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Umfrage in Londons ‚coolstem Viertel‘: Ist Berlin noch cool?

Wer soll das schließlich besser beurteilen können als die guten Leute des (laut Bauunternehmern und Immobilienmaklern) coolsten Ortes in London?
Drew Schwartz
Brooklyn, US

Titelfoto: Mittags in Berlin. Es ist richtig was los. Die Coolness hält | Foto: Grey Hutton

Schlechte Neuigkeiten, Freunde: Berlin ist tot. Oder zumindest scheinen das alle so zu sehen.

Die Hauptstadt der Bundesrepublik galt lange als das ultimative Ziel für Künstler, Musiker, Studierende, Hausbesetzer, Rucksacktouristen, Expats und diverse andere Pleitegeier, doch nun hat eine eindrucksvolle Reihe an Medien verkündet, es habe sich ausberlinert.

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In einem Artikel für Slate schreibt Lucian Kim—der ein Jahr nach dem Mauerfall nach Berlin zog (sehr cool), mit einem Haufen Punks in einem Lagerhaus wohnte (sehr cool) und mit einem Eimer voll Pflastersteine Neonazi-Skins abwehren musste, als sie in seine Wohnung eindringen wollten (SO COOL)—, „das Coolsein" habe „Berlin ruiniert".

Kim steht mit seiner Meinung nicht allein da. The New Republic berichtet, die Hipness der Stadt werde „aggressiv künstlich fabriziert". Max Read behauptet auf Gawker, mediale Aufmerksamkeit von den Großen des internationalen Geschäfts wie New York Times und Rolling Stone bedeute für Berlin „das Ende der (mehr als?) ein Jahrzehnt währenden Position als coolste Stadt der Welt". Und auch in den eigenen Landen hat man die Stadt aufgegeben: Der Spiegel findet, Leipzig sei die neue Kulturhauptstadt: „Wie Berlin, nur besser."

Aber ist Berlin nicht eigentlich ziemlich großartig? Es ist billig, es gibt eine florierende Kunstszene und hier fanden einige der wichtigsten politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts statt—und diese Tatsache hat die Spreemetropole ja auch zu der Stadt gemacht, die wir kennen und lieben.

Da ich alleine mit meiner Grübelei über den Coolness-Faktor Berlins nicht weiterkam, habe ich mich für eine Umfrage an den aktuell hipsten Ort einer ebenfalls einst ziemlich coolen Stadt begeben: Peckham in London. Dort habe ich Leute, die in der letzten Zeit Berlin besucht haben, nach ihrer großstädtischen Expertenmeinung gefragt: Ist Berlin nun tot oder nicht?

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Richard, 32, Inhaber von Old Spike Coffee

VICE: Du warst schon in Berlin. Was meinst du?
Richard: Ich war vor drei Jahren dort, und nochmal fünf Jahr davor, und zwischen diesen Besuchen habe ich einen extremen Unterschied festgestellt. Es sind viele neue Restaurants eröffnet worden—es ähnelt alles in gewisser Weise [dem Hipster-Mekka und Standort des VICE-Hauptquartiers] Williamsburg in Brooklyn. Ich habe früher in Williamsburg gewohnt und mir fallen die Ähnlichkeiten definitiv auf: große Kaffeeszene, große Foodszene, großartige Clubs, großartige Bars. Ich schätze, es verändert sich immer mehr und wird für Unternehmen immer attraktiver.

Bei Williamsburg scheint es so, als hätten die Leute einfach kapiert, dass es dort cool ist, und seien dann deswegen massenweise dort aufgeschlagen. Jetzt hat es seine Anziehungskraft laut vielen Leuten verloren. Glaubst du, das wird auch mit Berlin passieren?
Ich glaube nicht. Ich weiß, dass es in Berlin eine Mietpreisbremse gibt, und dass dort viel mehr gemietet als gekauft wird, und ich denke, das verändert die Dynamik. In Städten wie London und New York wird jede Gegend, die auch nur ansatzweise gut ist, innerhalb von kurzer Zeit zu teuer, als dass es sich dort noch jemand leisten könnte. Berlin ist da ein bisschen eine Ausnahme.

