht hatten und das eines von wahrscheinlich Dutzenden Official Occupy Wall Street Logos wurde—du kannst sehen, wie die Leute das Symbol auf dem Zuccotti und in dem McDonald's, das die offizielle Toilette und der Ruheraum der Protestierenden wurde, tragen.

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Die Künstler waren optimistisch, aber als ich zurück zum Zuccotti ging, fand ich heraus, dass die Besetzer das nicht waren. Zwischen den Leuten, die eine organisiertere Herangehensweise wollten—ein Typ schlug vor, eine ähnliche Befehlsstruktur, wie die der Polizei einzuführen—und den Leuten, die alles nach Autorität riechende scheuen, brach eine Debatte aus. Eine Frau mit rauer Stimme ergriff das Wort und merkte an, einige Leute würden denken, es sei schwieriger für die Bullen, sie zu beseitigen, wenn sie Barrikaden errichteten (sie zeigte auf ein riesiges Modell eines Megafons). „Diese Strukturen sind illegal!“ schrie sie, während sie jeden anflehte, organisierter zu sein und den Plan, den sie vorher ausgeklügelt hatten, zu erlernen, einen Plan, den die Mehrheit der Leute immer noch nicht  zu kennen schien. Als ich ein paar Minuten später mit ihr sprach—ihr Name war Lauren—erfasste sie mich mit einer Mischung aus 70% Wut, 30% Müdigkeit, aber eigentlich purem Adrenalin. „Wir sind im Krieg und keiner handelt als verdammter Soldat“, sagte sie. „Das wird nicht aufhören.“ Sie war darauf vorbereitet, sogar eifrig, eingesperrt zu werden und schien in Betracht zu ziehen, sogar den Tompkins Square zu besetzen. Sie war Teil des Sanitation Committee, das sie als eine „Erweiterung der Sicherheit“ beschrieb, weil sie oft in den Müll der Leute gekuckt hatten, um zu sehen, wer welche Drogen nahm und wer wenigstens geschützten Sex hatte. (Das ist offenbar ein Problem—einmal lief ein Typ über den Platz und verteilte gratis Kondome und Gleitgel.) Lauren war engagiert; sie erzählte mir, sie sei in ihrer zweiten Nacht am Zuccotti sexuell belästigt worden und die Bullen hätten ihr gesagt, „ich sei es, die hier hingegangen ist und ich solle nach Hause gehen und aufhören Spielchen zu spielen.“

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Verdammt, ich sollte wahrscheinlich versuchen zu beschreiben, für was sich Lauren genau engagiert, für was diese Leute besetzen oder es wenigstens ernst nehmen—die Wut auf die Reichen, das Fehlen von Finanzgesetzen, die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus, Unternehmens-Solzialismus… aber die Politik und die Polizei kamen letzte Nacht kaum zur Sprache. Der Protest entwickelte sich zu einem Protest für das Recht zum Protest, was in gewisser Weise für eine Generation, die „meta“ zu einem Adjektiv gemacht hat, angemessen ist. Letzte Nacht hatten die Besetzer eine, und nur eine konkrete Forderung: Lasst uns bleiben! Und tatsächlich bekamen sie, was sie wollten, was dich wundern lässt, ob der ganze Scheiß am Ende wirklich funktioniert. Was auch immer „funktionieren“ bedeutet. Außerdem sollte gesagt werden, dass die Protestierenden nicht nur gewaltlos, sondern sogar verdammt höflich sind. Ihre Forderung war in Wirklichkeit nicht „Lasst uns bleiben!“, sondern eher „Lasst uns bleiben, wir machen die ganze Nacht sauber, seht ihr, und räumen unsere Zelte weg, so wie es das Gesetz vorsieht!“ Sogar die verkrusteten Punks, die alle Pläne und Treffen ignorierten, um zu halb kaputten Keyboards zu tanzen, störten sonst niemanden.

Ab drei Uhr war die Nacht eine langweilige, dunkle Leerstelle. Ein paar Leute schlugen einen Beachvolleyball herum. Gewerkschaftlich organisierte Lastwagenfahrer hupten beim Vorbeifahren zu dem Protest und erhielten großen Beifall. Ein Essenswagen öffnete und Menschen stellten sich für wässerigen Kaffee an. Aus meinen Notizen: „Die Zelte riechen furchtbar, wie eine nasse Katze…Die in IKEA-blaue Plane eingepackten Schlafsäcke sehen wie Leichen aus. Traf ein Kind mit 15 Strafzetteln fürs Schwarzfahren, es sagte, es darf nicht festgenommen werden wegen einer Geldstrafe von 2.000$…“ Ich glaube, ich bin für eine kurze Zeit im Sitzen eingeschlafen, eingewickelt in einen Mülltüten-Poncho, den mir das „Comfort Committee“ gab. Die Lastwagen mit den Medien und die zugelassenen Fotografen erschienen etwa um 3:30, aber es gab nichts zu sehen, bis zwei Stunden später eine neue Menschenmenge mit Schildern und Kostümen in den Park geflossen kam und die Bandanas wurden über die Gesichter gezogen. Eigentum wurden in Taschen  gestopft, Planen aufgerollt—Das Camp bereitete vor, sich zu bewegen, gerade als neue Leute ankamen, die sicher gehen wollten, dass sich nichts bewegte. Es drängten sich (mindestens) Hunderte Menschen um einen einzigen Redner ohne Mikrofon, was eine wirklich beeindruckende Darstellung bot: Der Redner sagte etwas, die Leute, die ihn hören konnten, wiederholten seine Worte, und die Leute, die diese hören konnten, wiederholten ihre Worte, und so weiter, woraus ein bizarres Telefonspiel wurde, bei dem fünf Gruppen von Leuten die selben drei Wörter rauf und runter brüllen. Es brauchte eine lange Zeit, um so etwas einfaches, wie „DIESE BESONDERE VERSAMMLUNG [PAUSE] WIRD NUN VERTAGT“ zu sagen, aber jeder sorgfältige, ganze Gedanke wurde mit wildem Applaus belohnt. Die Reden waren wechselhaft und voller Klischees (die Phrase „Genossen und Genossinnen“ hatte einen Auftritt), aber der Inhalt kümmerte keinen, der diese Worte aus den Tiefen seiner Lungen schrie. Ein junges Paar lernet sich im Eifer des Gefechts kenne und fing an, in der Mitte des Gedränges aggressiv herumzumachen.

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Fast alles hätte passieren können, aber nichts passierte tatsächlich. Bloomberg änderte seine Meinung, wahrscheinlich dank des Druckes einiger Beamter, welche die Proteste unterstützen; die taktischen Manöver und Unstimmigkeiten der Leute auf dem Platz machten am Ende keinen Unterschied. Die Stadt wird vermutlich warten, bis das Wetter schlechter wird und die Besetzer sich verziehen und nicht mehr wieder kommen. Sie können immer noch keine legalen Strukturen aufbauen oder Zelte aufschlagen, was ein Problem sein wird, wenn der erste Schnee fällt. Etwa zwölf Stunden später kann ich die Geschichte allerdings nicht anders erzählen, als zu sagen, dass ein Haufen dreckiger Hippie-Besetzer erreicht hat, dass der Bürgermeister, einer der mächtigsten Männer der Welt, einen Rückzieher macht.

Fotos von Taji Ameen

Das war an diesem Tag an anderen Orten dieser Welt so los:

Occupy Berlin

Occupy London