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Wahlchaos in Ägypten

Für Außenstehende erinnerten die hastig organisierten Wahlen in Ägypten an Anarchie. Aber Ägypten ist im Moment sowieso am durchdrehen.

Für Außenstehende erinnerten die hastig organisierten Wahlen in Ägypten an Anarchie. Verstöße gegen die Wahlauflagen waren an der Tagesordnung—so gingen beim ägyptischen Rat für Menschenrechte über 1.000 Beschwerden ein. Eine Fatwa der Salafisten, die in einigen Wahllokalen aushing, erinnerte die Wähler daran, dass es gottlos wäre, nicht für ihre Partei zu stimmen. Die Wahlhelfer konnten die Identität einiger verschleierter Frauen nicht feststellen, so dass es sich hierbei eventuell um verkleidete Männer handelte, die mehrmals zur Wahl kamen. Dutzende wurden verletzt, als verschiedene Parteien ihre Wahlsongs in die Wahllokale hämmerten. Tausende hatten sich zum Wählen hierher geschleppt, während die Propagandakampagnen direkt über den Wahlurnen aushingen. Kurz nach dem Ende der Wahl entstanden Gerüchte, dass ein Mob Angriffe auf die Wahllokale verübt hätte und Richter, Wahlhelfer und die Wahlurnen eingeschlossen hatte. Dann schmissen Schlägertruppen Molotowcocktails auf die Demonstranten, die noch immer auf dem Tahrir-Platz zelteten. In dem darauf folgenden Gerangel wurden viele verletzt und eine provisorische Klinik eröffnete, um die Verwundeten zu verarzten. Auf Twitter findet man bereits viele Verschwörungstheorien über die Hintergründe des Anschlags.

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Aber Ägypten ist verrückt und für die meisten Ägypter war diese Wahl ein riesiger Erfolg. Das Militär sagt, dass über 70 Prozent der Bevölkerung an den Wahlen teilgenommen hat und die Militärführung des Obersten Militärrates fühlt sich von dieser Zahl bestätigt. Aber der wirkliche Gewinner ist Ägyptens mächtigste und organisierteste Partei, die Muslimbruderschaft. Sie behaupten, dass sie bis zu 50 Prozent der Stimmen bekommen werden.

Früher an dem Abend überflogen in einer baufälligen Schule, ein paar Blocks vom Tahrir-Platz entfernt, elegant gekleidete Geschäftsmänner, in Burka gehüllte Frauen und Studenten in Jeans die Dutzenden Wahlmöglichkeiten auf dem unglaublich komplizierten Wahlzettel, bevor sie ihr Kreuzchen setzten. Ein Kreuz, das tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben gezählt wird. Ein paar Tage zuvor stand die Nachbarschaft in Flammen. Das Militär und die Polizei gingen hart mit den Revolutionären, die hofften, dass ihre Schreie nach Demokratie das Militär genauso vertreiben würde wie den mächtigen Diktator, um. Sie trugen starke Argumente vor und brachten den Obersten Rat dazu, für den kommenden Juni Präsidentschaftswahlen zu versprechen.

Während sich die ägyptischen Fundamentalisten und das Militär gerade auf den Straßen bekämpften, richtete die Muslimbruderschaft ihr Augenmerk weiterhin auf langfristige Ziele—den Gewinn dieser Wahlen, die Niederschrift einer Verfassung, den Abbau von Israels Macht über Palästina und die Weltherrschaft. Am Freitag, als die Leute auf dem Tahrir-Platz die letzte Chance für eine Demonstration nutzen, kam es bei Al-Azhar, einer von Kairos 1.000-Jahre alten Moscheen, zu einer Massenversammlung der Muslimbruderschaft gegen Israel. Die Anführer von Hamas und der Muslimbruderschaft hielten bei der Massenversammlung Reden, die eine Reihe anti-israelischer Schlachtrufe beinhalteten. Es schien total grotesk, das in einer so kritischen Zeit zu machen und die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sagten, dass die Massenversammlung nach politischer Heuchelei stank. Aber es hebt die Tatsache hervor, dass der Einfluss der Muslimbruderschaft auch über die ägyptischen Grenzen hinweg reicht—sie hatten großen Erfolg bei den tunesischen und den marokkanischen Wahlen diesen Herbst. Die Bruderschaft war allerdings nicht immer ein friedlicher Vertreter der Demokratie. In den 50er und 60er Jahren wurde sie für eine Vielzahl von Bombenattentaten und Mordanschlägen verantwortlich gemacht. In den darauf folgenden Jahren distanzierten sie sich von Gewalt und und blieben auch dabei. Sie wurden in die ägyptische Politik mit einbezogen und schafften soziale Einrichtungen, um sich um die Ägypter zu kümmern, die unter Mubarak gelitten hatten. Im neuen Mittleren Osten hat der friedliche Protest in den letzten zwölf Monaten mehr erreicht als die Jahrzehnte bewaffneter Kämpfe davor und die Leidenschaft der Muslimbruderschaft für Politik ist perfekt positioniert, damit sie ihren Vorteil aus dieser Strategie ziehen können. Bei der Bruderschaft rechnet man mit 30% Stimmenanteil bei den Parlamentswahlen.

Obwohl die Revolutionäre Freiheit für die Ägypter gewonnen haben, ist deren Auftreten ein ganz anderes als das der anderen Ägypter. Eine Stunde südlich von Kairo, im industriellen Helwan, konkurrieren große Betonfabriken und endlose Städte aus unfertigen fünfstöckigen Backsteinhäusern um freies Land. Als ich im Wahllokal in einer großen öffentlichen Schule ankam, wurden 100 Männer und Frauen getrennt voneinander aufgestellt. Sie warteten darauf, wählen zu können, während sie sich an Soldaten und der Polizisten vorbeiquetschten, um reinzukommen. Fast alle Frauen waren verschleiert und manche trugen bauschige Schals. Der salafistische wallende Bart war auch extrem beliebt. Mohammad, ein Organisator der Muslimbruderschaft, führte mich herum und erzählte mir, dass hier in diesem Dorf die meisten der Armen für die fundamentalistischen Salafisten-Parteien stimmen, während die Leute aus den gehobeneren Regionen für die Muslimbruderschaft stimmen. Wie gerufen stürzte sich ein Salafist auf mich, um mir zu erklären, dass er 1) Amerika hasst , 2) Amerika sogar ziemlich hasst, 3) er hofft, dass Amerika stirbt und 4) er nicht verstehen kann, warum Amerika ein so furchtbares Land wie Israel unterstützt. Als Mohammad mich von ihm wegzog, wurde mir klar, wie maßvoll sich die Bruderschaft benimmt und wie religiös dieses Land wahrscheinlich werden würde, wenn es sich zu einer echten Demokratie entwickeln würde.

Wenn die Bruderschaft anfängt, Ägypten zu beherrschen, werden sie keine Politik entwickeln, die sich unsere westlichen Vorstellungen von Menschenrechten, Geschlechterfragen und Bankinteressen anschließen wird. Es wird keine Türkei werden, aber auch nicht Afghanistan unter den Taliban. Das ist eines der ersten Male in der Geschichte, dass Muslime einer freien und rechtmäßigen Demokratie die Kraft gegeben haben zu regieren und das war auch an der Zeit. Sie können es nicht mehr schlimmer machen als Murabak.