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Was ich als Hardcore-Demo-Tourist in Berlin gelernt habe

Nur für ein bisschen Rangeln mit der Polizei nach Berlin fahren? Nichts da. Ich habe an einem Tag alle Demos in der Stadt abgeklappert.

Der Autor überlegt sich vor dem Kanzleramt seine nächsten Schritte. Alle Fotos von ihm

Demonstrationen sind super. Sie bringen Leute für ein gemeinsames Ziel auf die Straße, sie verschaffen Gruppen politisch Gehör, sie helfen, etwas zu repräsentieren, und für einige sind sie eine großartige Möglichkeit, Aggressionen abzulassen. Wenn bei großangelegten Neonazi-Aufzügen, bei Blockupy in Frankfurt oder am 1. Mai in Berlin Demo angesagt ist, lassen sich Massen an Leuten mobilisieren, die auch überregional anreisen, um die Demonstrierenden vor Ort zu unterstützen. Böse Zungen bezeichnen es als Demo-Tourismus, wenn Menschen im großen Stil von außerhalb anreisen, um beispielsweise den Krawallen in Leipzig beizuwohnen. Der Begriff soll genau das beschreiben: Leute kommen von weit her, um auf Demonstrationen zu stressen. Dabei geht es aber nicht nur in die großen Städte. Erst vor Kurzem machten sich jede Menge Demonstrierende aus Berlin, Halle und Göttingen in das 300-Seelen-Nest Bornhagen auf, um dessen Einwohnern zu zeigen, was sie von den Wahlerfolgen der AfD dort halten.

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Ungeachtet der Bewertung als "Krawallurlaub" liegen Demonstrationen und ein typisch touristisches Programm auch gar nicht mal so weit auseinander, zumindest in der Planung. Die Route wird schon lange vorher geplant und festgelegt und alle wollen früh aufstehen, um ja genug aus dem Demo- beziehungsweise Urlaubstag zu machen und ja keine Kundgebung—oder Sehenswürdigkeiten—zu verpassen. Wenn es etwas zu blockieren gibt, machen es sich manche sogar besonders früh auf den Gleisen des örtlichen Bahnhofs bequem—so, wie Touristen, die möglichst vor den Besuchermassen den Strand oder ein Denkmal erreichen wollen. Gerade Zusammenstöße bei Blockaden erinnern bei einer hohen Demo-Touristen-Dichte an Kabbeleien von Urlaubern über die besten Plätze in der Sonne. Was den einen das Strandtuch, ist den anderen das Transparent, statt Begrüßungen in einer Fremdsprache werden halt Parolen auswendig gelernt. Und nicht zuletzt bringen anreisende Demonstrierende in der Regel Geld in die örtliche Gastronomie, werden von den Anwohnern aber gleichzeitig als störend empfunden—je nach Verlauf der Demos verdienen an diesen vor allem örtliche Glaser und KFZ-Werkstätten.

Aber Tourismus hat auch einen Haken: Er schließt dich ein in deiner Blase aus Sight-Seeing und Hacksuff und blendet das, was es an alltäglichem Leben sonst gibt, größtenteils aus. Das ist dem Demo-Tourismus nicht unähnlich, denn auch hier geht es um eine konkrete Demo, die du besuchen (oder gegebenenfalls: blockieren) willst. Selten kommst du aus deiner politischen Blase heraus, wenn du zum Demonstrieren wegfährst, du bekommst gar nicht mit, wie es sich in der gegenüberliegenden Demo anfühlt. Das willst du ja üblicherweise auch nicht: Du reist schließlich mit einem konkreten, politischen Ziel in die Stadt. Oder zumindest mit dem Ziel, die übrigen Böller vom letzten Silvester loszuwerden.

