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Sind Depressionen vielleicht so etwas wie allergische Reaktionen?

Neue Forschungen haben gezeigt, dass Depressionen eine Reaktion auf eine Entzündung im Körper sein könnten. Kann dieser Umstand nun auch dabei helfen, die immer noch bestehenden Vorbehalte zu beseitigen?

Eine Kernspin-Aufnahme des Gehirns. Foto: Helmut Januschka | Wikicommons | CC BY-SA 3.0

Unser Verständnis von und unser Bewusstsein für Depressionen geht inzwischen zum Glück über die alte „Jetzt reiß dich mal zusammen"-Einstellung hinaus. Auch die Darstellung von psychischen Erkrankungen in Hollywood-Filmen gilt gemeinhin als überholt. Heutzutage wissen die meisten Leute, dass es sich bei der Depression um einen vielseitigen, sich verändernden und häufig kräftezehrenden Zustand handelt, der unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und Glauben auftritt. Uns ist jedoch immer noch nicht klar, warum manche Menschen depressiv werden und manche nicht.

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Wir haben herausgefunden, dass es eine genetische Disposition für Depressionen und Angststörungen gibt. Uns ist ebenfalls bekannt, dass bestimmte Ereignisse einen depressiven Lebensabschnitt bei Leuten verursachen können, die zuvor vor mentaler Gesundheit nur so strotzten. Uns ist es jedoch bis heute nicht gelungen, einen unabhängigen und definitiven Auslöser zu finden. Neue Forschungen haben allerdings gezeigt, dass Depressionen bei manchen Menschen durch so etwas Simples wie eine allergische Reaktion verursacht werden könnten. Eine Reaktion auf eine Entzündung—ein Erzeugnis des Körpers und nicht des Geistes.

George Slavich, ein klinischer Psychologe an der University of California in Los Angeles, gehört zu der immer größer werdenden Anzahl von Wissenschaftlern, die glauben, dass wir für ein besseres Verständnis von Depressionen unsere Physiologie eingehend betrachten müssen. Das Ganze ist eben vielleicht nicht nur eine Kopfsache. „Ich sehe es schon gar nicht mehr als einen psychiatrischen Zustand an", erzählte er dem Guardian. „Psychologie spielt schon eine Rolle, aber die Biologie und die körperliche Verfassung sind mindestens genauso wichtig."

Es ist ziemlich einfach: Wenn man krank ist, fühlt man sich beschissen. Alles, was uns bei Unwohlsein betrifft—Lustlosigkeit, fehlender Enthusiasmus, Schlafstörungen, Traurigkeit und generelle Trägheit—, ist unter Psychologen als „Krankheitsverhalten" bekannt. Unsere Körper sind ziemlich schlau: Sie verhalten sich so, damit wir möglichst nichts tun, still daliegen und unser Abwehrsystem den Virus bekämpfen lassen, der uns an die Couch fesselt.

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Diese Art der emotionalen Reaktionen sind jedoch auch typisch für Depressionen. Deshalb stellen sich Wissenschaftler folgende Frage: Wenn sich die Verhaltensweisen von Depressiven und anders Kranken so sehr ähneln, dann muss es da doch eine Verbindung geben?

Im Grunde genommen ist das auch richtig. Alles lässt sich auf eine Entzündung herunterbrechen—dieses clevere Warnsignal unseres Immunsystems, das dem Körper mitteilt, dass etwas nicht stimmt. Sogenannte Zytokine verursachen diese Entzündung und legen den „Krankheit"-Schalter im Gehirn um—und rufen bei uns die Traurigkeit und Trägheit hervor. Während depressiver Abschnitte gehen die Zytokin-Werte durch die Decke, bei bipolaren Störungen stagnieren sie auf einem niedrigen Niveau. Die Tatsache, dass „normale" und gesunde Leute nach der Verabreichung einer entzündlichen Impfung wie Typhus zeitweise depressiv werden oder unter Angstzuständen leiden können, gibt der Theorie nur noch weiteren Nährboden. Manche Wissenschaftler verlangen sogar, dass Depression allgemein als eine Infektionskrankheit angesehen wird.

Ich habe selbst schon zwei lange und belastende Depressionsphasen durchgemacht, die beide mit Krankheiten, Operationen und schmerzhafter Genesung zusammenhingen. Für mich klingt das Ganze also vollkommen logisch. Als ich mich vor zwei Jahren von einer Darm-OP erholte, hatten mein körperliches und geistiges Unwohlsein die gleiche beschissene Intensität und die Schmerzen um meine Narbe herum waren genauso schlimm wie die neblige Leere und das Schwindelgefühl in meinem Kopf.

