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Krise in der Ukraine

Wir sprachen mit den Polizisten, die in Kiew als Geiseln genommen wurden.

„Jetzt will ich nur noch nach Hause und irgendeinen normalen Beruf haben. Ich will keine Seite wählen, ich will nur nach Hause.“

Noch immer ist umstritten, was genau den erneuten Gewaltausbruch am Donnerstag, dem blutigsten Tag der Proteste in Kiew, verursacht hat. Polizei und Demonstranten geben sich gegenseitig die Schuld. Unumstritten ist, dass mit improvisierten Waffen, Molotow-Cocktails und Steinen bewaffnete Demonstranten kurz nach dem Bruch des Waffenstillstandes in den von der Polizei besetzten Oktoberpalast und das Ukraine-Haus eindrangen, um ihre am Dienstag verlorenen Positionen zurückzuerobern.

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Die aus dem Schlaf gerissenen Sicherheitskräfte traten die Flucht aus dem Gebäuden an, aber nicht alle waren schnell genug. Ungefähr 60 Polizisten und zwei ihrer Befehlshaber wurden von den Demonstranten eingekesselt, entwaffnet und zum Maidan gebracht. Kurz darauf verlegte man sie in das Gebäude einer Energiefirma, wo ich mit ihnen sprechen konnte.

Als wir Journalisten in das Gebäude gebracht wurden, standen die Polizisten auf, als würden sie gleich inspiziert. Keiner schien ernsthaft verletzt. Von den Kommandeuren erfuhr ich, dass es sich größtenteils um Wehrdienstleistende (in der Ukraine kann man seinen Wehrdienst entweder bei der Armee oder fürs Innenministerium leisten) aus der Ostukraine handelte.

Tymur Tsoi, Befehlshaber der Einheiten von der Krim

Tymur Tsoi

Welche Befehle führten Sie aus?
Unser einziger Auftrag war, das Verwaltungsgebäude und die hohen Funktionäre darin zu schützen. Als die Provokateure—oder wie auch immer Sie diese Leute nennen, die die Angriffe beim Parlament angefangen haben—zu kämpfen begannen, war die einzige Möglichkeit, dieses Auftrag durchzuführen, sie zu einem Punkt zu treiben und die Gebiete zu begrenzen, in denen sie sich bewegen können. Wir wurden losgeschickt, um den Kordon der Bereitschaftspolizei zu stärken.

Hatten Sie und Ihre Männer scharfe Munition?
Wir hatten nur Arm- und Beinschutz, schusssichere Westen, Handschellen und Gummiknüppel. Wir haben auch Schusswaffen, aber wir haben die ganze Munition in den Stationen gelassen. Der Einsatz von scharfer Munition bedarf einer speziellen schriftlichen Erlaubnis, nur dass Sie es wissen.

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Würden Sie sagen, dass Sie und Ihre Männer als lebendes Schutzschild für die Einheiten der Berkut [Spezialpolizei des Innenministeriums] eingesetzt wurden?
Ja, wenn Sie das so nennen wollen, wir wurden als lebende Schutzschilder benutzt.

Wenn Sie jetzt freigelassen werden, was würden Sie tun? Sich zum Dienst zurückmelden?
Ja, ich würde zurückgehen, um zu dienen. Und wenn es nötig wäre, würde ich meine Befehle, Regierungsgebäude zu schützen, weiter ausführen. Aber sollten wir losgeschickt werden, um die Barrikaden anzugreifen, würde ich meine Männer nicht dazu bewegen können—sie werden die Barrikaden nicht angreifen.

Vasyl Tur, Kommandeur der Einheit aus Dnipropetrovsk

Wie wurden Sie gefangengenommen?
Ich weiß nicht genau, was passiert ist, ich habe da nämlich geschlafen. Wir wurden morgens geweckt und wir bekamen den Befehl rauszugehen. Wir gingen also raus, und innerhalb von Minuten rannte alles los, und ich wurde mit meinen Neulingen zurückgelassen. Manche von denen haben erst vor drei oder fünf Tagen zum ersten Mal das Schild genommen.

Was war Ihre Aufgabe?
Die einzige Aufgabe war, die öffentliche Ruhe zu bewahren. Wir hatten keine Befehle zu schießen oder anzugreifen, wir hatten nicht mal Waffen außer der Standardausrüstung—Schutz und Gummigeschosse.

Würden Sie einen Angriffsbefehl ausführen? Wäre Ihr Beruf Ihnen Menschenleben wert?
Kein Beruf der Welt ist ein Menschenleben wert. Und wir hatten nie vor, jemanden anzugreifen, und würden das auch nicht tun. Ich will nochmal betonen, dass die Hauptaufgabe jedes Kommandeurs ist, seine Leute zu schützen.

