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Tausende feiern auf der Gay Pride in Istanbul

Während Erdogan die Türkei immer mehr auf seine konservative Linie bringt, setzte die größte Schwulenparty der islamischen Welt ein Zeichen für den Widerstand.

Anlässlich der 12. Istanbuler Schwulenparade versammelten sich am Sonntag tausende Menschen im Zentrum der Stadt. In der islamischen Welt ist die Gay Pride Istanbul die größte Veranstaltung ihrer Art.

Wie immer war die Demonstration nicht offiziell sanktioniert. Abgesehen von einer kleineren Konfrontation mit den gedrängt stehenden Bereitschaftspolizisten, die den Zugang zum bedeutungsgeladenen Taksim-Platz versperrte, verlief der Tag jedoch friedlich.

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Ein in Regenbogenfarben maskierter Demonstrant beim Diskutieren. Alle Fotos von John Beck.

In der Türkei ist die homosexuelle Lebensführung zwischen einverständigen Erwachsenen legal—im Gegensatz zu vielen anderen muslimischen Ländern. Im Iran, in Saudi-Arabien, in der Vereinigten Arabischen Emirate und im Jemen zum Beispiel droht Homosexuellen die Todesstrafe.

Dennoch ist die Intoleranz auch in der Türkei weit verbreitet. 84 Prozent der Türken gaben an, dass Schwule oder Lesben zu den Menschen zählen, die sie am ungernsten als Nachbarn haben möchten. Das ergab eine Studie, die 2011 im Rahmen der World Values Survey durchgeführt wurde.

Dieses weit verbreitete Vorurteil wächst sich oft zu Diskriminierungen, Beleidigungen und Gewalt aus. Interessenvertretungen sagen, dass Hassverbrechen gegen LGBT-Personen in keinem anderen Mitgliedsland des Europarats so verbreitet sind wie in der Türkei.

Vor ihrem Endspurt legen die Demonstranten eine Pause in der Nachmittagssonne ein.

Es gibt dokumentierte Fälle von „Ehrenmorden“, zum Beispiel der Mord an Ahmet Yildiz im Jahr 2007 oder der Angriff gegen den 17-jährigen Rosin Cicek. Weil er schwul war, wurde er von seinem Vater und Onkeln erst verprügelt und dann mit 17 Schüssen getötet.

Transgender, die ihre Identität schlechter geheim halten können, sind noch stärker gefährdet. Transfrauen, die oft keine feste Anstellung finden können und zum Überleben zur Sexarbeit gedrängt werden, sind einem besonders hohen Gewaltrisiko ausgesetzt. Zwischen Januar 2008 und Dezember 2012 wurden in der Türkei dreißig Transgender-Personen getötet, wie einem Transgender-Europe-Bericht aus dem Jahr 2013 zu entnehmen ist.

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Eine Pride-Demonstrantin pustet Luftblasen auf ihre Mitstreiter.

Trotz neuer Gesetze gegen Hassverbrechen, die von der konservativen AKP eingebracht worden sind, hält das türkische Justizsystem keine Gesetze gegen Diskriminierungen oder Gewalt aufgrund von sexuellen Orientierungen oder Genderidentitäten bereit.

„Es ist wichtig, dass [Proteste], die in einem Land wie der Türkei stattfinden, unterstützt werden“, erzählt Jack, ein 34-jähriger Amerikaner, der in Istanbul lebt, VICE News. „[Als LGBT] hat man es hier schwer, man wird manchmal in den Schatten gedrängt.“

Demontranten erklimmen die Skulptur auf dem Tünel-Platz.

Die Diskriminierungen beginnen an der Spitze. Die AKP-Politikerin und ehemalige Frauen- und Familienministerin Selma Aliye Kavaf bezeichnete Homosexualität bekanntlich als biologische Störung und Krankheit. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan sagte, dass Homosexualität „im Widerspruch“ zur Kultur des Islam stünde.

Bei der Parade mischen sich Gesänge, die sich über Erdoğan und die AKP lustig machen, mit Forderungen nach LGBT-Rechten. Etliche Teilnehmer sagten, das Gefühl zu haben, dass die Kluft zwischen den zunehmend liberalen säkularen Türken, die sich letzten Sommer an den Anti-Regierungsprotesten im Gezi-Park beteiligt haben, und dem traditionelleren Teil der Gesellschaft, der von der AKP repräsentiert wird, immer größer wird.

Eine Anführerin der Demonstration fordert die Teilnehmer während einer Pause zum Hinsetzen auf.

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Merve, eine glamourös gekleidete Transfrau und Aktivistin, meinte gegenüber VICE News, dass die Teilnehmerzahl im Vergleich zu 2013, als die Parade durch die Gezi-Proteste unterstützt wurde, gesunken sei. Dagegen scheint in diesem Jahr jedoch das Interesse der Medien gestiegen zu sein.

„Es ist wundervoll“, sagte sie. „Letztes Jahr war es sehr voll, und auch wenn jetzt nicht so viele Leute da sind, ist es gut, da wir mehr Aufmerksamkeit bekommen.“

Ein in Ketten und Leder gekleideter Mann hört mit seinen Peitschenschlägen inne, um für ein Foto zu posieren.

Die inländischen Medien hatten bisher kein Verständnis für die Rechte von LGBT. Die türkischen Behörde RTÜK, die den Rundfunk reguliert, zensiert LGBT-Inhalte oft. Sie verbot die Ausstrahlung von Sex and the City 2, unter anderem, weil der Film eine „verdorbene und unmoralische“ Schwulenhochzeit zeigt.

Darüber hinaus verbietet der staatliche Telekommunikationsbehörde (TIB) Providern, das Wort „gay“ in Domain-Namen und Webseiten zu verwenden, und sperrt LGBT-Internetforen, berichtet Freedom House.

Demonstranten klettern am Ende der Parade auf eine Skulptur auf dem Tünel-Platz.

Um eben diesem Mangel an Informationen und Berichterstattungen entgegenzuwirken und seinen Landsleuten zu zeigen, dass es in der Türkei LGBT gibt, nimmt der 22-jährige Berdan an der Demonstration teil, wie er VICE News erzählt.

„Wir müssen sichtbar sein. Ich wusste eine Zeit lang nicht, dass es Menschen wie mich gibt. Jetzt zeigen wir den Menschen, dass wir existieren.“ Er hielt für eine Sekunde inne und sah sich um. „Selbst mir war nicht klar, dass es so viele gibt.“

Folge John Beck auf Twitter: @JM_Beck