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Auch wenn ich diese Art, auswärtige Gruppierungen zu unterstützen, sehr schätze, wollte ich es einmal so richtig wissen und den klassischen Demo-Tourismus auf ein neues Level heben. Ich wollte alles sehen! Den ganzen, unverwechselbaren Democharakter Berlins. Darum zog ich eines Samstags los mit einem ebenso klaren wie schwierigen Ziel: Ich wollte alle Demos, Aufzüge und Kundgebungen, die an diesem Tag in Berlin stattfanden, erleben und dokumentieren. Die Erfahrung stand einem streng geplanten Sightseeing-Trip jedenfalls in nichts nach. Und nebenbei konnte ich als zugezogene Unschuld vom Lande sogar noch Berlin ein bisschen besser kennenlernen, was sollte also schiefgehen?

In weniger Zeit mehr sehen zu wollen, macht Sightseeing zu einem noch größeren Albtraum

Wie einen ordentlichen Urlaub musste ich auch diese Demotour vorausplanen, um auch alles mitnehmen zu können. Die Pressestelle der Berliner Polizei diente mir dafür als Reisebüro. Fein säuberlich schrieb ich also jede noch so kleine Kundgebung mit, die angemeldet worden war, und sortierte sie schonmal nach Beginn, Ende und Route. Dabei passierte mir aber schon mein erster entscheidender Fehler: Ich hatte meine Checkliste zwei Wochen vor dem Stichtag gemacht, um alles planen zu können. Kurzfristige Anmeldungen kamen mir dabei natürlich nicht in den Sinn. Ob ich im Endeffekt mehr hätte mitnehmen können, wenn noch mehr Wegpunkte auf meiner Route gestanden hätten, bezweifle ich aber auch. Mit diesen Infos und der Allzweckwaffe Google Maps bastelte ich mir jedenfalls folgende Route:

Starten sollte alles bei der Dauerdemo gegen Mietverdrängung (Reinickendorf, 9-20 Uhr). Danach ging es zum Memorial Run für gefallene Soldaten des Veteranen-Bikerclubs Recondo Vets (Kurt-Schumacher-Damm, ab 12 Uhr). Als Nächstes stand ein anderer Motorradaufzug unter dem Motto "Gewalt fährt nicht mit" (TÜV Rheinland Akademie, ab 13 Uhr). Danach Fahrt zum Hauptbahnhof und von dort aus zur Demo "Zirkus ja—aber ohne Tiere" der Aktion Fair Play (Start Washingtonplatz, 13-16 Uhr), zur Mahnwache von staatenlos.info (Platz der Republik, 10-22 Uhr) und zur Kundgebung "Gegen die Verfolgung von Falun-Gong-Praktizierenden in China" (Pariser Platz, 12-20 Uhr); im Anschluss Zwischenstopp bei der Veranstaltung "Die Werte unserer Verfassung: Wo sind sie geblieben?" (Alexanderplatz, 15-18 Uhr);
schließlich zum Gedenkgang für Dieter Eich und Opfer rechter Gewalt (Buch, 14-20 Uhr).

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Veteranen sind immer pünktlich, auch wenn sie Biker sind

Optimistisch kam ich kurz nach elf bei der obligatorischen Dauerdemo gegen Mietverdrängung an. Die fünf älteren Männer, die ich dort unter ihrem Pavillon antraf, demonstrieren mittlerweile seit über zwei Jahren gegen Gebäudesanierungen und Aufwertungen in ihrer Siedlung. "Wow, ein Jubiläum, Glückwunsch!", meinte ich spontan—woraufhin mich einer der Männer darauf hinwies, dass es erst einen Grund für Glückwünsche gebe, wenn der Streit mit dem Investor zu Ende sei. Die Männer saßen einfach nur da, ließen ihre Transparente und Plakate für sich sprechen—ein paar Seitenstraßen von der Schule an der Heide entfernt –, schienen aber froh, mit mir über ihre Situation sprechen zu können.

