Warum es oft so schwierig ist, sich zwischen Zivilcourage und Wegsehen zu entscheiden

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Warum es oft so schwierig ist, sich zwischen Zivilcourage und Wegsehen zu entscheiden

Wir starren auf unsere Handys, obwohl wir wissen, dass wir einschreiten sollten. Warum? Eine Anleitung zum Mutigsein.

Collage: VICE Media

Irgendwo, ganz tief vergraben unter den hintersten Gedanken, wissen wir, dass uns jederzeit etwas passieren kann. Der Großteil von uns richtet sein Leben nicht danach aus; wir wollen unseren Alltag eben nicht von der Angst dominieren lassen, beim Überqueren der Straße einen Schlaganfall zu bekommen, von einem Wahnsinnigen angegriffen zu werden oder auf der obersten Treppenstufe umzuknicken und unten bewusstlos liegen zu bleiben.

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Wenn uns so etwas doch passieren sollte, könnten wir uns außerdem sicher selbst helfen—und in den Situationen, in den wir uns nicht selbst helfen könnten, würde bestimmt ein anderer helfen: Erste Hilfe leisten, den Angreifer zurechtweisen, die Polizei und Rettung rufen. Aber oft hilft einfach niemand. Meistens sind wir in der privilegierten Lage, in einer solchen Situation eher die Person zu sein, die das Ganze als Außenstehender mitbekommt und entscheidet, ob er oder sie es wagen soll, zu helfen oder eher nicht.

David Urschler ist Psychologe und Zivilcourage-Trainer; er hat sich intensiv mit dem Verhalten von Menschen in Notsituationen beschäftigt. Laut Urschler stellen wir in solchen Situationen eine klassische Kosten-Nutzen-Rechnung an. "Das passiert innerhalb weniger Millisekunden", sagt der Experte. "Welche Kosten kann ein Eingreifen haben und welchen Nutzen? Nutzen sind zum Beispiel die eigene Stimmung zu erhöhen, etwas für das Selbstbewusstsein zu tun, Dankbarkeit oder Anerkennung zu bekommen. Kosten können unter anderem mögliche Verletzungen, ein verpasster Termin oder ein Blamieren vor anderen Passanten sein."

Je mehr Menschen um einen herumstehen, desto mehr sinkt die Hilfsbereitschaft. Stehe ich alleine daneben, wenn jemand vor mir stürzt und einen Schädelbasisbruch erleidet, liegt die Verantwortung zu 100 Prozent bei mir. Stehen neun andere Menschen um mich herum, liegt meine Verantwortung nur noch bei 10 Prozent. Viele haben außerdem Angst, in der Öffentlichkeit zu agieren—vielleicht mache ich etwas falsch und außerdem schauen auch noch 15 Leute zu.

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Der sogenannte Bystander-Effect hat aber auch spannende Nebenaspekte: Er verschwindet zum Beispiel fast komplett, sobald die erste Person eingegriffen hat. Wenn einer hilft, dann trauen sich auch andere.

Der Bystander-Effect kann sich in gefährlichen Situationen auch komplett umdrehen—dann nämlich, wenn die Kosten fürs Nichthelfen zu hoch sind. Man wägt die möglichen Kosten für das Helfen (Zeitverlust, Gefahr und so weiter) gegen die möglichen Kosten für das Nichthelfen auf; wenn die Kosten für das Nichthelfen zu hoch sind, sei es oft sogar hilfreich, dass viele Menschen vor Ort seien.

"Kosten für das Nichthelfen sind zum Beispiel, dass ich damit leben muss, nicht geholfen zu haben", so Urschler. "Teilweise geht es auch um juristische Kosten, wie zum Beispiel unterlassene Hilfeleistung. Der Effekt dreht sich dann so um, dass Leute eher bereit sind zu helfen, wenn andere dabei sind. Man kann außerdem Aufgaben verteilen. Einer ruft die Rettung, während der andere wiederbelebt." Meistens habe Zivilcourage erst einmal negative Auswirkungen.

