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Ukrainische Unmoral

Kritiker von Putins Russland und in Kiew fordern kulturelle Befreiung statt einzelner politischer Zugeständnisse. Wir haben die Medienaktivisten und Künstler von Looo.ch interviewt, die gegen Gehorsam und eine konservative Moral kämpfen.

Bild: Looo.ch (Alle Bilder verwendet mit freundlicher Genehmigung)

Der seit Wochen andauernde Aufstand in der Ukraine ist nicht nur ein Protest gegen den anti-euorpäischen Kurs von Premierminister Viktor Janukowytsch—sondern auch gegen Korruption und reaktionäre Moral. Und auch eine Putinsche Begnadigung, wie die Freilassung von Chodorkowski, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kritiker eine kulturelle Befreiung, noch grundlegender als einzelne politische Zugeständnisse fordern.

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Das in die USA geflüchtete Künstlerduo Anatoli Ulyanov and Natasha Masharova versucht seit Jahren nicht weniger als eine neue Kultur in der Ukraine und in Russland zu propagieren. Sie tragen den Kampf gegen die festgefahrene moralische und gesellschaftliche Stimmung seit Jahren über ihre Web-Plattform und das Kunstprojekt Looo.ch aus. Ihre Mission lautet das Unkonventionelle zu untersuchen und das Konservative zu terrorisieren, und damit haben sie sich insbesondere innerhalb der kritischen und ästhetisch progressiven Szene Russlands und der Ukraine eine Gefolgschaft aufgebaut, die ihre Werke zirkuliert und in sozialen Netzwerken diskutiert.

Sie waren Herausgeber von PROZA, einer philosophischen Porno-Seite für Gegenwartskultur, und von SHO, einem Magazin für kulturellen Widerstand. Nach ihrer Kritik am Bürgermeister Kiews und dem ukrainischen Moral-Komitee mussten sie ihre Heimat jedoch aufgrund von gewalttätigen Angriffen durch gekaufte Nationalisten verlassen. Seit inzwischen fast 5 Jahren leben sie im politischen Exil in New York und arbeiten weiter auf ihrer Mission mit multimedialen Mitteln die Kultur zu hacken.

Wir haben uns mit Anatoli und Natasha darüber unterhalten, wie sie mit E-Books, Dokumentation und Cyber-Space-Aktionen zur Befreiung der Information und zu einem besseren Land gelangen wollen, trotz der Sperre ihrer Website durch die russische Regierung und andauernde Angriffe von religiösen Fanatikern.

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VICE: Wie seid ihr auf die Idee für euer Projekt gekommen?
Looo.ch: Nach einer Reihe Gewalttätiger Angriffe religiöser Nationalisten waren wir 2009 gezwungen unsere Heimat zu verlassen und lebten für einige Zeit in Berlin. Das erste Mail seit langer Zeit konnten wir uns frei auf der Straße bewegen, während wir zuvor unter andauernder Bedrohung in der Ukraine gelebt hatten—mit unseren zwei Bodyguards, zwei Todesengeln aus den post-sowjetischen 90er Jahren. Einige Monate später wurde unser Magazin PROZA verboten, von den Zensoren des Moralausschusses—ja solche Schweine gibt es wirklich in der Ukraine. Danach wurden uns zwei Dinge klar. Erstens: Es gibt keinen Unterschied zwischen Kunst und Politik. Und zweitens: Um die Welt zu verändern, musst du die Gedanken der Menschen verändern und dafür musst du die Kultur hacken. Also entwickelten wir eine Webseite, die mit der Waffe Information das konservative Denken verändert. Ungefähr so wie eine Darmspülung—aber auf positive Weise.