Sie klagten über sinnlose Vorhaben zu Dämmung und Umbau, über Schikane wie jahrelang herumstehende Bauschuttcontainer und Gerichtstermine und die Vernachlässigung des Denkmalschutzes der Siedlung. Das war einerseits alles sehr interessant und ich freute mich, die tapferen Siedlungsverteidiger ein wenig bei ihrem Ausharren beschäftigen zu können, gleichzeitig wurden die Thesen aber immer redundanter und ich merkte, wie mir die Zeit davonlief.

Schließlich musste ich mich ziemlich hastig verabschieden, um doch noch rechtzeitig am Kurt-Schumacher-Damm ankommen zu können. Ich pokerte dabei mit einer Viertelstunde Verzug, wenn sich schon eine Menge Biker, zumal älter und als feierfreudige Kriegsveteranen, erst einmal zusammenfinden und sich geschlossen auf den Weg machen mussten—und öffentlichkeitswirksam sollte ja auch alles sein. Auf der Fahrt in diese Richtung kam ich aber, nicht zum letzten Mal an diesem Tag, mit dem größten Feind des Demo-Tourismus' in Kontakt: dem Straßenverkehr. In den Bussen verzögerte sich meine Tour deutlich, sodass ich etwa eine Viertelstunde nach Beginn des Zuges ankam und außer dem Dieselgeruch in der Luft nichts mehr von der Gedenkfahrt finden konnte. Offensichtlich kannten die Veteranen auch beim Motorradfahren keine Kulanz, was den Start ihrer Veranstaltungen anging—Bundeswehr-Drill versus Beginn cum tempore im Vorlesungssaal. Anstatt mich direkt zum nächsten Demoort aufzumachen, beschloss ich, noch dem Treffpunkt des Aufzugs, dem Café Hangar, einen Besuch abzustatten. Das Café war weiter vom Bahnhof entfernt als gedacht—und die Zufahrt dorthin abgesperrt. Nur die Transparente ließen noch darauf schließen, dass hier der Start der Gedenkfahrt gewesen war, während der Stacheldrahtzaun dem Gelände den nötigen militärischen Touch gab.

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Straßenverkehr und Demo-Tourismus haben ein äußerst ungesundes Machtverhältnis

Vor Ort selbst war aber nichts mehr los und ich merkte, dass ich dringend weitermusste. Schon wieder im Verzug mit dem öffentlichen Verkehr verfluchte ich auf meinen Fahrten alle öffentlichen Verkehrsmittel und alle Demoveranstalter, die ihre Aufzüge so weit über Berlin verteilt in so kurzen Zeitabständen starten ließen. Als ich, angepisst, geschafft und schon ziemlich verschwitzt, endlich ankam, war auch der zweite Motorradaufzug schon über alle Berge. Einem Paar auf Motorrädern, das ich auf dem Weg traf, ging es wie mir—sie waren zu spät gestartet und hatten das Spektakel verpasst, wollten aber noch hinterherfahren. Auf dem TÜV-Gelände selbst waren immerhin noch einige Gäste anwesend, die Livemusik aber schon vorbei und es waren auch nur noch wenige Biker zurückgeblieben, um ihre besten Stücke zu zeigen.

Einer der Organisatoren klärte mich auf, dass der Aufzug sich mittlerweile gegen Gewalt in der Gesellschaft und im Straßenverkehr generell richte und nicht mehr konkret auf die Bikerszene. Auch das Zusammenfallen mit dem Memorial Run sei purer Zufall. Stolz erzählte mir der Kollege, dass sogar zum ersten Mal der Bereich um die Siegessäule für diesen Aufzug gesperrt worden sei. "Geil!", dachte ich mir, "Vielleicht erwische ich die noch unterwegs." Diesmal wollte ich keine Risiken eingehen und machte mich direkt auf zum Hauptbahnhof, wo ich immerhin von einer Tanzgruppe aufgeheitert wurde.