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Oleksiy Kabatskyi, 21, Luhansk, seit drei Jahren Polizist Wie bist du zur Polizei gekommen, und was wirst du tun, wenn man dich freilässt?
Ich hatte mein Jahr Wehrdienst abgerissen und entschied, dass es mir gefiel und dass ich zwei weitere Jahre bleiben würde. Jetzt gefällt es mir nicht mehr. Ich habe nur die Schule abgeschlossen und dachte, die Polizei wäre eine gute Idee. Denke ich jetzt nicht mehr. Jetzt will ich nur noch nach Hause und irgendeinen normalen Beruf haben. Ich will keine Seite wählen, ich will nur nach Hause.

Denkst du, dass die Situation auch friedlich hätte gelöst werden können?
Natürlich hätte sie das. Wenn unsere verdammten Gouverneure ihre verdammten Hirne benutzen könnten.

Evhen Tkachenko, 24, Luhansk, Leutnant, seit sieben Jahren Polizist

Wie sind Sie zur Polizei gekommen, und was werden Sie tun, wenn man Sie freilässt?
Ich habe in der Polizeiakademie studiert, um Polizist zu werden, aber jetzt will ich aufhören, wenn ich kann, wenn sie mich lassen. Aber es kann auch sein, dass es dafür keine Möglichkeit mehr gibt, jetzt kann alles passieren.

Haben Sie scharfe Munition oder sonst irgendwelche Waffen benutzt? Oder andere Polizisten gesehen, die das getan haben? 
Wir reden hier über die Inneren Sicherheitstruppen. Wir haben keine Waffen, nur Gummiknüppel. Ich persönlich habe keine Berkut mit Waffen oder sonstwas gesehen, aber es gibt eine Menge anderer Innerer Divisionen wie Alfa oder Omega. Die haben ihre eigenen Kommandeure und Koordinatoren, die haben andere Befehle und Pläne und die haben vielleicht scharfe Munition.

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Mykhailo Deshko, 21, Krim, Wehrdienstleistender seit elf Monaten

Hattest du Angst, als du nach Kiew kamst?
Natürlich hatte ich Angst! Ich würde hier nie hinkommen, wenn ich könnte. Ich bin hierher gekommen, um meinen Dienst abzuleisten wie ein echter Mann, und was habe ich dafür bekommen! Vor ein paar Tagen wurde ich von einem Molotow-Cocktail erwischt, aber ich wurde nicht verletzt, es hat nur die Klamotten erwischt. Mein Dienst ist offiziell am 23. Februar zu Ende. Ich kann mir nicht vorstellen, wie zur Hölle das hier passieren konnte!

Konntest du deine Familie kontaktieren?
Das letzte Mal habe ich meine Mutter vorgestern angerufen. Jetzt hat man uns die Telefone weggenommen. Aber ich mache mir echte Sorgen, meine Mutter hat Probleme mit dem Blutdruck.

Maksym Prytys, 19, Dnipropetrovsk, Wehrdienstleistender seit fünf Monaten

Maksym Prytys

Wie wurdest du gefangen genommen? Wurdest du verletzt?
Wir sind heute morgen angekommen und haben uns zum Schlafen ins Haus der Ukraine gelegt. Wir wurden mit dem Befehl geweckt rauszugehen. Wir gingen raus und wurden in zwei oder drei Minuten angegriffen. Irgendjemand trat mich, ich konnte nicht sehen, wer oder wie, ich schützte meinen Kopf mit dem Schild. Aber es war auch nur kurz, dann brachten sie uns zur Bühne, wo sie uns alle medizinisch versorgt haben. Jetzt geht‘s mir gut.

Was hältst du von der Situation im Land?
Ich bin schlecht mit Politik. Ich weiß nicht, warum das alles passiert ist, aber ich weiß, dass die Leute nicht ohne Grund Polizisten schlagen oder sie mit Steinen bewerfen. Wahrscheinlich aus Verzweiflung.

Maryan Kovalevych, 20, Dnipropetrovsk, Wehrdienstleistender seit fünf Monaten

Hast du während der Zeit je daran gedacht, die Befehle nicht zu verfolgen?
Soll das ein Witz sein? Befehlsverweigerung bedeutet mindestens fünf Jahre Gefängnis, das ist kriminell. Und du kannst dir ja vorstellen, was mit einem Polizisten im Gefängnis passiert! Außerdem war unser einziger Befehl zu stehen und den Kordon zu halten.

UPDATE: Nachdem die Freilassung der Polizisten gestern Nacht von aufgebrachten Demonstranten zuerst verhindert wurde, gelang es den gemäßigteren Demonstranten und zwei Priestern nach einstündiger Verhandlung, die Weiterfahrt des Busses zu erwirken. Die Polizisten befinden sich anscheined auf dem Weg nach Hause.