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Warum psychologische Studien uns praktisch nichts über uns verraten

Du bist nicht Einstein, nur weil du das erstgeborene Kind bist—auch wenn manche Medien eine neue Studie so interpretieren. Unsere Autorin ist eine der WissenschaftlerInnen dahinter und muss es wissen.
Foto: imago/United Archives​

Erstgeborene müssen schon früh Verantwortung für ihre kleinen Geschwister übernehmen und sind deswegen auch später im Leben gewissenhafter. Letztgeborene haben das Problem, dass die besten Plätze in der Familie schon vergeben sind, weswegen sie besonders kreativ werden, um ihre eigene Nische zu finden. Und die armen Sandwichkinder, die eingeklemmt sind zwischen jüngeren und älteren Geschwistern, spielen die Vermittler—und werden deswegen später besonders kompromissbereit und verträglich. So oder so ähnlich waren die Annahmen, die in einer neuen psychologischen Studie, einer Zusammenarbeit der Universitäten Leipzig und Mainz, überprüft werden sollten. Ich muss es wissen, ich war eine der beteiligten WissenschaftlerInnen.

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Bitte schätze jetzt auf einer Skala von 1 bis 10 ein, für wie plausibel du den obigen Absatz hältst. Oder auf einer Skala von 0 bis 100, oder auf einer Skala von 13 bis 42 Katzenbabys—im Prinzip egal, weil die subjektive Einschätzung nicht unbedingt viel bedeutet, wenn es darum geht, ob solche Annahmen der Realität entsprechen oder in die Küchenpsychologie gehören. (Wobei Küchenpsychologie vielleicht ein unglücklicher Begriff ist, in der Küche lässt sich dank der geringeren Distanz zu Kaffee und Nahrung vermutlich sogar besser wissenschaftliche Psychologie betreiben.)

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Nachdem wir uns die Persönlichkeit von etwa 20.000 Personen zwischen 18 und 98 Jahren aus Deutschland, den USA und Großbritannien angeschaut haben (und die Ergebnisse kürzlich in einem Artikel in PNAS, einer amerikanischen Wissenschaftszeitschrift, veröffentlicht haben), hege ich den starken Verdacht, dass die Geschwisterposition praktisch gar nichts über die Persönlichkeit verrät. In unserer Studie unterschieden sich Erst-, Mittel- und Letztgeborene nicht hinsichtlich der Eigenschaften Extraversion (also dahingehend, wie extrovertiert jemand ist), emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit. Das einzige, was wir finden konnten, war eine leichte Abnahme der Intelligenz vom Erstgeborenen zu den Spätergeborenen und parallel dazu auch eine leichte Abnahme im selbsteingeschätzten Intellekt.

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Jetzt klingt es vielleicht doch so, als hätten wir einen total spannenden Intelligenzeffekt gefunden, aber einerseits ist der auch schon seit mindestens 40 Jahren bekannt, andererseits ist der Effekt sehr klein. Wirklich klein. Etwa in der Größenordnung von einem bis drei IQ-Punkte, was vermutlich auch nicht viel zum Verständnis beiträgt. Selbst wenn man eine grobe Vorstellung von der IQ-Skala hat—100 ist Durchschnitt, 180 ist Kategorie „Einstein", 80 hingegen gar nicht so hoch, eher Kategorie „Leute, die Ergebnisse von Facebook-IQ-Tests teilen und glauben"—, ist es schwer, einzuschätzen, was einige Punkte Unterschied bedeuten. IQ-Werte sind eine willkürlich festgelegte Einheit, und eine Konvention lautet, dass eine durchschnittliche Intelligenz irgendwo zwischen 85 und 115 Punkten liegt, womit wir festlegen, dass etwas weniger als 70% der Bevölkerung „normal klug" sind. Ein Unterschied von zwei Punkten wirkt da doch relativ bescheiden und würde höchstwahrscheinlich keine „fühlbare" Veränderung bedeuten. Davon abgesehen messen die meisten unserer Intelligenztests nicht exakt genug, um zuverlässig so kleine Unterschiede feststellen zu können.