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Es muss nicht PETA sein, es kann auch Sea Shepherd sein

Trotz der ganzen Positivität war ich nach wie vor gestresst und wollte auf jeden Fall die Demo gegen Tiere im Zirkus erwischen. Im Text zur Facebook-Veranstaltung zeigen sich diese hochemotional: … Auf dem Washingtonplatz selbst fand ich allerdings nur noch den Food Market und konsultierte leicht entmutigt noch schnell meinen guten Freund Google, der mir auch gleich die Demoroute ausspuckte. Da die Demo schon seit circa anderthalb Stunden unterwegs sein musste, wollte ich es nicht darauf ankommen lassen und lief hinüber zum Endpunkt der Veranstaltung, dem Kanzleramt. Direkt davor waren aber keine Demonstranten zu sehen, ich konnte auch keine aufziehenden Parolen hören und fand nur Rentnergruppen, die sich die Gegend anschauten. Langsam wurde ich resigniert: Sollte ich der Demoroute hinterherlaufen und versuchen, noch den Demozug zu erwischen? Sollte ich warten? Etwas ratlos atmete ich ein paar Minuten durch und ging dann weiter, um wenigstens noch von staatenlos über den Zustand der BRD GmbH aufgeklärt zu werden.

Vor dem Reichstag hätte ich gleichzeitig Glück und wahnsinniges Pech. Fair Play war dort! Von Schulkindern bis zu Rentnern posierten dort die unterschiedlichsten Leute, um auf die Ausbeutung von Wildtieren im Zirkus aufmerksam zu machen. Trotz der obligatorischen PETA- und auch Sea-Shepherd-Shirts war die Gruppe also bunt gemischt und die Organisatorin verkündete stolz, dass sich sogar spontan jede Menge internationaler Urlauber am Hauptbahnhof angeschlossen hätten, um für Tierrechte zu kämpfen. Aus Megaphonen schallten Songwriterlieder darüber, wie scheiße Zoos seien, zwei Schülerinnen, die zum ersten Mal auf dieser Demo waren, erklärten, dass sie einfach die Zustände in den Zirkussen nicht mochten. Thematisch passende Verkleidungen durften ebenfalls nicht fehlen:

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"Ein souveränes Deutschland ist ohne Russland unmöglich"

Pech hatte ich mit staatenlos.info. Ich sah eine Frau ein Transparent zusammenrollen, auf dem irgendetwas mit "Deutschland" stand, alles andere hatte sie bereits zusammengepackt. Auf den spontanen Verdacht hin fragte ich: "Entschuldigung, sind Sie staatenlos?", worauf sie mir sofort mit "Ja, sind wir—wir alle, wir alle!" antwortete. So viel zur Mahnwache bis zehn Uhr nachts: In der prallen Sonne vergeht einem auch die Lust zum Mahnen.

Ihr Kollege gesellte mich dazu und fragte, ob ich auch von dem Teil der Presse sei, der "die Wahrheit" schreiben dürfe. "Aber klar, wir sind ganz flexibel", versicherte ich ihm. Nicht überzeugt erzählte mir der Mann dennoch, dass Deutschland immernoch keinen Friedensvertrag habe und dass der Zweite Weltkrieg bis heute andauere. Die BRD halte Deutschland als Nachfolgerin der "Nazikolonie des III. Reiches" weiter besetzt und habe keine völkerrechtliche Legitimation. Die Resonanz, so der Mann, sei gut, nur ab und zu beschwere sich jemand über wirre Thesen. Warum das so sei, fragte ich, woraufhin er nur meinte: "Na, ich schätze, die haben einfach zu viel von den Chemtrails geatmet." Wer die denn sprühe? "Na, Sie sehen doch, was hier immer so rumfliegt, das kommt wahrscheinlich alles aus Amerika." Warum war ich eigentlich überrascht, dass hier wirklich jedes Klischee bestätigt wurde?