Es ist wie auf dem 10-Meter-Turm im Schwimmbad: Ein bisschen fürchtet sich dort oben jeder und man muss sich entscheiden: Spring ich oder spring ich nicht?

Maximilian "Bezirkowitsch" Zirkowitsch ist ebenfalls Zivilcourage-Trainer. Wenn er mit Jugendlichen arbeitet, dann vergleicht er die Situation, in der man vor der Entscheidung steht, einzugreifen oder nicht, immer mit einem 10-Meter-Turm im Schwimmbad: "Ein bisschen fürchtet sich dort oben jeder und man muss sich entscheiden: Spring ich runter oder spring ich nicht? Es ist in beiden Fällen eine Überwindung. Ob du runterspringst oder ob du sagst: Ich will das nicht, das taugt mir nicht, ich geh wieder runter. Das sind zwei verschiedene Arten der Überwindung. Die 10 Meter wieder runterzuklettern vor allen anderen, das ist ja auch schon fast wieder eine Leistung."

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Urschler unterscheidet allgemein zwischen Zivilcourage und Hilfesituationen. Bei Zivilcourage gäbe es nicht nur fast immer direkte negative Konsequenzen; es sind meistens auch drei Personen oder mehr involviert. Zum Beispiel, wenn ein Mann eine Frau begrapscht und eine dritte Person eingreift.

Bei Hilfesituationen handelt es sich hingegen um Ereignisse zwischen zwei Personen: Jemand liegt bewusstlos am Boden, jemand hilft. Weist man einen Belästiger zurecht, wird er vermutlich erst einmal blöd reagieren. Unmittelbare Reaktionen seien bei Zivilcourage also meist negativ, längerfristig sehr wohl aber positiv. "Das ist ganz wichtig", betont Urschler. Die dritte Partei muss dabei nicht einmal anwesend sein: Wenn in einem Restaurant am Nachbartisch über Ausländer geschimpft, man sagt etwas. Auch das ist Zivilcourage. "Mir ist die Unterscheidung von Zivilcourage und Hilfesituationen im wissenschaftlichen Sinne sehr wichtig", so Urschler. "Aber in der realen Welt ist es eigentlich einfach nur wichtig, dass die Leute was unternehmen."

Wie wichtig ein Einschreiten ist, wird einem oft erst dann bewusst, wenn man einen persönlichen Bezug dazu hat: Ob man einmal geholfen und Dankbarkeit zurückbekommen hat, selbst einmal Hilfe gebraucht hätte und niemand da war oder jemand aus dem Umfeld von einer Situation erzählt, in der geholfen wurde oder geholfen werden hätte sollen.

Ich habe schon selbst erlebt, wie es ist, wenn niemand hilft. Und es hat mir ein wenig den Glauben an die Menschheit genommen. Es hat mir mehr Angst eingejagt als beinahe alles zuvor.

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Anfang des Jahres hatte ich auf der Straße einen epileptischen Anfall, Menschen haben es gesehen und niemand hat geholfen. Ein Mann ist sogar neben mir gestanden, hat telefoniert und dabei zugesehen, wie ich versucht habe, aufzustehen. Ich habe es nicht geschafft; er blieb einfach daneben stehen.

Die ganze Zeit sah er zu und ich habe mich nicht getraut, ihm zu sagen, dass er mir helfen soll. Gerade wenn man Hilfe braucht, traut man sich oft nicht, darum zu bitten—immerhin würde man sie jemand anderem damit ja aufzuzwingen und man denkt oft, sie müsse von außen kommen. Nach dem Vorfall habe ich mich tagelang davor gefürchtet, Treppen runterzugehen oder in einer U-Bahn-Station zu stehen—einfach weil ich dachte, ich könne mich nur auf mich selbst verlassen. Der Mann neben mir würde mir nicht aufhelfen, also dürfte ich erst gar nicht fallen, nur das würde sicherstellen, dass nichts Schlimmeres passierte.

