„Unsere Familien warten auf den Tod“ – Syrische Flüchtlinge protestieren in Dortmund
Alle Fotos: Felix Huesmann

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„Unsere Familien warten auf den Tod“ – Syrische Flüchtlinge protestieren in Dortmund

„Wir sind nicht hier, um eure Kultur zu verändern oder eure Jobs wegzunehmen!" – Die Flüchtlinge wollen vor allem ihre Familien in Sicherheit bringen.

Sie alle kommen aus Syrien und sind vor Krieg und Verfolgung geflohen. Mit dem Camp wollen sie vor allem eine schnellere Bearbeitung ihrer Asylanträge erreichen. „Ich warte seit neun Monaten, und es ist immer noch nichts passiert", erzählt der 32-jährige Mohammed Hamdan, der mit seinem Bruder aus Syrien geflohen ist. Ihnen geht es dabei nicht in erster Linie um Sicherheit und Gewissheit für sich selbst: „Ich will vor allem meine Familie nach Deutschland holen", sagt Mohammed. Seine Eltern, seine Frau und seine beiden Töchter harren immer noch in Damaskus aus. „Um sie legal nach Deutschland zu holen, brauche ich aber eine Aufenthaltsgenehmigung", sagt er.

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Fast alle Flüchtlinge im Protestcamp sind Männer zwischen 20 und 50. Den meisten von ihnen geht es wie Mohammed: Sie haben ihre Familien verlassen, um alleine den Weg nach Europa einzuschlagen. „Der Weg von Syrien ist verdammt teuer und gefährlich", erklärt er. „Natürlich ist meine Familie in Syrien nicht sicher. So wie ich mit dem Boot nach Europa zu kommen, ist für Familien aber noch gefährlicher. Du kannst das ja jede Woche in den Nachrichten sehen! Immer wieder gehen Boote unter." Darum, sagt Mohammed, „habe ich das Risiko erstmal selber auf mich genommen, um meine Familie dann später auf einem sicheren und legalen Weg hierhin zu holen."

Um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und Druck auf das Bundesamt auszuüben, haben die Flüchtlinge das Protestcamp auf die Beine gestellt. Mohammed und sein Bruder Abdulrahman Hamdan haben über Facebook davon erfahren. „Es gibt da eine Gruppe, in der sich syrische Flüchtlinge in Deutschland austauschen, da wurde dazu aufgerufen", sagt Abdulrahman. Im Gegensatz zu vielen anderen Protestaktionen ging die Initiative nicht von deutschen Flüchtlingsunterstützern aus. „Wir waren genauso überrascht wie alle andern auch", erzählen einige, die mittlerweile fast jeden Tag im Protestcamp verbringen und die syrischen Flüchtlinge unterstützen.

Nach acht Monaten kommt die Verzweiflung

Das Protestcamp bringt nicht nur ihre Anliegen in die Öffentlichkeit, sondern gibt den Flüchtlingen auch das Gefühl zurück, selber etwas tun zu können. Zu dem Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Familie, kommt für viele von ihnen noch ein zermürbender und deprimierender Alltag hinzu.

Viele wurden, nachdem sie in Deutschland ankamen, von einer Flüchtlingsunterkunft in die nächste geschickt. Keine Privatsphäre. Keine Möglichkeit sich in die Gesellschaft zu integrieren und Kontakte zu knüpfen. Kaum Möglichkeiten, deutsch zu lernen. Nach acht und mehr Monaten, die einige der Flüchtlinge bereits auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten, stellt sich oft Verzweiflung ein.

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Bereits am ersten Tag kündigen sie deshalb an, in einen Hungerstreik treten zu wollen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Einer von ihnen, ein syrischer Journalist, macht das bereits zu Beginn. Nach drei Tagen des Protestes wird die Verzweiflung am deutlichsten: Während eine grüne Landtagsabgeordnete und der Dortmunder Polizeipräsident am Camp zu Besuch sind, übergießt sich ein Flüchtling mit einer brennbaren Flüssigkeit, will sich scheinbar anzünden. Er wird sofort von anderen Flüchtlingen überwältigt und davon abgehalten. Später betonen sie, ihn nicht gekannt zu haben. Er soll zum ersten Mal am Protestcamp aufgetaucht sein. Andere erzählen, er sei gerade aus der Außenstelle des Bundesamtes gekommen, wo ihm seine bevorstehende Abschiebung nach Italien mitgeteilt worden sei. Nach dem Vorfall wird der Hungerstreik verworfen. Die Flüchtlinge wollen keinen Konfrontationskurs. Immer wieder betonen sie, dass sie friedlich protestieren wollen.

