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Warum es total OK ist, Angst vor seinem 30. Geburtstag zu haben

Ja, ja. 40 ist das neue 30 und man ist sowieso nur so alt, wie man sich fühlt. Wieso haben wir dann trotzdem so verdammte Angst vor einer Zahl?
Foto: Porsche Brosseau | Flickr | CC BY 2.0

Kürzlich hat hier ein hoch geschätzter Kollege erklärt, warum sein Leben nach seinem 30. Geburtstag dramatisch an Qualität gewonnen hat. Vielleicht ist es als Mann irgendwie „geiler" (O-Ton), älter zu werden, weil das Bild des ergrauten Bachelors ein schöneres ist als das der vereinsamten, Sherry trinkenden Katzenfrau (gibt es diese Leute eigentlich wirklich, oder sind sie eine Art Tiermessi-Slenderman?). Vielleicht ist in der Schweiz aber auch alles besser und es lässt sich mit Käse und Schokolade einfach ein bisschen entspannter auf die stetig tickende Lebensuhr blicken. Wer weiß das schon. Ich für meinen Teil bin 26 Jahre alt und gehe ziemlich genau seit meinem Geburtstag meinem kompletten Freundes- und Bekanntenkreis damit auf die Nerven, dass ich mich alt fühle.

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Mit 25 konnte man sich noch erfolgreich einreden, dass man sich nicht mit großen Schritten auf die 30 zubewegt. Mit 26 ist man rein theoretisch vielleicht noch Mitte 20, trotzdem herrscht in meinem Leben aktuell eine Art Endzeitstimmung. Habt ihr den neuenMad Max gesehen? Ich fühle mich wie eine dieser komischen Stelzenfiguren im verseuchten Sumpf. Ich bin 26 und sehe mich im „Ende 20"-Club angekommen. Und angeblich ist man ja sowieso immer genau so alt, wie man sich fühlt.

Eine sehr gute Freundin von mir ist dieses Jahr 30 geworden. Das sagt sie auch gerne betrunken. „Ich bin 30!" Dabei reißt sie die Augen manchmal sehr weit auf, wahrscheinlich aus dramaturgischen Gründen. Eigentlich wissen wir aber beide nicht so richtig warum. Sie sieht nicht älter aus als mit 28, wir gehen immer noch auf dieselben Partys und urplötzlich schwanger geworden ist sie auch nicht. Es hat sich eigentlich absolut nichts geändert—weder im positiven noch im negativen. Woher also die Angst vor der großen 30? Warum dieses unbestimmte Gefühl, dass es genau dieses Alter ist, ab dem sich alles irgendwie ändert—oder zumindest ändern muss?

Womöglich werde ich mich in den kommenden Absätzen haltlos in ganz schlimme Klischees verstricken und all die gereiften, superreflektierten Menschen da draußen werden mit abfälligem Grinsen ins Facebook-Kommentarfeld tippen, welcher Praktikant das denn schon wieder verzapft hat und dass VICE jetzt aber wirklich (wirklich jetzt!) am Ende sei. Aber was soll ich sagen: menschliche Ängste, gerade dann, wenn sie sich irgendwie diffus anfühlen und auf keinem konkreten Erfahrungswert fußen, gründen sich oft auf ganz einfache, irreale Bilder und Vorstellungen.

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Warum nach hochintellektuellen Ursachen forschen, wenn es manchmal so viel einfacher ist? Nachdem wir das klargestellt haben, willkommen im Panikkabinett. Bitte ziehen sie die Gurte fest und nehmen sie die Hand aus der langsam spannenden Jogginghose, wir umarmen jetzt unsere tiefsitzenden Altersängste. In der Hoffnung, als bessere Menschen aus dieser Erfahrung hervorzugehen und endlich einzusehen, dass diese 30er-Panikmache sowieso ganz großer Schwachsinn ist.

Das Ende der Jugend

Die Zukunft—ein Albtraum in Beige? Foto: markus spiske | Flickr | CC BY 2.0

Wenn wir ganz ehrlich sind: Eigentlich ist es gar nicht so geil, jung zu sein. Jeder erwartet von euch, mit offenen Augen durch die Welt zu laufen und alles mitzunehmen, was überhaupt nur geht, damit man die Reue über all die Dinge, die man nie getan hat, nicht irgendwann mit Mitte 50 in Rotwein für 4,99 Euro (der Gute! In dem Alter kann man sich ja auch mal was leisten) ertränken muss. Dabei will man manchmal einfach nur ein komplettes Wochenende lang seinen Rausch ausschlafen oder jedes einzelne Achievement in irgendeinem Open-World-Rollenspiel freischalten. Trotzdem: Immerhin bietet einem die Jugend zumindest in der Theorie alle Möglichkeiten.