Ich hatte immer das Gefühl, mir würde jemand helfen, wenn mir etwas passiert. Nach dem Vorfall hatte ich dieses Gefühl eine Zeitlang nicht mehr.

Bis dahin hatte ich immer das Gefühl gehabt, mir würde jemand helfen, wenn mir einmal etwas passierte. Auch wenn es davor schon einige Male nicht so war. Nach dem Vorfall hatte ich dieses Gefühl eine Zeitlang nicht mehr. Ich war verschreckt, vorsichtig, habe mich hilflos gefühlt.

Nach einem Aufruf, Menschen mögen mir eigene Erfahrungen mit dem Thema schildern, nannten viele als Grund für fehlende Hilfestellung Wien. Auch in der Redaktion hatten wir diese Diskussion. In Wien interessiert sich jeder für alles, aber wenn etwas passiert, hat niemand etwas gesehen, hieß es. Um Weihnachten 2014 wurde ein Fall bekannt, in dem ein Obdachloser stundenlang leblos in einem Lift in der U-Bahn-Station Volkstheater lag. Er war an einem Herzinfarkt gestorben, Menschen nutzten den Lift weiterhin, keiner kümmerte sich um den Mann. Sind Menschen in anderen Ländern oder Städten tatsächlich hilfsbereiter?

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Interessant ist, dass man absolut keine kulturellen Unterschiede ausmachen kann, was die Bereitwilligkeit angeht, in Alltagssituationen zu helfen. Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern lassen sich aber sehr wohl ausmachen. Eine US-amerikanische Studie testete, wie Menschen in 23 verschiedenen Ländern auf drei verschiedene, spontane, nicht gefährliche Situationen im Alltag reagierten: einem Fußgänger, dem ein Stift zu Boden gefallen war, einer, mit verletztem Bein, der versuchte, einen Stapel heruntergefallener Hefte vom Boden aufzuheben und eine blinde Person, die versuchte, die Straße zu überqueren.

Laut der Studie gehörten zu den Ländern, in denen am ehesten geholfen wurde—Achtung, jetzt wird es heterogen und überraschend—Rio de Janeiro, San José, Lilongwe, Kalkutta und Wien. Die Städte, in denen am wenigsten geholfen wurde, sind mindestens genau so verschieden: Sofia, Amsterdam, Singapur, New York, Kuala Lumpur.

Dabei haben viele Menschen das Gefühl, dass gerade in Wien sehr wenig geholfen wird. Ich wollte Geschichten von Leuten hören, die eine solche Situation erlebt haben—auf welcher Seite auch immer sie in diesem Moment auch standen. Viele Geschichten waren traurig und verzweifelt, Menschen schrieben, dass sie geholfen hätten, aber niemand anders eingeschritten wäre.

Andere beschrieben Situationen, in denen sie nicht geholfen hatten und sich deswegen heute noch Vorwürfe machen würden. Es waren sehr viele Nachrichten. Menschen, die geholfen haben und Hilfe benötigt hätten. Menschen, die in Schlägereien eingegriffen, bedrängte Frauen beschützt, Rettung und Polizei gerufen haben.

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Ich hörte immer wieder laute Schläge gegen eine Tür und später auch Schläge auf ihren Körper. Die ersten paar Sekunden war ich völlig erstarrt und konnte nicht reagieren.

Magdalena erzählt zum Beispiel von ihren Nachbarn:

"Ich bin abends im Bett gelegen und habe telefoniert. Irgendwann bin ich dann beim Reden ins Stocken geraten, weil ich komische Geräusche aus dem Innenhof hörte. Zuerst dachte ich, dass ein Kind schreit und habe nicht weiter darüber nachgedacht. Als die Geräusche aber nicht aufhörten, wurde ich stutzig. Fast alle Fenster meiner Nachbarn waren offen, weil es so heiß war und es hallte recht stark. Keiner hat sich darum gekümmert—nicht einmal der Nachbar, der am Fenster rauchte und das zu 100 Prozent auch hörte. Im Fenster gegenüber brannte Licht und ich konnte trotz Jalousien in die Küche sehen. Eine Frau rannte am Gang vor der Küche hin und her, ein kleines Kind immer am Rockzipfel. Ich sah mir die beiden ein paar Sekunden an und verstand die Schreie nicht, es sah wirklich aus als würden sie spielen. Dann kam ein dicker Mann, Oberkörper frei, und packte die Frau. Er schlug ihr ins Gesicht, trat sie, warf sie zu Boden.