Vor allem wollen sie ihre Geschichten erzählen. Die meisten davon sind nicht schön anzuhören. Es sind Geschichten wie die von Belal, der einen Brief von seinem Anwalt vor sich hält, als er meine Kamera sieht. Der teilt ihm einen Gerichtsbeschluss mit: Er muss das Land verlassen. Belal soll zurück nach Ungarn gebracht werden, wo seine Fingerabdrücke zuerst aufgenommen wurden. Für die Behörden ein Fall, der nach der Dublin-Regelung leicht zu klären ist. Für Belal eine grauenhafte Vorstellung: „Wenn ich zurück nach Ungarn muss, werde ich dort als Flüchtling erstmal eingesperrt!"

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Auch Ahmed (Name geändert) will mir unbedingt Fotos auf seinem Smartphone zeigen. In seinem Heimatort Al-Janoudiyah in der syrischen Provinz Idlib habe es vor wenigen Tagen ein Massaker gegeben, sagt der 38-jährige auf arabisch und lässt einen Freund dolmetschen. Am 8. Juni hatte das Militär des Assad-Regimes den Ort bombardiert. Berichte im Internet sprechen von mindestens 60 Toten und weit über 100 Verletzten.

Die Fotos, die Ahmed kurz später im Internet gefunden hat, sind verstörend: Verstümmelte Kinder und zerbombte Häuser sind darauf zu sehen. „Das ist direkt neben meinem Haus", erzählt er. „Meine Frau und meine vier Kinder leben mittlerweile im Wald, um sich vor den Bomben zu verstecken."

Seine beiden jüngsten Kinder sind erst zwei und drei Jahre alt. So schnell wie möglich will Ahmed seine Familie ins sichere Deutschland holen. Vorher muss allerdings über seinen Asylantrag entschieden werden—den er vor einem halben Jahr gestellt hat. Aus Angst um seine Familie will er seinen Namen und sein Gesicht nicht veröffentlicht wissen. „Wenn meine Frau und meine Kinder in Sicherheit sind, kannst du alles abdrucken", sagt er.

Interesse und Hilfsbereitschaft

Seitdem das Protestcamp nach einer Woche im Industriegebiet direkt vor den Dortmunder Hauptbahnhof umgezogen ist, erzählen Ahmed und die anderen Flüchtlinge ihre Geschichten wesentlich öfter. Vor den Pavillons und den Planen, die als Regenschutz über die Schlafplätze gespannt sind, stehen Schilder mit Plakaten, die ihre Anliegen erklären. Darüber hängen große Transparente aus Stoff. Für die tausenden Menschen, die täglich hier vorbei gehen, ist es schwer zu übersehen, worum es geht.

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Einige von ihnen bleiben stehen, stellen Fragen und unterhalten sich mit Abdulrahman, Mohammed und den anderen Flüchtlingen. Vor allem diejenigen, die deutsch oder englisch sprechen, haben ihre Geschichte mittlerweile schon oft erzählt. „Das ist nicht nur für mich gut, weil ich die Sprache besser lerne, das nimmt den Leuten auch die Angst vor uns. Die sehen dann, dass wir ganz normale Menschen sind", sagt Abdulrahman.

Das Video-Interview mit Abdulrahman:

„Wir sind nicht hier, um eure Kultur zu verändern, euch nicht zu respektieren, euch zu schaden oder eure Jobs wegzunehmen!" — Abdulrahman Al Barazi aus Damaskus

Immer wieder fragen auch auch Menschen nach, wie sie helfen können. Einiges an Spenden ist bereits zusammengekommen: Isomatten, Schlafsäcke, Decken und Pavillons die gegen den immer wieder einsetzenden Regen schützen. Flüchtlingsunterstützer tun sich zusammen und kochen jeden Abend für das Protestcamp. Seitdem der Ramadan angefangen hat, bringt eine Moscheegemeinde abends Essen für das Fastenbrechen vorbei.

