So träumen blinde Menschen
Illustration: Lidija Delić

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So träumen blinde Menschen

Normalerweise ist es ziemlich langweilig, wenn eine Person von ihren Träumen erzählt. Wenn diese Person jedoch blind ist, sieht das Ganze wieder anders aus.

Es ist Fakt, dass nichts mehr langweiligt, als anderen Menschen dabei zuzuhören, wie sie von ihren Träumen erzählen—außer es geht in diesen Träumen um einen selbst (und auch dann nur vielleicht). Das liegt daran, dass die Träume von anderen Leute normalerweise relativ zusammenhanglos und unbedeutend sind. Ich habe mir jedoch auch schon immer eine Frage gestellt: Was träumen Menschen, die nicht (mehr) sehen können? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, habe ich mich mit Ivana Zivkovic in Verbindung gesetzt—eine Lehrerin an einer Belgrader Grundschule für sehbehinderte Menschen. Ihre Antwort: „Blinde träumen genauso, wie sie leben."

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Diese Aussage führte Zivkovic dann noch weiter aus: „Träume werden ganz unterschiedlich wahrgenommen. Manche blinde Menschen sagen, dass sie gar nicht träumen, während andere angeben, dass bei ihnen im Schlaf einfach die anderen Sinne vorherrschen. Von Geburt an Blinde haben beim Träumen keine visuellen Eindrücke, während das bei Menschen, die ihr Augenlicht erst später verloren haben, anders ist. Diese visuellen Eindrücke werden mit der Zeit jedoch immer schwächer. Forschungen haben ergeben, dass der Gehörsinn in den Träumen von blinden Leuten am stärksten präsent ist. Danach folgen dann der Tast-, der Geruchs- und der Geschmackssinn."

Das hat mich neugierig gemacht und ich beschloss, mich mit Ana Jovcic, Dragisa Drobnjak und Nikola Zekic zu unterhalten. Ana und Dragisa haben ihr Augenlicht erst im Verlauf ihres Lebens verloren, während Nikola bereits von Geburt an blind war.

Ana Jovcic kam zu früh auf die Welt und während sie in einem Inkubator ums Überleben kämpfte, wurden ihre Sehnerven durch die großen Sauerstoffdosen zerstört, die sie verabreicht bekam. So hatte sie bereits in jungen Jahren einen schweren Sehschaden und verlor ihr Augenlicht dann mit neun komplett. Heute studiert sie serbische Literatur an der der Universität von Belgrad.

Dragisa Drobnjak wurde mit elf Jahren bei der Explosion eines Blindgängers aus dem Zweiten Weltkrieg verletzt und konnte danach nicht mehr sehen. 1973 schloss er sein Jurastudium ab und arbeitete danach 35 Jahre lang als Leiter der Rechtsabteilung einer serbischen Blindenvereinigung. Heute befindet er sich im Ruhestand.

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Nikola Zekic studiert derzeit Ethnomusikologie an der Musikakademie von Belgrad. Ihm erging es ähnlich wie Ana: Er war eine Frühgeburt und erblindete aufgrund der erhöhten Sauerstoffzufuhr in seinem Inkubator.

VICE: Wie äußern sich visuelle Impressionen in euren Träumen?
Ana Jovcic: Ich habe nie wirklich gut sehen können. So erinnere ich mich auch nur noch an bestimmte Farben sowie die Gesichter meiner Eltern und meiner Schwester. In Bezug auf die Farben ist es zum Beispiel so, dass ich zwar nicht mehr weiß, wie Türkis aussieht, ich mir Grundfarben wie Rot oder Blau aber trotzdem noch vorstellen kann.

Menschen sehen in meinen Träumen so aus, wie ich sie zuletzt gesehen habe. Zwar hat sich ihr Aussehen in der Zwischenzeit bestimmt schon stark verändert, aber für mich bleiben sie immer gleich. Und wenn ich neue Bekanntschaften mache, dann stelle ich sie mir vor meinem geistigen Auge vor. So erscheinen sie dann auch in meinen Träumen.

Dragisa Drobnjak: Bis zu meinem elften Lebensjahr habe ich noch mit allen meinen Sinnen geträumt. Nachdem ich dann mein Augenlicht verloren hatte, gab es für mich eine Zeitlang nur noch zwei Arten von Träumen: Einmal in Farbe und mit Menschen, Objekten sowie Orten, die mir bekannt waren, und einmal mit Bezug auf neue Erfahrungen und neue Bekanntschaften. In den zweitgenannten Träumen hörte oder fühlte ich etwas—zum Beispiel eine Stimme oder ein Schulterklopfen. Diese beiden Traumarten hatte ich dann mehrere Jahre lang, aber die Träume in Farbe wurden mit der Zeit immer seltener. Inzwischen kommen sie überhaupt nicht mehr vor.