Die tägliche After-Hour im Biergarten um die Ecke? Klar! Noch muss man sich keine Gedanken um Blut- und Nierenwerte machen. Sich von LSD bis Ketamin einmal durch die Möglichkeiten der Bewusstseinserweiterung und -veränderung probieren? Hey, ihr seid jung. Alles ist möglich! Wenn man dann aber eben nicht mehr so jung ist und sich der Altersgrenze nähert, die uns alle so komplett irreal in den Wahnsinn treibt, ist man eben nicht mehr die funky abgefahrene Person, die einfach immer dabei ist und auf alles scheißt. Dann ist man das abgewrackte Drogenopfer, das alle nur traurig finden. Ähnlich müssen sich Leute fühlen, die auch im Jahr 2015 noch Torch hören.

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Die Gesellschaft und unsere Eltern erwarten von uns, dass wir unser Leben endlich in den Griff kriegen, erwachsene Entscheidungen treffen und ganz im Allgemeinen aus dem Nichts zu einer Person mutieren, der man abnimmt, dass sie ihre Einkäufe nicht mit den Pfandflaschen der letzten paar Wochen begleicht. Und irgendwie erwarten wir das auch von uns selbst, oder nicht? Leider tendiert man dazu, von jedem Lebensjahrzehnt irgendetwas Großes, Neues zu erwarten. Mit 20 waren es Party, ein möglichst ungezwungenes Leben und ein Ausloten aller Möglichkeiten. 30 heißt, erwachsen zu sein und erwachsene Sachen zu machen. Da lebt man nicht mehr in einer Ein-Zimmer-Wohnung, ist jedes Wochenende betrunken und sucht sich seine temporären Bettbekanntschaften auf Tinder aus. Da geht man zu Pärchen-Brettspiel-Abenden, steht Sonntagvormittags auf, um „was vom Tag zu haben" und lacht nicht mehr hysterisch, wenn man gefragt wird, ob man eigentlich Kinder plant.

Cellulitis und Hänge-Hoden

Foto: Hot Gossip Italia | Flickr | CC BY 2.0

Der Körper altert schleichend. Das weiß jeder, der mal ein, zwei Nächte durchgemacht hat, plötzlich feststellt, dass fünf Jahre vergangen sind und nach einem kurzen Blick in den Spiegel beschließt, demnächst mal in Erfahrung zu bringen, ob Etsy auch Do-it-Yourself-Botox-Sets im Angebot hat. Die 30 ist also eher als eine Art Barriere im Kopf zu sehen, ein Mahnmal, das uns sagt: Hey, jetzt bist du echt erwachsen. Und weißt du, was das heißt? Du wirst von Sekunde zu Sekunde unattraktiver. Die Tinder-Premiummitgliedschaft ist für Leute wie dich teurer, weil niemand alte Menschen ficken möchte. Haha! (All das keucht euch der Geist der fehlgeleiteten Körperwahrnehmung ins Ohr, während er seinen Penis aus den Bermuda-Shorts zerrt, um ihn euch wiederholt ins Gesicht zu schlagen)

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Auch wenn Thomas Gottschalks Frisur anderes verspricht: Nichts ist für immer. Alles, was primär von Haut an seinem Platz gehalten wird, fängt irgendwann an zu hängen, einzureißen oder zumindest deutlich an Spannkraft zu verlieren. Pickel gehen nahtlos in abstruse Anhäufungen von Leberflecken (oder Altersflecken. Oder Hautkrebs. Wenn schon Panik, dann richtig) über. Männern wächst um die Leibesmitte ein organischer Bauchladen, auf dem man ganz hervorragend den obligatorischen Feierabend-Sixpack abstellen kann. Und als Frau wird einem der Eindruck vermittelt, dass man ab einem bestimmten Bindegewebszustand von Urlaub am Strand noch nicht einmal mehr träumen darf, weil man sonst das ästhetische Empfinden der anderen Badegäste beleidigt.

