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Abgestochen in Berlin

Wenn ich eine Liste führen würde über Dinge, die ich vor meinem Tod erlebt haben möchte, dann gehört sich ein Tattoo stechen zu lassen auf jeden Fall dazu.

Wenn ich eine Liste führen würde über Dinge, die ich vor meinem Tod erlebt haben möchte, dann gehört sich ein Tattoo stechen zu lassen auf jeden Fall dazu. Auch wenn mittlerweile jede Dorffrisörin ein Arschgeweih durch die Gegend trägt, ist mir doch egal.

Für mich ist es das erste Tattoo. Dementsprechend groß ist meine Angst und die Schadenfreude meiner Begleiterinnen. Sicherheitshalber packte ich Tavor ein, einen starken Angstlöser. Ich nahm gleich zwei davon und trank noch ein Bier.

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Myra studierte zunächst Grafikdesign und fing 2010 mit dem Tätowieren an. Sie arbeitete und lernte in fünf verschiedenen Studios. Seit September 2012 hat sie ihr erstes eigenes Studio, The Decay Parlour und ist jetzt schon schwer angesagt. Ihr Motive sind kitschig-verspielt und sehr bunt im New Traditional Style. Das Studio selbst ist sehr gemütlich eingerichtet und wirkt zunächst gar nicht wie ein Ort des Schmerzes und der Angst.

Als ich das Studio betrete, dringt schon das Summen der Nadeln an mein Ohr. Ich bekomme sofort Panik und schmiede ausgeklügelte Fluchtpläne. Myra und ihre Zwillingsschwester Rebecca begrüßen uns freundlich, die Stimmung ist gelöst. Ich möchte weinen. Wir beschließen, Bier zu trinken. Nachdem ich mit Myra mein Motiv besprochen habe, schlucke ich zwei Tavor und verabschiede mich von meinen zwei Kollegen, die auch tätowiert werden. Ich bin als Letzte dran, genug Zeit also, um sich so richtig fertig zu machen, in die schmerzverzerrten Gesichter der Anderen zu blicken und vor Nervosität unkontrolliert Chips zu fressen. Das Tätowieren an sich ist dann halb so wild, ich zerquetsche aus purer Bosheit aber trotzdem die Hand meines Kollegen. Um unser intimes Erlebnis zu besiegeln, rauchen Myra und ich gemeinsam eine Zigarette danach und ich stelle ihr die Fragen, die ich schon immer mal einem Tätowierer stellen wollte. VICE: Warum Tätowieren?
Myra: Es ist irgendwie Kunst, die man auf der Haut anderer Leuten macht. Dann haben die für immer etwas, das du gemacht hast, auf ihrer Haut. Ich fand, das ist eine ziemlich große Ehre für mich. Hast du schon mal was verkackt?
JA, früher mal, als ich angefangen habe. Da war ich mit der Nadel zu tief … Aber klar hatte ich schon viele Probleme damit, da wächst man hinaus. Wenn man das einfach ein paar Jahre macht, weiß man, wie tief man mit der Nadel gehen soll, wie das ganze technische Handwerk funktioniert und dann bist du auch sicherer und kommst dann auch ein bisschen sicherer rüber. Aber Angst hat man natürlich immer vor der Verantwortung, weil man halt nie weiß, wie die Leute sich verhalten, oder ob die rumzappeln und wie man solche Zappler dann ruhig stellen kann. Oder wenn Leute Angst haben. Und dass du denen ein komfortables Umfeld bietest. Was war das Hässlichste, das jemals jemand von dir haben wollte?
Letzte Woche. Da war eine da, die wollte halt nur einen Strich haben, der aussieht wie ein Kugelschreiber. Mit so einer komischen, leeren Linienführung neben dran. Zu einfache Sachen finde ich hässlich. Oder einmal musste ich auch ein Tribal machen. Das fand ich auch scheiße. Sagt du das den Leuten dann auch, dass das hässlich ist?
Na ja, ich versuche, die Leute immer zu cooleren Motiven zu überreden. Die sollen das ja für immer tragen. Und ich kenn mich doch aus. Ich meine, man kann mir ja vertrauen. Ich mach das ja jetzt auch schon ein paar Jahre und ich bin der, der entscheidet, was zu welcher Körperproportion passt. Und welcher Stil sich lange halten wird und welcher Stil nicht von vorgestern ist, wie heute eben die Arschgeweihe oder sonst was. Hattest du schonmal Kunden, die du nicht leiden konntest?
Ja, natürlich. Ja, es gibt halt Kunden, die sind schwieriger, bei denen denkst du dann: „Ja, OK, es klappt persönlich vielleicht nicht, wir sind ein bisschen zu verschieden.“ Aber die bezahlen ja dann auch für meine Leistung. Also wir müssen uns für zwei bis drei Stunden super gut verstehen. Manche Kunden sind auch seelenlos. Die Seelenlosen sind mir die Allerliebsten. Die schaffen es nämlich nicht, sich danach zu freuen. Die sehen sich im Spiegel an und sagen: „Ja … OK … ist gut.“ Wobei Andere dann wieder ausrasten vor Freude und sich gar nicht mehr halten können.

Was ich mich immer gefragt habe bei Tätowieren und bei Zahnärzten, ist, ob es euch eigentlich Spaß macht, andere Menschen zu quälen.
Nee, überhaupt nicht. Bei Zahnärzten weiß ich es nicht, aber da glaube ich es schon eher. Also, wenn es jetzt jemand ist, den du überhaupt und absolut nicht leiden kannst, vielleicht schon. Aber solche Kunden hatte ich noch nie. Ich nehme es natürlich in Kauf. Ich kann ja auch Blut sehen. Ich kann ja Leuten weh tun. Ich kann Wunden sehen, ich kann Blut sehen, ich kann Nadeln sehen. Dabei habe ich selber panische Angst vorm Blutabnehmen. Und vor Kanülen und Spritzen. Und ich verstehe es auch nicht, warum die mir alle wehtun wollen. Aber ein Tattoo ist ja etwas Freiwilliges. Die Leute suchen sich das ja selber aus. Und sie fühlen sich danach schöner und haben etwas, was sie immer wollten, was sie an etwas erinnern wird und womit sie etwas verbinden. Das ist ja nicht so wie bei einer OP. Also kein Schmerzfetisch?
Nee, einen Schmerzfetisch habe ich gar nicht, da will ich einen großen Bogen drum machen. Dafür hab ich aber einen Fetisch für Männer in Frauenkleidern. Das mag ich gerne. Echt?
Ja. Ich liebe Männer in Frauenkleidern, ich finde das sehr sexy. Aber bitte nicht in solchen Blumenkleidern, sondern solche Klamotten, die ich tragen würde. Die ziehe ich meinem Freund zum Beispiel manchmal an. Das find ich ganz gut.

Fotos: Nadja Sayej