Die Reaktion eurer Leser schwankt zwischen kompletter Ehrfurcht und irrationalem Hass—aber niemand bleibt indifferent. Ist das euer Ziel oder nur ein Nebeneffekt eures Projekts?
Irgendein Schlaumeier hat mal gesagt, dass Kunst dort beginnt, wo das Allgemeine, das Bürgerliche endet. Wir wissen, dass unser Kram nichts für ein gemütliches Kaffeekränzchen ist. Kunst sollte ein Akt der Gewalt und des Schmerzes sein und dich in ungewohntes Terrain führen; dies mag im ersten Augenblick feindlich wirken, aber es ist notwendig, um die Menschen aufzuklären. Hass ist nicht das worum es geht, sondern eine erwartbare Reaktion auf jeden der für Veränderungen eintritt. Looo.ch kann nicht nett sein. Du kannst nicht politisch korrekt sein, wenn sich vor dir ein zweites Mittelalter entwickelt. Und ich rede hier nicht nur von Russland—sondern von einem globalen Problem. Von dem russischen Gesetz gegen die Propaganda von Homosexualität bis zu dem Bann nackter Köper auf Facebook in den USA—wir befinden uns im Krieg.

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Und worum geht es in diesem Krieg? Es geht um Information. Die Verurteilung von Chelsea Manning, Edward Snowden, Wikileaks und The Piratebay, der Kampf um das Copyright, Zensur in sozialen Netzwerken, Regierungsüberwachung. Stets geht es um Information; das ist der Schlüssel zu allem. Wir kämpfen deshalb nicht für eine spezifische Idee, sondern für die Freiheit von Information insgesamt. Nichts sollte verboten werden. Kultur ist ein Labor der Sinne und Symbole mit denen experimentiert werden darf, unabhängig davon, für wie schlimm die Moral sie hält. Durch Vorbote sperren wir nur unsere Vorstellungskraft ein. Das ist gegen die Evolution und sorgt nur dafür, dass wir abhängig werden von denen die uns beherrschen wollen.

Wie geht ihr mit der andauernden Repression um? Looo.ch befindet sich sowieso in konstanter Mutation. All die Verbote sind nervig, aber sie helfen uns auch neue Wege zu finden, um die Zensur auszutricksen. Von einem Portal, zu einem Blog, sind wir jetzt eben eine Medien-Plattform, welche unsere verschiedensten Kanäle und Projekte vereint—eigentlich sind wir einfach ein Guerilla-Studio. Seit wir verstanden haben, dass Information dezentralisiert werden muss, um sie vor den Zombies der Vergangenheit zu schützen, publizieren wir auch unsere Dateien durch Piratenkanäle wie Torrent, um sie wirklich zu verbreiten. Unsere neueren Texte publizieren wir als PDF oder über epub um sie unabhängig von Servern, URL’s und sogar von uns zu machen. Der Fokus von Looo.ch liegt heutzutage aber auf Videos—insbesondere Dokumentation, da die Bildsprache globaler ist, und weniger leicht kompromittiert werden kann durch Nationalismus als Text.

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Die Mehrzahl eurer Leser kommt aber immer noch aus Russland, auch wenn ihr euch um Asyl in den USA bemüht und auch eure gegenwärtige Realität in eure Arbeit mit einbindet. Bedauert ihr es, heute weniger mitten im Geschehen zu sein als früher?
Es ist schwer, Bedauern für die Hölle zu empfinden. Unsere Nostalgie gilt höchstens einer Nostalgie für die Zukunft. Wir widersprechen aber der Idee, dass „unsere Perspektive aus der Ferne“ unsere Position schwächt oder abstuft. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne von der lokalen Ideologie und Stimmung beherrscht zu sein, können wir unsere Meinung weiter denken und offener ausdrücken. Geographie ist sowieso nicht mehr so wichtig, da wir heute durch ein globales Informationsnetz verbunden sind.

Wir sind die neue Generation von Zigeunern, Cyber-Dissidenten. Keine Welt wird jemals ein Zuhause sein, also der Ort wo wir hingehören. In diesem existentialistischen Stadium sind wir weder Russen noch Amerikaner. Wir sind Menschen von dem romantischen Stamm reisender Träumer. Und deshalb kommen wir zum Höhepunkt mit Poesie.