Andere Unterstützer verbringen gleich ganze Tage am Camp. Robert Rutkowski, der Mitarbeiter der Piratenpartei ist und sich gegen die Dortmunder Neonazis engagiert, ist seit dem zweiten Tag dabei. Teilweise bis zu 15 Stunden täglich. Auch Menschen, die nicht dabei sind, können das mitverfolgen: Robert twittert fast alles, was im Camp geschieht. „Ich habe das irgendwann für mich entdeckt und twittere vor allem bei Demos, damit auch Leute, die nicht dabei sein können, verfolgen können, was passiert. Wenn ich hier veröffentliche was geschieht und Bilder twittere, macht es das auch greifbarer für die Menschen da draußen." Neben Robert Rutkowski informieren auch andere unter dem Hashtag #protestbamfdo über die Geschehnisse im Protestcamp.

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Dortmund wäre nicht Dortmund…

…wenn eine friedliche Protestaktion von Flüchtlingen hier komplett ohne Störungen durch die Neonaziszene der Stadt verlaufen könnte. Bereits am ersten Abend des Camps vor dem Bundesamtunternehmen die Neonazis der Partei „Die Rechte" den ersten Versuch: Zu zwanzigst kommen sie aus dem benachbarten Stadtteil Dorstfeld, um „sich ein eigenes Bild zu machen", wie sie später im Internet behaupten. Als sich die Neonazis Platzverweisen widersetzen, die die Polizei der „Abschieben, Abschieben" rufenden Gruppe ausspricht, werden fünf von ihnen über Nacht festgenommen. Unter ihnen auch der Stadtratsvertreter der Partei, Michael Brück.

Als klar ist, dass das Protestcamp in die Innenstadt umziehen soll, melden die Neonazis für den Tag davor eine Kundgebung vor dem Hauptbahnhof an. Rund 40 kommen zusammen, um gegen die Flüchtlinge zu hetzen, die sie als „Asylbetrüger" beschimpfen. Nach der Kundgebung werden sie von Antifaschisten wieder in Richtung Bahnhof gejagt. Nachdem sie unter Steinwürfen und von der Polizei abgeschirmt und beschützt im Bahnhof ankommen, skandieren sie „Dortmund das ist unsre Stadt, wir haben die scheiß Syrer satt" und „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus". Parolen, die in Dortmund nun immer öfter zu hören sind.

Auch am Tag darauf protestiert „Die Rechte" wieder in der Innenstadt. Ein paar hundert Meter vom Protestcamp der Flüchtlinge entfernt werden dieselben Reden verlesen und dieselbe ausladende Musik gespielt wie jede Woche. Auf dem Rückweg von ihrer Kundgebung versuchen die Neonazis dann zum Protestcamp zu gelangen und greifen Polizisten an, die sich ihnen in den Weg stellen. Zum Camp gelangen sie nicht.

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Um die Flüchtlinge vor Provokationen und Angriffen der Neonazis zu schützen, sind rund um die Uhr Hundertschaftspolizisten am Protestcamp stationiert. Nicht nur deshalb sind die Flüchtlinge in Hinblick auf die Dortmunder Neonazis sehr gelassen. „Wir kommen aus Syrien. Wir haben viel schlimmeres miterlebt", sagt einer von ihnen.

Wie geht es weiter?

Unklar ist für die Flüchtlinge wie für die deutschen Unterstützer, wie es nach dem Protestcamp weitergeht. Bis zum Ende des Monats ist es von der Polizei als Versammlung anerkannt und wird geschützt. Möglich, dass die Flüchtlinge auch danach weiter protestieren. Aber dann? Abdulrahman Hamdan weiß darauf keine Antwort. „Ich hoffe, dass das Bundesamt etwas für uns tut", sagt er nur. Robert Rutkowski kann sich vorstellen, dass das Protestcamp verlängert wird. Was darauf folgen wird, weiß auch er nicht. „Was ich am wichtigsten finde, ist dass hier erstmal Öffentlichkeit hergestellt wurde. Was die Umsetzung der politischen Forderungen angeht, bin ich aber skeptisch. Vor allem weil das verschiedene Ebenen betrifft: Die Dortmunder, die Bundesebene und auch die europäische", sagt er.

Bislang hat das Protestcamp vor allem positive Reaktionen hervorgerufen. Die Polizei beschützt es, der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger war vor Ort und bezeichnet die Forderungen der Flüchtlinge als berechtigt. Ob darauf tatsächlich etwas folgt, oder die Politik doch eher auf einen leisen Abgang nach dem Ende des Monats hofft, steht allerdings auf einem anderen Blatt.