Mich leicht staatenlos fühlend lief ich weiter zum Brandenburger Tor. Auf der Straße Richtung Siegessäule war nichts von dem Motorradzug gegen Gewalt zu sehen, dafür sah ich, wie folgende Bühne gerade abgebaut wurde:

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Später fand ich heraus, dass es sich eine Demo von TGB Almanya gehandelt hatte, die gegen die geplante Resolution des Deutschen Bundestags zum Völkermord an den Armeniern auf die Straße gegangen war. Deutsche Politiker seien keine Richter und nicht berechtigt, über den Aghet zu urteilen. Schade, denn die Fotos vom Aufmarsch auf Facebook mit gefühlt gleich vielen Türkei-Flaggen wie Teilnehmern sehen aus, als hätte es ordentlich Lärm gegeben.

Du kannst mit den richtigen Meditationsübungen jeden morgen 5.000 Leute in einem beliebigen chinesischen Stadtpark mobilisieren

Ich lief also weiter zur Kundgebung gegen die Verfolgung der Falun-Gong-Praktizierenden. Diese Art der Meditation vertritt die Prinzipien "Wahrhaftigkeit—Barmherzigkeit—Nachsicht" und werde schon seit Ewigkeiten in China von Meister zu Schüler weitergegeben, die damit erstmals in den 90ern an die Öffentlichkeit gegangen seien, wie mir einer der Unterstützer erklärte. Im Zuge der fortschreitenden Kulturrevolution sei auch diese Tradition der chinesischen Regierung ein Dorn im Auge und die Meditationspraxis mit ihrer starken Anhängerschaft—100 Millionen Praktizierende nach Angaben der Demonstrierenden gegenüber 60 Millionen Mitgliedern der Kommunistischen Partei—gelte als Bedrohung. In nachgestellten oder gezeichneten, hochdramatischen Bildern werden Foltermethoden zur Gehirnwäsche dargestellt, Bilder von tatsächlichen Folter- und Mordopfern gezeigt und auf Untersuchungen zum Organraub an inhaftierten Praktizierenden hingewiesen.

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In deutscher, englischer und chinesischer Sprache lagen zahlreiche Infomaterialien aus, damit sich auch chinesische Touristen über Inhalte informieren könnten, die es in China nicht zu lesen gebe. Mich beeindruckten aber vor allem die Aktivisten, die nicht mit Passanten sprachen: In der Mittagshitze standen sie seelenruhig da und vollzogen zu einem Tonband in chinesischer Sprache ihre Meditationsübungen—so, wie es die Praktizierenden auch in China täten, so der Unterstützer: nicht mehr, nicht weniger.

Religiös aufgeladener Antifaschismus hat Konjunktur

Mit dem ersten Paar Flyer, die mich tatsächlich interessierten—trotz der sehr reißerischen und eher an Yakuza-B-Movies erinnernden Bilder auf den Transparenten—entdeckte ich direkt gegenüber noch einen weiteren Infostand, der nicht auf meiner Liste war: Hier wurde bildgewaltig der politische Terror im Iran angeprangert, die Politik der Mullahs als faschistisch bezeichnet. Gemälde von schreienden, gesteinigt werdenden Frauen und Stricke mit Blumen machten auf jeden Fall Eindruck, jede Menge Passanten spendeten für aus politischen Gründen Geflüchtete aus dem Iran. Neben der regressiven Politik sei gerade die Hinrichtung durch Steinigung antiislamisch, weil sie gegen Gebote des Friedens verstoße, erklärte mir ein Aktivist. Auf jeden Fall ist es interessant, wie auch die Kritik an faschistischer Politik mit religiösen Begründungen aufgeladen werden kann.

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Junggesell*innenabschiede sind fast wie Demos

Trotz meiner knappen Zeit wollte ich noch schnell sehen, was es am Alex über die Werte unserer Verfassung zu sagen gab, und nahm die nächste Bahn. Auf dem Weg nach unten kam ein Junggesellinnenabschied an mir vorbei, dem ich eigentlich nur etwas für die Laune abkaufen wollte, ich kam aber mit ihnen ins Gespräch über meinen Job. "Hey", sagte eine von ihnen, "wir sind doch alle uniform hier und haben der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen, wir sind quasi eine Demo!" Damit hatten sie eigentlich Recht. Zumindest sollten Junggesell*innenabschiede genau so angemeldet werden, damit auch immer genug Klopfer für alle da sind.