Sie schrie immer lauter, das Kind ebenfalls. Sie kämpfte sich vom Boden auf, nahm das Kind und rannte davon. Wohl ins Wohnzimmer, ich konnte diesen Teil der Wohnung nicht sehen. Ich hörte immer wieder laute Schläge gegen eine Tür und später auch Schläge auf ihren Körper. Die ersten paar Sekunden war ich völlig erstarrt und konnte nicht reagieren. Mein Mitbewohner riet mir, erst einmal abzuwarten. Das machte mich wütend. Ich rief die Polizei, die nach ewigen 15 Minuten auch eintraf. Die Polizisten zeigten sich enorm kooperativ und gingen ins Nachbarhaus. Die Familie wurde mitgenommen und ich am nächsten Tag zur Zeugenaussage gebeten. Seit dem schaue ich immer wieder in die Wohnung gegenüber. Den Mann habe ich nie wieder gesehen. Am nächsten Tag hat mir die Polizei erzählt, dass die ganze Wohnung demoliert sei."

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Natürlich sei sie froh, dass sie damals reagiert hat. Kurz habe sie überlegt, ob sie einen Fehler gemacht habe—und ob sich der Mann nun an seiner Frau rächen würde. Wäre sie rübergegangen und hätte an die Tür geklopft, wären die Kosten größer gewesen; und der Nutzen vermutlich kleiner.

Auch Manfred hat seine Geschichte geteilt: "Eine junge Dame wurde zuvor einmal bedrängt, erkennt im Bus die Männer wieder und bittet mich um Hilfe und Begleitung bis zur Polizei, die sie schon verständigt hatte."

Helfen bedeutet oft, über den eigenen Schatten springen zu müssen. Die eigene Comfort Zone verlassen zu müssen; nicht weiter aufs Handy starren zu können, wenn man eigentlich schon längst mitbekommt, dass da jemand Unterstützung braucht. Früher fiel es mir selbst extrem schwer, zu helfen. Sich ungewohnten, unheimlichen Situationen auszusetzen, in denen man beobachtet wird, ist oft sehr schwer. Das gilt für Hilfesituationen genau so wie für Referate, Vorträge oder Diskussionsrunden. Seine Angst in diesen Momenten zu verstehen und zu kontrollieren, kann man aber—und das ist das Schöne an alledem—lernen.

"In einem solchen Moment exponiere ich mich und mache mich angreifbar—und das ist natürlich peinlich", erklärt Maximilian Zirkowitsch. In den Trainings diskutiert er mit den Teilnehmern viel, dann werden Szenarien in Rollenspielen durchgespielt. "Wir machen auch Schreiübungen, die sind oft für Mädchen eine größere Überwindung, aber um das gehts ja auch, dass Frauen genau so laut sein sollen."

Viele hätten den Reflex, sich auf den Täter zu konzentrieren und ihn bestrafen zu wollen. Oft sei es aber wichtig, sich auf das Opfer zu konzentrieren, oder auf alle, die zusehen und nichts tun. "Vielleicht ist mein einziger Anspruch auch der, dass ich nicht will, dass das unwidersprochen stehen bleibt. Im Bus schimpft ein 80-Jähriger. Was soll ich dem noch groß beibringen? Aber ich kann allen anderen beibringen, dass so etwas nicht unwidersprochen im öffentlichen Raum stehen bleiben kann."

Hanna auf Twitter: @HHumorlos