Das Ende des Lagers in Röszke

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Das Ende des Lagers in Röszke

In der Nacht vor der Grenzschließung strömten mehrere tausend Menschen durch das noch offene Loch im Zaun zwischen Serbien und Ungarn.

Die Lage an der ungarisch-serbischen Grenze zu beschreiben, scheint beinahe unmöglich. Dennoch versuchen wir völlig übermüdet, einen Bericht über die surrealen Szenarios der letzten Tage zu schreiben. Folgende Worte sollen uns dabei helfen: Angst, Ahnungslosigkeit und unglaubliche Wut.

Die ersten beiden Gefühle tragen vor allem die Flüchtlinge seit Monaten mit sich, das dritte wir, als Helfer, die ihr Bestes versuchen, aber von den Regierungen komplett im Stich gelassen werden und somit in einem Sumpf aus Ratlosigkeit und Unwissenheit versinken.

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In der Nacht vor der Grenzschließung strömten unzählige verzweifelte Menschen—Familien mit schlafenden und weinenden Kindern auf den Schultern ihrer endlos erschöpften Eltern—durch das noch offene Loch im Zaun zwischen Serbien und Ungarn. Viele Tausend sollen es über den ganzen Tag verteilt gewesen sein.

Aber nicht alle, die vorhaben, mit diesem Schritt ihren Eintritt in die Europäische Union zu tätigen, lassen sich darauf ein. Denn viele haben unglaubliche Angst—Angst davor, in einen Bus verfrachtet zu werden, der sie nicht aus Ungarn rausbringt, sondern in eines der Lager, die man wohl am ehesten mit Gefängnissen vergleichen kann. Hinter Gitterstäben dürfen die Menschen dort Stunden oder auch mehrere Tage auf einen Weitertransport warten.

In verschiedensten Ländern verstreute Familien, versuchen verzweifelt sich wiederzufinden—auch ein Grund, nicht das Risiko der Busdeportation zu wählen, sondern lieber nächtliche Wege durch Felder auf sich zu nehmen, um dann darauf zu hoffen, eine gefährliche Schlepperfahrt auf sich nehmen zu können.

Angesichts dieser gerne gewählten „Option" lässt sich die Lage in Ungarn schon sehr gut beschreiben. Immer wieder kommt man mit sich selbst ins Hadern. Leitet man die Leute in das Camp weiter, so können sie sich dort ausruhen, essen und trinken. Bis auf Reihen an Dixi-Klos, die seit Tagen so verdreckt sind, dass sie niemandem mehr zuzumuten sind, gibt es keinerlei Sanitäranlagen. Aus einem Feld mit gestrandeten Flüchtlingen, die von der Polizei festgehalten wurden, um auf ihren Abtransport zu warten, hat sich im Laufe der letzten Woche eine Zeltstadt entwickelt, in der man fast so etwas wie eine Struktur erkennen konnte.

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Bis Sonntagabend. Zuerst verbreitete sich die Nachricht, dass die deutsche Grenze dicht gemacht wurde. Direkt hinterher, dass die Busse mit den Flüchtlingen nur dazu dienen, um sie in die Lager hier in Ungarn zu verteilen, nachdem sie einen Fingerabdruck abgeben mussten.

Fingerabdruck. Wohl das meist gehörte Wort der letzten Tage. Die Leute kommen panisch über die Grenze und wollen sofort wissen, wie sie denn weiterkommen, ohne diesen gefürchteten Schritt der Registrierung vollziehen zu müssen. Aber es mangelt auch uns an sicheren Auskünften und herumschwirrende Gerüchte perfektionieren das Informationschaos. Es geht uns vorrangig darum, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Ohne Schuhe oder Jacken, völlig unterkühlt und unterernährt, dürfen wir sie an der Grenze willkommen heißen. Wunderbar. „Folgt einfach den Gleisen bis zum Camp, dort müsst ihr keine Fingerabdrücke abgeben."

Die Ängste kann man ihnen oft nicht nehmen und so verschwinden die verzweifelten Menschen in den Maisfeldern, in Richtung der Schlepper. Das Geschäft boomt wie nie zuvor. Die ungarische Regierung schüttet mit Polizeihunden, Helikoptern mit Suchscheinwerfern und einem Militäraufgebot noch unnötiges Benzin in bereits lodernde Feuer der Panik. Man versucht jedes Wort abzuwägen, doch in unseren Köpfen herrscht pure Ratlosigkeit. Einige Menschen bleiben hinter der Grenze oder drehen wieder um. Mitten in der Nacht werden drei Stangen zwischen den Schienen befestigt, über die die Menschen ständig stolpern. „Zur Stabilisation". Aha.

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Wir positionieren uns, um den Leuten den Weg zu leuchten und immer wieder zu schreien: „Be careful!" Schon Tags davor stürzte eine hochschwangere Frau auf dem ohnehin unebenen Weg zu Boden. Ein Helfer assistierte, als der Arzt die Frau untersuchte und laut eigenen Angaben keinen Herzschlag beim Baby mehr feststellen konnte. Das ist alles, was wir darüber an gesicherter Information erhielten. Wie es mit der Frau weiterging, konnten wir nicht mehr erfahren.

Im Laufe der Nacht rüsteten die ungarischen Behörden auf und positionierten scharenweise schwer bewaffnete Soldaten an der Grenze, was die Stimmung weiter verschärfte. Währenddessen erreicht uns die Meldung, dass die Polizei in das Lager eingefallen sei, um die Leute in eine endlos wirkende Busreihe zu verfrachten. Alle Zelte werden geöffnet, alle Schlafenden geweckt.

Erst später wird klar, dass die Flüchtlinge direkt an die österreichische Grenze gebracht werden—ohne Fingerprint. Kurz davor sind Scharen an Menschen in die Maisfelder geflüchtet. Unter anderem der junge Syrer Tarek, der seinen Weg bis jetzt alleine bestritten hat. Sein Handy hat er schon verloren, Geld hat er auch fast keines mehr. Nachdem er eine Stunde mit sich selbst gerungen hatte, entschied er sich doch dafür, mit Schleppern zu gehen, obwohl er bereits ein Nahtoterlebnis auf einem Schlepperboot hinter sich hat. Mittlerweile befindet er sich in Budapest und versucht weiter nach Wien zu kommen. Aber ob dieser Versuch erfolgreich sein wird, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

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Das schlechte Gewissen nagt. Die Straße, auf der die Menschen in den Nächten zuvor stundenlang und frierend auf die Busse gewartet haben, leert sich nun zunehmend. Jetzt warten wir nur noch darauf, dass die Grenze endgültig geschlossen, und das Lager völlig vom Militär geräumt wird und versuchen uns durch den Grant und Ärger auf die europäische Grenzpolitik noch einmal zu motivieren, um wenigstens einige Menschen noch im „sicheren" Europa begrüßen zu können.

Der Artikel entstand dank der Mitarbeit von: Sebastian Frik, Jakob Schmidtlechner, Viktoria Hilbert und Hanna Fasching

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