Seems legit

Die Werte unserer Verfassung sind in einem Zelt der Pokémon Kids Tour verschwunden

Nach dieser doppelten Aufheiterung fand ich am Alexanderplatz vieles, nur nicht die gesuchte Veranstaltung. Es gab Bespaßung für die Kleinen, viel Werbung für neue Getränkesorten und den ADAX, Fast-Food-Stände und jede Menge Atzen, die sich eine Pikachu-Mütze geholt hatten—nur über den Verbleib der Werte unserer Verfassung wollte niemand sprechen. Vielleicht sind diese im Konsumüberfluss der modernen Großstadt verschwunden.

Das Leben auf dem Dorf wäre mit einer ordentlichen Infrastruktur viel geiler

Bis Buch hatte ich eine weite Strecke und die Suche auf dem Alexanderplatz hatte viel Zeit gekostet, also beeilte ich mich Richtung Norden (und ja, ich habe vergessen, die Pikachu-Typen zu fotografieren). Dummerweise hatte ich mich nicht nach der genauen Route umgesehen und ich musste überlegen, von welchem Punkt zwischen Karow und Buch ich am schnellsten zur Demo laufen konnte, bevor sie sich auflösen würde. Die Wahl fiel auf den nördlicheren Punkt und ich hastete los, nur einen ungefähren Plan davon im Kopf, wie ich zur Piazza in Karow kommen sollte. Auf dem Weg durch den Vorort fühlte ich mich endgültig nicht mehr wie ein auf laute Parolen geiler Demo-Tourist, sondern wie ein ziemlich verraffter Schuljunge, der nach einem Bauwagenfest im Nachbardorf in sein Heimatdorf zurückläuft, nur, dass hier schon so etwas wie Busverkehr am Wochenende existierte. Das Demo-Tourismus-Erlebnis hatte sich längst überlebt und ich fühlte mich in etwa so stolz auf das ganze Konzept wie ein Oberstufler auf den Abend, der ihn jetzt mit Kopfschmerzen und Bierschiss plagt.

Google Maps ist dein Feind

Das Ende der Geschichte ist schnell erzählt: Die Gedenkdemo für Opfer rechter Gewalt erwischte ich circa vier Stunden nach deren Beginn nicht mehr. Die Piazza in Karow war menschenleer, ich hatte keine Kraft mehr, auf einen eventuell sechs Stunden durch einen ganzen Vorort wandernden Gedenkzug zu warten und ich war beleidigt, weil ich die einzige Demo verpasst hatte, auf die ich selbst gerne gegangen wäre. Als ich zu Hause aus der Bahn stieg, sah ich einen Jungen mit einem Antifa-T-Shirt und hoffte, doch noch etwas über die Demo herausfinden zu können: "Hey, warst du auf der Demo in Buch?" —"Nee, ich war auf 'ner anderen Demo."—"Auch hier in Berlin?"—"Ja, am O-Platz, Solidarität für Frankreich und so." Mist.

"Reiseplan" und Ausbeute

Ich hatte an diesem Abend keinen Nerv mehr für das Thema Demotourismus, musste aber noch einmal sehr über den staatenlos-Flyer lachen. Die Ausbeute war doch gar nicht übel und dokumentiert einen ziemlich anstrengenden Urlaubstag in der Demolandschaft. Es hatte etwas von einem halben Jahr Backpacking, nur auf einen Tag konzentriert: Es war manchmal schlimm, hat mich aber weitergebracht und ich habe sehr viel für mein Leben gelernt, ich schwöre. Fazit: Demo-Tourismus darf ruhig kurz, bündig und der Ballermann unter den Kultururlauben bleiben.