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Nikola Zekic: Ich bin von Geburt an blind und nehme deshalb nur Helligkeitsveränderungen wahr. Zwar wurde ich auch schon zweimal operiert, aber mehr ist einfach nicht zu reparieren. Meine Träume bestehen zum Großteil nur aus Geräuschen. Früher träumte ich auch oft davon, wie ich ein Buch lese: Vor mir taten sich verschiedene Szenerien auf, an die ich mich nach dem Aufwachen aber nicht mehr erinnern konnte.

Wie detailliert sind in euren Träumen die Körpermerkmale der Leute, die ihr erst kennengelernt habt, nachdem ihr schon nicht mehr sehen konntet?
Ana: Wenn ich mir vorstelle, wie diese Menschen aussehen, dann sind in meinen Träumen sogar ihre Klamotten bunt. Dazu male ich mir noch ihre Gesichtszüge aus und gebe ihnen eine Haarfarbe. Das gilt jedoch nicht für die Augenfarbe, denn die konnte ich nicht mal erkennen, als ich mein Augenlicht noch besaß. Wenn mir dann gesagt wird, dass meine Vorstellung von einer bestimmten Person überhaupt nicht der Realität entspricht, dann versuche ich, diese Vorstellung entsprechend anzupassen und abzuspeichern.

Dragisa: In Bezug auf Träume verhält es sich bei mir wie im Wachzustand: Wir unterhalten uns zwar gerade, aber ich habe keine Vorstellung von dir. Ich meine, ich habe früher als Leiter einer Rechtsabteilung gearbeitet—ich habe nicht viel Phantasie. Ich denke nicht wirklich darüber nach, wie mein Gegenüber wohl aussieht. In meinen Träumen geht es um das, was jemand sagt oder tut, und nicht um das optische Erscheinungsbild.

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Wie sah euer schlimmster Albtraum aus?
Ana: Ich habe einmal geträumt, wie ein paar Diebe zu mir nach Hause kamen und dort ein Päckchen voller Drogen versteckten. Ich weiß zwar nicht, wie ein Drogenpaket aussieht, aber in meinem Traum hatte es die Optik eines Weihnachtsgeschenks. Sie verstauten das Ganze unter einem Sessel in meinem Wohnzimmer und ich hatte unglaubliche Angst. Als ich dann aufwachte, musste ich erstmal sicherstellen, dass da wirklich nichts war.

Dragisa: Manchmal träume ich, dass ich im Schlafanzug zuerst auf der Toilette sitze oder durch meine Wohnung laufe und mich dann urplötzlich an einem öffentlichen Ort befinde. Dieser Umstand ist dann natürlich total peinlich.

Gibt es bei euch auch Träume, die immer wieder vorkommen?
Nicola: Als Kind habe ich oft davon geträumt, wie ich falle—und das die ganze Nacht. Irgendwie gefiel mir das jedoch, weil es sich angefühlt hat, als würde ich fliegen. Und selbst im Wachzustand gab es im Bett bestimmte Liegepositionen, die sie anfühlten, als würde ich fliegen—zum Beispiel wenn sich mein Kopf unterhalb meiner Schultern befand. Das hatte wohl irgendwas damit zu tun, wie das Blut ins Gehirn fließt. Ich war ein komisches Kind.

Dragisa: Ich bin in einem Bergdorf großgeworden und träumte immer, wie ich zusammen mit meinen Geschwistern Erdbeeren pflücken ging. Ich erinnere mich noch genau an den grünen Wald und die roten Erdbeeren. Dann finge es jedoch an zu regnen und es entwickelte sich ein heftiges Gewitter. Ich hatte nach dem Aufwachen immer den Eindruck, als sei das Ganze wirklich passiert—aber dem war nie so.

Ana: Ich träume oft von Paris, obwohl ich selbst noch nie dort war. Da Paris ja auch den Spitznamen „Stadt der Lichter" trägt, stelle ich mir natürlich auch immer viele Lichter vor. Wenn ich von der Stadt träume, dann ist es dort immer nachts und um mich herum sind Tausende Lichter, viele große Plätze, unzählige Menschen und wunderschöne Gebäude. Dazu kann ich dann noch das Wasser der Brunnen hören. Das ist für mich Paris. Im Garten meiner Eltern befand sich früher außerdem ein Torbogen und ich stelle mir den Arc de Triomphe genauso vor wie diesen Torbogen.

Und was war der komischste Traum?
Nicola: Einmal habe ich geträumt, wie ich mit meinem Vater durch einen Wald spaziert bin, in dem an den Bäumen anstelle von Blättern Trompeten hingen. Und genau diese Trompeten haben wir dann auch gepflückt. Als ich in eine der Trompeten blies, kam da nur ein mickriger Pfeifton raus. Deswegen meinte ich zu meinem Vater: „Die ist noch nicht reif, wir nehmen einfach eine andere." Und so sind wir zusammen weiter durch den Wald gezogen und haben Trompeten gepflückt. Irgendwie war das doch ziemlich süß.