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Das beantwortet aber immer noch nicht die brennende Frage, die uns alle interessiert (außer vielleicht Einzelkinder, von denen es gar nicht so wenige gibt): Sind wir denn jetzt tatsächlich zumindest ein ganz kleines bisschen klüger beziehungsweise blöder als unsere Geschwister? Ob man die wissenschaftlich halbwegs gesicherte Intelligenzabnahme für plausibel oder nicht hält, scheint ganz entschieden davon abzuhängen, ob man selbst das älteste Geschwister ist oder eben nicht. Die Annahme, dass der IQ der jüngeren Geschwister im Schnitt leicht niedriger ist, widerspricht aber gar nicht Einzelfallbeobachtungen, die das Gegenteil nahelegen. Es kann durchaus sein, dass—trotz der durchschnittlichen Intelligenzabnahme—das Nesthäkchen einer Familie anerkannte theoretische Physikerin wird, während der Älteste nur mit Hängen und Würgen den Hauptschulabschluss schafft. Die Intelligenzabnahme beobachten wir nämlich auf Ebene der Mittelwerte, und selbst da brauchen wir Hunderte oder Tausende Personen, bis wir den Effekt zuverlässig finden können. Dafür bekommen wir im Gegenzug für die Mühe ein schön „glattes" und leicht zu interpretierendes Ergebnis.

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Siamesische Zwillinge oder ein Schmetterling? Die Interpretation eines Rorschachtests kann ebenfalls sehr aufschlussreich sein. Foto: imago | Steinach

Wenn wir uns aber anschauen, wie sich einzelne Geschwisterpaare in ihrer Intelligenz unterscheiden, dann wird es (gelinde ausgedrückt) chaotisch. Im Prinzip können wir zwischen Erst- und Zweitgeborenem alles beobachten, inklusive Abweichungen von 30 IQ-Punkten und mehr—und zwar in beide Richtungen. Wir werden mehr Familien finden, in denen das ältere Geschwister klüger ist, in unserer Studie waren das ungefähr 6 aus 10. Daraus folgt aber im Umkehrschluss, dass in 4 von 10 Fällen eben das jüngere Geschwister intelligenter war. Damit sind Familien, in denen die Jüngeren die Intelligenteren sind, nicht mal unbedingt die Ausnahme von der Regel. Würde ich mich mit meinem Freund streiten und er hätte in 4 von 10 Fällen Recht, ich aber in 6 von 10 Fällen, dann würde ich nicht behaupten, dass ich in der Regel im Recht wäre und er im Unrecht (oder vielleicht würde ich das doch, aber meine Behauptung wäre dann statistisch schwach). Dass zwei Geschwister exakt gleich den gleichen IQ haben, ist übrigens ziemlich unwahrscheinlich. Aber natürlich gibt es einen gar nicht so schmalen Bereich, wo man pragmatischerweise sagen würde: „Die beiden sind eigentlich gleich clever", und das kommt recht häufig vor, auch weil Geschwister sich hinsichtlich der Intelligenz natürlich oft ähneln.

Deswegen ist es alles in allem keine besonders gute Idee, basierend auf der Geschwisterposition seine nächsten Mitbewohner zu casten, potentielle Lebensgefährten zu identifizieren oder gar zu entscheiden, welcher Bewerber am besten auf eine Stellenausschreibung passt. Letzteres wird mittlerweile tatsächlich diskutiert, damit wären wir dann knapp über dem Niveau von sternzeichenbasiertem Personalmanagement gelandet.

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Willkommen bei deinem ersten beschissenen Bürojob.

Überrascht haben mich die Ergebnisse nicht unbedingt. Research ist angeblich Me-search, allerdings hätte ich mich selbst aus unseren Daten rausschmeißen müssen, weil meine Geschwisterposition nicht eindeutig zu bestimmen ist—überhaupt haben wir Patchworkfamilien in unserer Studie ignoriert, die machen inzwischen aber auch zwischen 5 und 15% der Familien in Deutschland aus. Vielleicht hatte ich deswegen auch vorab keine persönliche Meinung zu dem Thema und die ganze Sache war für mich reichlich unemotional, mehr Meh-search als Me-search.