Denkst du, Berlin läuft Gefahr, uncool zu werden, weil es so cool ist?
Ich finde, die Coolness von Berlin geht weit über Bars und Restaurants hinaus. Es geht mehr um Attitüde und die Leute, die dorthin ziehen und Szenen erschaffen. Das wird einfach immer weiter wachsen, bis diese Szenen gesättigt sind. Ich denke, diese Orte sind toll, weil die Leute sich gerne so fühlen, als hätten sie etwas, das sonst niemand hat. Wenn Szenen eine gewisse Größe erreichen, dann schwindet dieses Gefühl und die Leute ziehen natürlich weiter.

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William, 21, Barista

VICE: Es wird im Moment viel darüber gesprochen, dass Berlin angeblich „uncool" wird. Wie stehst du dazu?
William: Ich kann es verstehen. Als ich in Berlin war, fand ich, dass es dort ganz schön prätentiös zugeht—es herrscht viel Druck, cool zu sein. Und das ist nicht besonders cool.

Woher hattest du diesen Eindruck?
Aus dem Nachtleben. Du kannst nicht einfach du selbst sein und entspannt feiern. OK, ich schätze, man kann schon, aber das gilt irgendwie als „falsch", und dann sehe ich eigentlich nicht den Sinn dahinter auszugehen, denn das ist zum Spaßhaben gedacht.

Du meinst also, Berlin sei tot?
Nein, keineswegs. Trotz diesem Aspekt hatte ich eine gute Zeit. Ich erinnere mich gern daran. Wenn ich an Berlin denke, dann denke ich: „Cool."

Wo siehst du die Stadt in den nächsten fünf Jahren?
Ich denke, sie wird übergentrifiziert sein, doch Berlin wird immer cool sein, komme, was da wolle. Es gibt Zyklen für so etwas. Die Leute sagen: „Es ist nicht mehr cool"—bis es wieder cool ist. So funktionieren diese Dinge einfach.

Daisy, 20, Kunststudentin

VICE: Anscheinend wollen alle nach Berlin ziehen. Siehst du darin ein Problem?
Daisy: Möglicherweise, aber ich glaube, das Problem gibt es überall. Ich komme gerade aus Kopenhagen wieder und ich habe den Eindruck, dass dort dasselbe passiert. Eine Stadt wird cool, es gibt kreative Sachen, und die Leute wollen alle hin. Selbst in Südlondon passiert das jetzt.

Hattest du einen prätentiös-hippen Eindruck von Berlin, als du dort warst?
Ich war bei einem Club, wo der Türsteher unsere Kleidung und unser Verhalten ganz genau in Augenschein genommen hat. Das haben die dort mit allen so gemacht. Wir durften rein und es war super; es war einfach ein ganz normaler Club. Aber sie haben echt genau aufgepasst, wie sich die Leute verhalten haben und ob sie cool sind.

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Mehu, 26, Inhaber von Alibaba Coffee

VICE: Welchen Eindruck hattest du von Berlin?
Mehu: Es war sehr dynamisch. Es gibt dort auf der Straße eine gewisse Freiheit—du kannst tun, was du willst, so lange du niemanden belästigst.

Woher kommt der Ruf Berlins deiner Meinung nach?
Von den Leuten, die dort wohnen. Sie haben eine Botschaft und eine besondere Art, Dinge zu tun. Ich glaube, die Deutschen, die dort leben, haben allen anderen beigebracht, wie man feiert. Als 1989 die Mauer fiel, wollten sie ihre Freiheit auf eine bestimmte Art zelebrieren, und dann haben sie den Techno gefunden.

MOTHERBOARD: Was wäre passiert, hätte man die Bombe von Hiroshima über Berlin abgeworfen?