Noisey: Ich glaube, ich bin zu alt für Rap-Festivals geworden—und es bricht mir das Herz.

Das Problem: Unsere gesellschaftlich geprägte Vorstellung von Schönheit ist für den Großteil von uns sowieso komplett unrealistisch und niemals zu erlangen. 30 ist ungefähr das Alter, das uns klarmacht, dass wir den Kampf verloren haben. Jedes weitere Jahr wird dieses Körperideal für uns noch unerreichbarer machen. Das ist OK, bestimmt, weil ändern können wir es ja sowieso nicht. Trotzdem ist nichts härter als die Erkenntnis, dass man nie nie nie aussehen wird wie Channing Tatum (ich habe mir sagen lassen, dass das eine Art Sexidol ist) oder elfengleich und mit endlos schlanken Beinen über den roten Teppich in Cannes flanieren wird. Man kann es leugnen, wie man möchte, aber wenn die eigenen Altersgenossen auf der Pornoseite eures Vertrauens plötzlich unter MILF eingeordnet werden, ist ein mittlerer Nervenzusammenbruch nicht das unwahrscheinlichste Szenario. (Am besten einfach weitermasturbieren. Ihr könnt jede Art von Glücksgefühl brauchen)

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Wie komplett fernab diese Angst von jeder Realität ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass mehrere Studien übereinstimmend herausgefunden haben, dass das Sexleben zur Lebensmitte erst so richtig in Fahrt kommt—wir sollten uns also eigentlich schon mal auf unseren 40. freuen.

Die Last der Verantwortung

Foto: Grey Hutton

Entscheidungen für immer treffen, man kann sich nicht mehr ausprobieren. Gibt es noch ein Zurück? Ist der Weg schon zu ausgetreten, um noch mal umzukehren? Müssen wir jetzt anfangen, etwas für unsere Zukunft zu tun? Der Moment, wenn man in einem Altersvorsorge-Seminar auf der Arbeit sitzt und plötzlich das Gefühl hat: Die meinen mich. Ich werde alt. Hätte ich mir wirklich jetzt schon Gedanken um meine Rente machen müssen? In den 20ern konnte man sich irgendwie immer noch vor allem wirklich ernsthaften drücken. Da hatte man die offizielle Erlaubnis, Dinge nicht zu wissen und Fehler zu machen, weil einfach alles noch so absolut neu war. Die erste eigene Wohnung, allgemein der Beginn eines Lebens abseits des Elternhauses (außer ihr gehört zu der Art von Person, die einfach nicht ausziehen möchte), Krankenversicherung, selbstorganisiertes Studium, für viele auch der erste richtige Job—mit 30 sollte man über den Punkt des Laufenlernens hinaus sein und anfangen, die richtigen Schritte zu machen. Was aber, wenn man trotzdem noch das Gefühl hat, mehr schlecht als recht durchs Leben zu stolpern und nach wie vor nicht zu wissen, ob sich das eigentlich alles so richtig anfühlt?

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Natürlich rastet man aus, wenn man das Bild des Erwachsenseins aus seiner Kindheit und Jugend mit dem Punkt vergleicht, an dem man sich gerade befindet. Natürlich stellt man sich die Frage, wie lange man noch von Party zu Party ziehen darf oder ob es wirklich total normal ist, auch mit Mitte/Ende 20 noch nicht den leisesten Gedanken an Rentenfonds zu verschwenden. Vielleicht ist das der elementarste Punkt dieser ganzen 30er-Panikspirale: Sich unsicher zu sein, ob man wirklich schon bereit dazu ist, erwachsen zu werden. Selbst wenn wahrscheinlich die wenigsten Menschen da draußen eines Morgens aufgestanden sind und gesagt haben: „Ich habe mein Leben im Griff und werde ab morgen nur noch gedeckte Farben und zueinander passende Socken tragen, denn ich bin erwachsen."

Forever Alone?

