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Es gibt noch mehr Katholiban in Deutschland

Während sich die Kirche im Fall Kreuz.net betont abwendet, unterstützt der Papst die internationale Bewegung „Charismatische Erneuerung“, deren fragwürdige Exorzismen womöglich einige bereits in den Selbstmord getrieben haben.

Düstere Wolken ziehen über den erzkatholischen Teilen von Deutschlands Himmel zusammen. Und damit ist nicht die schier unfassbare Menschenverachtung von kreuz.net gemeint. Von Kreuz.net distanzieren sich Bistümer, Vatikan und die Deutsche Bischofskonferenz ja immer wieder gerne. Von der sogenannten „Charismatischen Erneuerung“ (kurz CE) allerdings nicht. Obwohl diese im Namen der sogenannten Neuevangelisierung seit den späten 1960er-Jahren vor einem Erstarken Satans, böser Mächte sowie einer Zunahme von satanischer und dämonischer Belästigungen warnt und damit bislang nicht Wenigen geschadet hat. Ganz im Gegenteil: Während man sich im Fall Kreuz.net betont abwendet, unterstützen viele deutsche Bistümer und der Papst die internationale Bewegung, die das Wiederkommen des Heiligen Geistes predigt. Johannes Paul II. sagte über die Charismatiker: „Die Charismatische Erneuerung kann als besonderes Geschenk des Heiligen Geistes für die Kirche von heute gelten“. Passenderweise bin ich während meiner Recherche zum Thema Exorzismus auf diese Bewegung innerhalb der katholischen Kirche gestoßen. Eigentlich suchte ich nach unserem letztjährigen Interview mit dem Exorzisten Pater Amorth nach Personen, die einen katholischen Exorzismus hinter sich haben. Denn auch wenn es befremdend klingen mag: Es gibt Menschen, die fest davon überzeugt sind, besessen zu sein. Auf einer in der Schweiz angesiedelten Website finde ich den Namen Hansmartin Lochner. Dieser und weitere namentlich genannten Priester nehmen, so lautet es auf der Website, vom „Bösen bedrängte Menschen ernst“ und können ihnen vielleicht helfen. In „DER FELS“, einer katholischen Zeitschrift, entdecke ich einen Artikel Lochners aus dem Jahr 2006. Dort schreibt er: „ … da meint man heute allen Ernstes, dass es keinen Satan und keine Mächte der Finsternis gibt und dass der Exorzismus deshalb überflüssig wäre.“ Da ich mehr darüber erfahren will, schreibe ich ihm eine E-Mail, in der ich vorgebe zu glauben, ich sei besessen. Lochner, eine der wichtigen Stimmen der Charismatischen Erneuerung in Deutschland, antwortet, dass nicht direkt von einer Besessenheit auszugehen sei. Denn eine solche sei „in Deutschland ausgesprochen selten“. Die käme in Italien viel häufiger vor. Lochner erklärt mir, woher mein Gefühl kommen könnte: „Es können z.B. Verwünschungen sein, Belastungen aus der Vergangenheit oder von den Vorfahren, nicht verarbeitete Erlebnisse, Angriffe böser Mächte usw.“ Meine Recherchen zeigen, dass sich genau in dieser zunächst fast verständig klingenden Aussage der perfide Kern der Charismatischen Erneuerung zeigt. Man geht hier nur deshalb ungern von einer „echten Besessenheit“ aus, weil dann das strenge Kirchenrecht greifen würde, das bei einem echten Exorzismus angewendet werden muss. Daher sprechen Charismatiker wie Lochner „nur“ von dämonischer oder satanischer Belästigung. Und die kann viel leichter festgestellt und so gut wie von allem ausgelöst werden. Zum Beispiel durch das Lesen von Horoskopen, eine homöopathische Behandlung, das Einnehmen von Schüsslersalzen, Yogaübungen, ein Besuch im Wellnessbad oder beim Osteopathen und viele weitere nicht-christliche Praktiken