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DIE LITERATURAUSGABE 2012

Über die Krankheit

Amelia Gray erkundet die Irrungen und Wirrungen der Hypochondrie.

Illustration von Stein Brianhoff

William war ein Spucker. Seine Auswürfe—Farbe, Konsistenz und Volumen wie bei einem Baby—begleiteten jeden Satz, den er sprach. Diese unglückliche Tatsache seines Lebens begann ganz unschuldig, als er das erste Gurren und Brabbeln im Kindesalter von sich gab, aber als er dann immer noch seine Malbücher vollkotzte, waren die Ärzte ratlos. Er musste in der Grundschule einen Pappbecher mit sich herumschleppen. Als er dann auf die Highschool wechselte, brauchte er keine Angst mehr vor direktem Spott zu haben, weil er keine Freunde hatte. Und dann machte sein ganzes Umfeld den Abschluss und verließ die Stadt und er war glücklicherweise und glückselig allein. Nachdem William die Highschool beendet hatte, nahm er einen Job bei der Post an, wo die Kunden entweder geschwächt oder verrückt waren und jeder größere eigene Probleme hatte. Er spuckte in eine leere Plastikflasche. Seine Mitarbeiter gingen davon aus, dass er Tabak kaute und schenkten ihm Dosen davon zum Geburtstag. Jeden Tag auf der Arbeit stand er hinter seinem Tresen und studierte eindringlich eine Karte von Nordamerika, die über dem Tisch hing, auf dem Leute Anträge für Adressänderungen ausfüllten. Die Zeit verging und William begann ein visuelles Interesse an den nordwestlichen Regionen Kanadas, ganz oben auf der Karte, zu entwickeln. Er stellte es sich als einen angenehm desolaten Ort vor. In den Zigarettenpausen wusch er seine Plastikflasche im Waschbecken im Hinterzimmer aus. Eines Tages kam eine Frau an seinen Schalter. Ihr Gesicht war rissig vom Wind und ihr rechter Arm steckte in einer sterilen Bandage. Sie drückte einen Katzenkorb an ihre Brust und trommelte mit ihren Fingernägeln auf die Plastikschale. „Was macht die Lerche?“, sagte sie. „Ich bitte um Entschuldigung?“, sagte William, während er die Flasche an seine Lippen hob. Sie würgte auch ein bisschen was Eigenes hoch. Ihre Wangen schienen mit einer dünnen Paste bedeckt zu sein. „Was macht die Lerche, was macht die Lerche?“, sagte sie. „Die Lerche?“ „Die Lerche, die Lerche“, sagte sie, während sie einen Fingernagel unter die Bandage schob und sich zu kratzen begann. „Erste-Klasse-Briefmarken kosten 41 Cent pro Stück“, sagte William. Er hatte den Satz halb beendet, als es ihn überkam, und er musste sich am Tresen festkrallen, um ihn zu beenden, als die Galle in ihm aufstieg. „Wir haben ein paar mit Vögeln darauf, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Feldlerche darunter ist.“ Die Frau wuchtete den Katzenkorb auf den Schalter. Innen fauchte eine rot-getigerte Katze ihre Warnung. William konnte nicht wirklich hineinsehen, aber es sah so aus, als würden der Katze alle vier Beine fehlen. „Die Leeerche, die Lerche Lerche, die Lerche Lauer Lache Lerche“, sagte die Frau. Sie sprach in einem nüchternen Tonfall, so als ob sie sich nach den Versandkosten in die Nordwest-Territorien erkundigen würde. William fragte sich, ob sie sich vielleicht tatsächlich nach den Versandkosten in die Nordwest-Territorien erkundigte—ob sein Gehirn die wahre Bedeutung ihrer Worte dechiffrierte und sie ihm als entfernte Möglichkeit ausrichtete, oder ob er in Wahrheit zu guter Letzt seinen Verstand verloren hatte und bis zum barmherzigen Ende nur noch entstellte Sätze hören würde. Die Katze rollte sich im Korb auf den Rücken und maunzte. „Versandraten sind davon abhängig, was Sie verschicken“, sagte er. Er spuckte in die Flasche und zog ein weißes Taschentuch aus seiner Tasche, um einen schimmernden Faden Spucke abzuwischen. „Wenn Sie gedenken, Ihre Katze hier zu versenden, dann sollten Sie wissen, dass nur Bienenköniginnen per Luftfracht via USPS verschickt werden können und das könnte für Sie ziemlich teuer werden, vor allem international.“ Er hatte noch nie so viele Worte in einem ununterbrochenen Schwall gesprochen. Ein Kollege sah hinter einem Stapel Pakete auf. Für einen seltsamen Moment war William unbeeinträchtigt, aber bevor er erleichtert aufatmen konnte, spürte er es in sich hochsteigen. Er klammerte sich an den Schalter, um sich zu stützen, und griff blind nach dem Mülleimer. Seine Hand fand eine offene Schachtel und er brachte sie vor sein Gesicht, bevor sich die Sturzflut ergoss. Kunden unterbrachen ihre Gespräche, um zuzusehen. Eine andere Kollegin bedeckte ihren Mund mit beiden Händen. Die Flüssigkeit weichte den Karton durch und spritzte auf sein Hemd zurück. Er konnte darin den Geruch der warmen Milch seiner Mutter erkennen, ihre Kolostralmilch. Die Lerchenfrau balancierte ihren Katzenkorb auf der Waage und heulte vor Lachen. William erlebte die gleiche Abwesenheit von Gedanken, die er während des Vorgangs immer spürte. Aber weil diese Episode so lange dauerte, merkte er, dass er in der Leere weitergehen konnte, als jemals zuvor. Er realisierte, dass die Leere ihre eigene Topografie besaß, eine Bergkette unter einem Ozean, die sich zeigte in wechselnden Momenten von Angst und Ruhe, die wiederum von der Leere gedämpft wurden und Teil davon waren. Diesmal war da kein verkrampfter Kiefer und kein Sich-Wegdrehen, das normalerweise seine Schübe begleitete. In diesem Moment spürte William seine wahre Freiheit. Er wurde Zeuge davon. Er blickte nach unten und sah, dass sein unbeabsichtigtes Ziel eine Box voller Portomarken für Massenversand gewesen war. In diesem Moment hielt er einen Dollarwert von Hunderten, wenn nicht Tausenden an ruinierten Briefmarken in der Hand. Sie klebten am Karton, wo sie wahrscheinlich für immer bleiben würden. Die Box entwickelte Schwere und Wärme zusammen mit seinem Schuldgefühl angesichts der Zerstörung von Staatseigentum. Das Lachen der Lerchenfrau beruhigte sich zu ein paar vereinzelten Prustern. Sie schwankte von einem Fuß auf den anderen und lächelte. Die anderen im Raum blieben starr vor Schock. William und die Lerchenfrau lehnten sich wie ein altes Paar an einem Küchentisch zueinander. „Warst du schon mal in Kanada?“, fragte er. Sie nickte energisch. Als sie sah, dass ihm wieder schlecht wurde, streckte sie ihre Hände zu ihm aus. Er hatte eine Vision von ihrem Haar, verfilzt zu einem Kranz aus dunklem Eis, als er seinen Mund öffnete, um die Schale, die sie mit ihren Händen gebildet hatte, zu füllen.