Ich kann an dieser Stelle nur für mich als Frau (und die überschaubare Anzahl an Männern, mit denen ich mich über das Thema unterhalten habe) sprechen, aber: Wer sich gegen Ende seiner 20er nicht schon irgendwann mal Gedanken über seine beziehungstechnische Zukunft gemacht hat, der lügt wahrscheinlich. Selbst Patrick Bateman hat sich irgendwann mit Evelyn verlobt (OHNE sie bestialisch abzuschlachten). Wenn wir also sowieso die grundlegende Überzeugung in uns tragen, dass die 20er unsere besten Jahre sind, in denen uns die Welt offen steht—bedeutet das dann nicht auch automatisch, dass wir in genau diesem Lebensabschnitt die besten Chancen auf einen optimalen Partner/möglichst viele Bettbekanntschaften/die ideale polyamouröse Beziehung haben?

Eine Katze in der verfrühten Midlife-Crisis. Foto: eleonora bettinelli | Flickr | CC BY-ND 2.0

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(Verzeiht mir, dass ich aus persönlichen und erfahrungswerttechnischen Gründen beim Bild des Zweier-Paares bleibe, das sich ja auch ziemlich mit der 0815-Erwartung der Gesellschaft deckt, die uns allen so schwer auf der Seele lastet.) Wer sich erst einmal in diese verhängnisvolle Spirale aus Selbstmitleid und Torschlusspanik begeben hat, hört bei der allgemeinen Frage nach dem idealen Partner natürlich nicht auf. Große Zahlen wie die 30 verleiten dazu, sein bisheriges Leben als Erwachsener (oder anders, „Volljähriger") Revue passieren zu lassen. Wenn man es bisher nicht geschafft hat, eine erwachsene und erfolgreiche Beziehung zu führen: Warum sollte es dann ausgerechnet in dem Zeitfenster klappen, in dem der Großteil des guten Beziehungsmaterials schon vom Markt oder unglücklicherweise wieder auf dem Markt (Scheidung, tiefe Traumatisierung nach der gescheiterten Liebe des Lebens) ist? Wenn die Angst vor der ewigen Einsamkeit einem dann so richtig über dem Kopf zusammenzuschwappen droht, reaktiviert man den Tinder-Acount oder schreibt panische WhatsApp-Nachrichten an alle, die irgendwann mal Interesse daran geäußert haben, mit einem zu schlafen. Forever alone klingt manchmal nämlich einfach schlimmer und endgültiger als forever frustriert, weil man lieber das nächstbeste genommen hat, als weiter auf die ganz große Liebe zu warten.

Gibt es eine Lösung?

Nein, wahrscheinlich nicht. Schließlich weiß man eigentlich ganz genau, wie dumm und unbegründet diese Angst vor einer Zahl ist. Jeder geht mit seinen Zukunftsängsten anders um und je zufriedener man mit seiner aktuellen Lebenssituation ist, umso weniger hart trifft es einen wahrscheinlich, älter zu werden. Vielleicht ist es der Drang, sich ständig mit anderen vergleichen zu müssen (oder zu wollen) und allein die Tatsache, dass irgendeiner aus dem Bekanntenkreis plötzlich die ganz große Vor-30-Lebenskrise kriegt, lässt in uns den Gedanken aufkeimen, dass wir uns mit dieser Sache ja eigentlich auch mal auseinandersetzen sollten, als Faktor auch nicht zu unterschätzen. Aber die kleine, böse Stimme im Hinterkopf, die einem einflüstern will, dass man ab einem bestimmten Alter plötzlich alle seine bisherigen Entscheidungen anzweifeln muss, hat sicherlich jeder schon einmal gehört.

Das ist umso absurder, wo wir gesellschaftlich doch mittlerweile an einem Punkt sind, an dem es nicht ungewöhnlich ist, auch in fortgeschrittenem Alter noch mal alles über den Haufen zu werfen und sich für eine komplett neue Karriere oder ein neues Lebensmodell zu entscheiden. Vielleicht hilft es also, sich bei all der irrealen Panikmache immer wieder zu verdeutlichen: Die 30 markiert nicht das Ende von allem, was Spaß macht, sondern vordergründig erst einmal die Ein-Drittel-Marke unseres Lebens. Und wenn die Frustration all zu groß wird: Trinkt doch einfach einen. Ein komplettes Wochenende verkatert im Bett zu verbringen, ist nämlich auch mit 30 noch eine ebenso große Verschwendung eurer Lebenszeit wie mit 20. Versprochen.

Wenn ihr Lisa sagen wollt, dass sie definitiv jünger aussieht als 26—folgt ihr doch bei Twitter!


Titel-Foto: Porsche Brosseau | Flickr | CC BY 2.0