Den meisten Leuten mit Geschwistern scheint das anders zu gehen, und generell gibt es ein brennendes Interesse daran zu verstehen, warum wir so sind, wie wir sind—und warum andere eben anders sind, sich anders verhalten, andere Vorlieben haben und andere Meinungen äußern.

Entsprechend groß ist das Medieninteresse an Forschungsergebnissen aus der Persönlichkeitspsychologie. Persönlichkeitsunterschiede zwischen Frauen und Männern; Persönlichkeitsveränderungen mit dem Alter; Persönlichkeitsunterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften, Klimazonen, Bundesländern; Persönlichkeit vorhergesagt aus Facebook Likes; Persönlichkeit und Musikvorlieben; Persönlichkeit und Geschmacksvorlieben (wer Gin Tonic bevorzugt, ist eher Sadist); Persönlichkeitsunterschiede zwischen Katzen- und Hundtypen—alles schon mehr oder weniger ausführlich untersucht, mit ordentlicher Medienberichterstattung und entsprechenden Schlagzeilen.

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Weniger oft wird darüber berichtet, wie groß diese Effekte letztlich sind und was sie für den Einzelfall bedeuten, falls sie überhaupt irgendwas bedeuten auf der individuellen Ebene. Ich möchte nicht behaupten, dass kleine Effekte und kleine Unterschiede nicht interessant sind—falls dem so wäre, könnten wir Teile der Persönlichkeitspsychologie gleich einstampfen und andere Bereich der Psychologie direkt mitnehmen. Kleine Effekte, vorausgesetzt sie sind zuverlässig auffindbar und nicht nur Zufallsrauschen gemischt mit fragwürdigen Forschungspraktiken, können uns helfen, kleine Bereiche der menschlichen Psyche schrittweise besser zu verstehen.

Noisey: Wir haben Money Boys Diplomarbeit gelesen.

Das menschliche Erleben und Verhalten sind komplex und methodisch nicht gerade leicht zugänglich. Die Wahl eines geeigneten Partners kann zum Beispiel von einer Vielzahl von Faktoren abhängen; wie Persönlichkeit, Aussehen und spezifischen Präferenzen aller im Prozess beteiligten Personen, ganz abgesehen von Einflüssen der aktuellen Situation und natürlich einer gewissen Randomness, die überall ihre Finger mit im Spiel hat. Die Anzahl der Einflussfaktoren beschränkt dann automatisch die Größe des Effektes eines einzelnen Merkmals. Aus einer Studie zu schlußfolgern, dass Männer nur auf das Aussehen der Partnerin achten und Frauen bei Männern nur nach dem Status schauen (und nicht danach, ob sie eher Katzen- oder Hundetypen sind), lässt sich vielleicht gut verkaufen, wird aber in aller Regel nicht der Komplexität der Realität gerecht werden—und wird vor allem nicht von der Größe der gefundenen Effekte gestützt.

Und auch für Nicht-Psychologen wäre es ganz gut zu wissen, ob eine Studie tatsächlich herausgefunden hat, dass alle Katzen-Fans unverträgliche, unordentliche, introvertierte Neurotiker sind, um die man vermutlich einen großen Bogen machen sollte—oder ob es sich um kleine Unterschiede in der Durchschnittspersönlichkeit handelt, der eine Menge Raum lässt für neurotische Hunde-Typen und liebevolle, emotional stabile Katzenliebhaber, die ihr Leben im Griff haben.

Natürlich ist Letzteres wahr, und das behaupte ich jetzt nicht nur, weil ich eher der Katzentyp bin. Persönlichkeit ist komplex, und wenn überhaupt, können wir bislang nur kleine Teile davon erklären.


Titelfoto: imago/United Archives