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Die körperliche Unfähigkeit, irgendetwas zu tun, führte mit der Zeit zu einem fast kompletten Versagen meiner mentalen Funktionen. Ich konnte nur noch wie besessen Friends schauen und dabei an Crackern herumknabbern. In meinem Kopf hallten ständig die Sätze „Das hier wirst du nie überstehen" und „Jetzt ist nicht nur dein Körper, sondern auch dein Kopf kaputt" wider und beide Male war eine Mischung aus intensiver kognitiver Verhaltenstherapie und Antidepressiva nötig, um wieder auf die Beine zu kommen. Wenn ich mich heutzutage elend fühle, dann schleicht sich auch immer die Angst mit ein, dass ich im Falle einer Krankheit jetzt einen Kampf an zwei Fronten bestreiten muss.

Die Theorie, dass zwischen Depressionen und anderen Krankheiten eine Verbindung besteht, macht Hoffnung. Carmine Pariante, eine Psychiaterin am Kings College, sagt, dass uns in fünf bis zehn Jahren ein Bluttest zur Verfügung stehen wird, mit dem man die Entzündungswerte bei depressiven Menschen messen kann. Wenn sich sowohl Pariantes Einschätzung als auch die Entzündungs-Depressions-Theorie bewahrheiten sollten, dann sind wir womöglich nur fünf Jahre von einer geeigneten „Heilung" für Depressionen entfernt.

Es kann möglicherweise aber auch negative Auswirkungen haben, wenn die Theorie weiter erforscht wird. Nick Haslam, Psychologieprofessor an der University of Melbourne, weist darauf hin, dass man nicht fälschlich annehmen sollte, dass ein besseres Verständnis von einer psychischen Erkrankung auch automatisch zu „gesellschaftlichem Fortschritt" führt. Wenn man davon ausgeht, dass eine psychisch kranke Person ein tiefsitzendes körperliches Leiden hat, „dann kann das dazu führen, dass wir sie als unberechenbar, als unheilbar und als kategorisch anders ansehen." Wenn wir nun den Körper und nicht mehr das Gehirn für Depressionen verantwortlich machen, können wir dann auch mit den Vorbehalten gegenüber psychisch Kranken aufräumen? Vielleicht. Hoffentlich. Aber selbst jetzt, wo Depressionen immer mehr als das Resultat eines „chemischen Ungleichgewichtes" im Gehirn (also ein körperliches Leiden) angesehen werden, haben Studien gezeigt, dass sich der Ruf von psychisch kranken Menschen nicht wirklich gebessert hat.

Aber dieser Ruf ist sehr wichtig, denn er hilft dabei, ein auf psychisch kranke Patienten fokussiertes Gesundheitssystem aufzubauen. Mit Studien über häufiger auftretendes selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen und der Anwendung eines veralteten „Flaggen"-Systems zur Diagnose von Anorexie bei jungen Männern könnte man jedoch den Eindruck bekommen, dass wir immer noch im tiefsten Mittelalter feststecken. Die Sprache, die wir im Feld der psychischen Gesundheit benutzen, fühlt sich irgendwie auch nicht richtig an. Schauen wir zum Beispiel mal, aus welchen Wörtern sich „Nervenzusammenbruch" zusammensetzt: Beide erscheinen zu sensationslüstern und einseitig, um eine sich stetig weiterentwickelnde Erkrankung zu beschreiben, zu deren unzähligen Symptomen Dinge wie Schlaflosigkeit, schwere Angstzustände, Panik, extremes Unwohlsein, Gewichtsverlust, sexuelle Unlust und Tremor zählen.

Es gibt zwar noch weitere physiologische Auslöser von Entzündungen, die für die Theorie sprechen (in überschüssigem Körperfett, vor allem in der Bauchgegend, lagern sich eine Menge Zytokine ab), aber es wäre dennoch ziemlich naiv, davon auszugehen, dass jegliche Depressionen nur eine Nebenfolge von körperlichen Krankheiten sind. Für viele von uns ist das tägliche Leben quasi ein Spießrutenlauf der Verzweiflung und man könnte fast meinen, dass bei uns ständig chronische Entzündungen auftreten. Immerhin liefern die aktuellen Forschungsergebnisse von Leuten wie Slavich neuen Diskussionsstoff und sie zeigen außerdem, wie komplex psychische Erkrankungen sein können. Und wenn nicht einmal die Erkenntnis, dass so ziemlich jeder Mensch psychisch erkranken kann, die Öffentlichkeit aufgeschlossener gegenüber psychischen Krankheiten macht, was dann?