und Theorien. Durch diese Vereinfachung ist natürlich so gut wie jeder irgendwie von einem Dämonen oder Satan belästigt und wer das nicht einsieht, ist natürlich vom Teufel geblendet. Willkommen im Mittelalter 2.0! So will die Charismatische Bewegung konkrete Glaubens- und Erweckungserlebnisse herbeiführen, den Glauben für ihre Anhänger erlebbar machen. Die Bewegung ist gefühlsbetont. Dadurch lassen sich natürlich auch die Mitglieder stärker an sich binden. Stell dir also vor, du bist katholisch aufgewachsen, vielleicht Mitglied der „Jugendarbeit der Charismatischen Erneuerung“—einem grauenhaft lächerlichen Versuch jugendlich zu wirken—und dir geht es aus irgendeinem Grund tatsächlich richtig beschissen, du bist auf dem besten Weg, eine Depression zu entwickeln. Laut der Ansicht der Charismatiker bist du dann entweder selbst an deinem Zustand schuld, weil du eine verbotene Handlung (wie Horoskop-Lesen, Homöopathie, Yoga, Wellnessangebote etc.) begangen hast oder ein bereits verstorbener Verwandter hat „Schuld“ auf dich geladen! Was das für Auswirkungen auf einen psychisch labilen Menschen hat, erklärte mir eine Angestellte einer süddeutschen Diözese, die anonym bleiben möchte. Sie berichtet mir, dass „die Charismatische Erneuerung der katholischen Kirche davon ausgeht, dass durch eigene oder fremde Schuld eine Tür für das Böse geöffnet werden kann und Folge davon können dämonische Belästigungen sein. Diese Belästigungen können auch dadurch entstehen, dass das ‚Heil‘ nicht bei Gott, sondern anderswo gesucht wird.“ Das heißt, wenn du mal Yoga gemacht hast oder dein Großvater nicht täglich beichten war, ist die Chance riesengroß, dass du bald von einem Dämonen belästigt wirst. Aber das ist gar nicht mal so witzig, wenn du dir klar machst, dass diese Bewegung logischerweise Einfluss auf ihre Mitglieder ausübt. Besonders bei psychisch angeschlagenen Menschen kann das gefährlich werden: „Menschen, die in schwerer psychischer Not sind, weil sie beispielsweise unter Angstattacken oder einer Zwangsneurose leiden, und denen gesagt wird, sie seien aufgrund einer Verwünschung vom Bösen ‚besetzt‘‚ oder würden davon ‚belästigt‘, wird damit in keiner Weise geholfen. Im Gegenteil, die Symptome verfestigen sich häufig und nun wird den Menschen dafür auch noch die Schuld zugewiesen. Leider gibt es Fälle, in denen Menschen aufgrund dieser fahrlässig falschen Zuweisung als Erklärung ihrer Symptome Suizid begingen“, erklärt die Mitarbeiterin der süddeutschen Diözese. Im Namen des angeblich stärker wiederkehrenden Heiligen Geistes werden demnach, so scheint es, Selbstmord und Verschlimmerung psychischer Erkrankungen in Kauf genommen. Die Bistümer in Deutschland oder die deutschen Medien interessiert das bislang nicht. Ich schrieb Lochner noch eine zweite E-Mail und bat ihn um ein Interview. Anfangs war er dazu bereit, schickte mir sogar sein Büchlein. Doch in den letzten Wochen konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Gerne hätte ich ihn persönlich erklären lassen wollen, was er dazu sagt, dass die Bewegung, für die er einsteht, ein so starkes Leid bei psychisch Erkrankten herbeiführen kann, dass sie nur noch in Selbstmord—und nicht in Gott!—einen Ausweg sehen. In seinem Pamphlet schreibt Lochner: „Mit der 68er-Revolution begann dann der Großangriff gegen die Familie sowie gegen alles Gesunde und Gute in unserem Volk.“ Womit diese Formulierung Ähnlichkeit hat, brauche ich dir nicht zu sagen.

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