Manche Leute sagen, Berlin sei dabei, so cool zu werden, dass es schon wieder uncool wird.
Das halte ich für so einen Eindruck, den die Leute haben. Wenn du die coole Seite Berlins sehen willst, dann musst du auch was Cooles unternehmen. Du musst teilhaben. Als Tourist bekommt man schnell das Gefühl, dass es cool ist, aber um das auch wirklich zu spüren und zu verstehen, muss man dort sein, dort wohnen und dort aktiv sein.

Du denkst also nicht, dass Berlin stirbt?
Nein. Wenn etwas echt—und tatsächlich cool—ist, dann lässt es sich nicht abstreiten. Wenn es echt ist, kann niemand der Sache was anhaben.

Sehr schön. Wo siehst du Berlin in circa fünf Jahren?
Ich denke, es wird gleichbleiben, wenn die Preise und die Mieten nicht steigen. Aber ich glaube nicht, dass sie das tun werden. Es ist eine wirklich große Stadt, und eine solche negative Entwicklung braucht auch ihre Zeit.

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Martin, 63 Comedy-Promoter

VICE: Manche Leute sagen, dass Berlin so cool ist, dass es schon wieder dabei ist, uncool zu werden.
Martin: Es ist schon uncool.

Wie meinst du das?
Jedes Mal, wenn ich nach Leipzig gehe, begegne ich Leuten aus Berlin, weil Berlin so teuer geworden ist. Wenn du mich fragst, ist bei Berlin schon alles abgehakt.

Man muss sehr reich sein, um dort zu wohnen. Ich habe eine einfache Rechnung, um das zu beweisen: In Leipzig kostet eine große Flasche deutsches Bier einen Euro. In Berlin kostet sie drei bis vier Euro. Anhand solcher Sachen kann man ganz gut ablesen, was in einer Gegend los ist: Brot, Bier und Kippen. Und Berlin ist so ziemlich gegessen, würde ich mal sagen.

Kannst du das ein bisschen genauer erklären?
Die Stadt ist total vollgestopft mit Cafés und Studios—sie ist voll. Und das ist uncool. Gentrifizierung ist inzwischen allen bekannt: Eine Gegend ist billig, die Künstler ziehen hin, machen den Ort lebenswert und öffnen den Geldgierigen die Augen. Und an diesem Punkt befindet sich Berlin definitiv aktuell. Es gab früher viele leerstehende Wohnungen und extrem viel Platz. Ich habe auch in spottbilligen Hotels übernachtet. Das letzte Mal war es aber richtig krass—ich habe 30 Euro mehr bezahlt als in Leipzig.

Glaubst du, dass viele Leute nach Berlin gehen, nur weil die Stadt einen coolen Ruf hat?
Ja. Ich weiß jetzt nicht, ob da irgendwas Schlimmes dran ist, aber es ist nur so, dass es nicht der richtige Ort für dich ist, wenn du cool bist oder cool sein willst. Ich arbeite in der Kunstbranche, also bin ich oft an Orten, wo sich viele Künstler versammeln. Ich kann erkennen, wann eine Gegend die Aufmerksamkeit der Geschäftsleute erregt hat. Leipzig ist jetzt definitiv die coole Stadt. Es ist dort viel besser als in Berlin. Es ist nicht alles von Großkonzernen beherrscht. Günstige Mieten, Hunderte Studios, Hunderte Fabriken. Es gibt dort für Künstler viele Gelegenheiten.

Berlin ist vorbei. Es war einmal cool. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch mit Leipzig passiert. Und auch hier in Peckham—es hat sich völlig verändert. Ich lebe hier schon seit mehr als 35 Jahren, und ich hätte mir niemals träumen lassen, dass es Peckham auch treffen würde, aber das hat es. Jetzt kann ich hier überhaupt keinen Studioraum finden—alle geeigneten Räume sind schon Kirchen oder Bars, die ihr eigenes Bier brauen.

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