Apropos Poesie. Auf eurer Webseite heißt es einleitend: Loch bedeutet Sex und Tod—klingt verlockend. Könnt ihr das näher erklären?
Was gibt es denn sonst noch außer Sex und Tod? Das eine bedingt das andere. Stell dir einmal Unsterblichkeit vor. Dann fürchtest du dich auch vor nichts. Und das bedeutet, dass du keine Affekte spüren kannst, keinen Wut, keinen Hass, keine Liebe. Der Tod ist ein Antrieb unserer Gefühle. Ohne den Tod sind wir keine Menschen sondern Maschinen. Der Tod bedeutet auch alles, was über unser Wissen des Universums hinausgeht—Unbekannt aber konstant präsent, wie dunkle Materie. Sex ist dagegen alles was wir tun, es bedeutet lebendig zu sein. Unsere Kultur lehnt alles ab, was mit Tod zu tun hat, wofür das Universum wohl nur ein lol übrig hat. Ich finde deshalb gegenwärtige Fashion-Fetische für Satanismus und Gothic-Kram ziemlich vielversprechend. Das ist mehr als nur Baudrillard-Style Simulation, das ist ein historisches Erwachen von unserer schizophrenen Ablehnung des Todes. Wir beginnen die dunkle Seite des Mondes zu akzeptieren. Sex und Tod sind keine Gegner. Sie sind Liebhaber.

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Es fällt mir schwer nicht zuzustimmen. Aber andererseits ist das ständige Nachleben von Trends aus der Vergangenheit doch auch ein Zeichen für ein Fehlen emotionaler Intensität und Freiheit in unserer Zeit.
Freiheit ist relativ und subjektiv. Dieser Mangel an Wahrheit und Intensität von dem du sprichst ist nicht das Problem, sondern der Vorteil der Hipster-Generation. Ihre Oberflächlichkeit verwandelt alles in einen cool-aussehenden T-Shirt Druck. Auch Gott und Führer. Ideologie auf ein Accessoire reduziert wird harmlos.
Unsere Zeit mag sich fake anfühlen, aber statt für die guten alten Tage zu beten, sollten wir die Leere der Gegenwart als Einladung verstehen. Wir können bestimmen. Die wahre Herausforderung ist, diese Post-Hipster-Sterilität als Umgebung zur Kreation einer neuen Kultur zu verstehen.

Looo.ch Video zu einem ehemaligen Lehrer aus der Ukraine.

Wie sieht eure Vision für die Zukunft im Angesicht der Leere der Gegenwart aus?
Looo.ch ist optimischerweise pessimistisch. Wir glauben, dass die Zukunft interessant und intensiv werden wird. Leere ist immer nur temporär. Die Frage ist nur womit sie gefüllt werden wird. Wir träumen von einer neuen Ära der Romantik und Naivität—ein Ende des sozialen Autismus und der Angst, nicht der Rolle normaler und erfolgreicher Bürger zu entsprechen. Eine Zeit, in der wir alle unsere Masken abwerfen.

Gleichzeitig haben wir allen Grund anzunehmen, dass die kommenden Ereignisse voll von schrecklichem Terror sein werden. Einer der Hauptgründe ist die liberale Absicht Konflikte zu vermeiden, Aggression zu unterdrücken, einfach nur total nett und super vegan zu werden. Das ist dieselbe Scheiße wie die christliche Idee der reinen Seele oder des guten Menschen. Es ist völlig entrückt von der Realität der Menschen und stärkt nur den Konservatismus und individuelle Konflikte.

Und das ist ein weiterer Grund, warum wir Informationen befreien müssen—egal wie beängstigend sie für die Moral unserer Gesellschaft sein mögen. Wir müssen die Chance haben, mit jeder Art von Idee umgehen zu können. Unterdrücken hilft nicht, wir müssen verstehen und damit arbeiten.