FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Was ich aus ,The Man in the High Castle‘ über Freiheit und Demokratie gelernt habe

Alternative Timelines ziehen immer. Und genau dieser hat sich nun eine neue Serie angenommen.
Foto: Amazon

Alternative Timelines ziehen immer. Sei es wie im Blockbuster-Game Fallout 4, das momentan Menschen mehr zum Zocken in einer postnuklearen Gesellschaft als zum Ficken motiviert, oder der haarsträubend unplausible fünfte Aufguss der Terminator-Filmreihe.

In Zeiten, in denen zumindest von EU-Gegnern wieder mal die Dämmerung eines Dritten Weltkriegs heraufbeschworen wird und Staaten nach alter Sitte in Blocks beziehungsweise Ost und West kategorisiert werden, sind Was-Wäre-Wenn-Gedankenspiele gerade der heiße Scheiß.

Anzeige

Besonders in Österreich ist das Hättiwari-Modell rund um den Zweiten Weltkrieg ein populäres Diskussionsthema—typisches Verliererverhalten eben. Dass aber mit einem völlig anderen Verlauf des Naziregimes keineswegs alles besser wäre, wie uns manch Ewiggestrige gerne weismachen wollen, ist in einige Köpfe nur schwer rein zu bekommen. Auch der oft verlangte starke Mann an der Spitze, mit oder ohne Bärtchen, ist kein Garant für mehr Lebensqualität.

Abhilfe schafft hier die Verfilmung eines Werks unser aller Lieblings-Dystopen Philip K. Dick. Der Autor, der die Roman-Vorlagen zu so epischen Werken wie Blade Runner, Total Recall oder Minority Report geschaffen hat, beschäftigt sich in The Man in the High Castle mit einem Alternativuniversum, in dem die Nazis und Japan den Krieg gewonnen haben.

Amazon hat sich mit der Verfilmung nun erstmals über eine wirklich große Eigenproduktion getraut, den Stoff als Miniserie herausgebracht und vor kurzem über seinen Streaming-Dienst Prime veröffentlicht. Die deutsche Fassung startet am 18. Dezember. Auch wenn die Story teils erheblich vom Buch abweicht, kann ich euch nach einem gut zehnstündigen Bingewatch nur sagen: Schaut euch das an.

Wir schreiben das Jahr 1962, gut 15 Jahre nach der Kapitulation der USA. Nazideutschland hält, als einzige Nuklearmacht der Welt, den Großteil des Ostens der USA als Kolonie an der Leine, während Japan die Westküste okkupiert. Dazwischen liegt entlang der Rocky Mountains eine neutrale Zone, die in etwa Charme und Perspektiven des frühen Westberlin versprüht.

Anzeige

Eine mysteriöse Widerstandsbewegung versucht die Regimes zu schwächen, während die immer unausgeglichener werdenden Machtverhältnisse der beiden ehemals Verbündeten in einen Kalten Krieg und gegenseitiges Misstrauen münden—der perfekte Nährboden für einen neuerlichen Krieg. Soweit das Setting. Was aber wesentlich interessanter als die bisweilen schleppende Story und das manchmal mediokre Schauspiel ist, sind die verstörenden Projektionen dieser Vorgaben auf den „American Way of Life", wie wir ihn kennen.

Ab hier gibt es ein paar kleinere Spoiler (aber keinen Grund, sich anzumachen—wir verraten auch garantiert nicht, wie die Geschichte ausgeht. Auch, wenn das Buch bereits aus dem Jahr 1962 ist).

Wenn zum Beispiel bei einem Stopp im Hinterland ständig kleine Ascheflöckchen herabregnen und der gutmütige Kleinstadtsheriff das wie selbstverständlich damit begründet, dass im örtlichen Krankenhaus „immer dienstags die Krüppel und Todkranken" kremiert werden. Ein Gänsehautmoment. Wenn von Camps in Chicago oder Boston die Rede ist, von 100 Prozent erfolgreichen Säuberungen der Semiten durch die Nazis und von Pflichten, die getan werden mussten.

Foto: Amazon

Hier lauert das tatsächliche Grauen tief unter der Oberfläche eines ansonsten typischen Nachkriegsamerikas. So typisch, dass selbst die US-stämmigen Obernazis die Residenz in den Hamptons schätzen—inklusive drei Kindern, Hund und stolzer Mama im Petticoat mit Schürze; zwar tablettenabhängig, wie alle Hausfrauen in den Wirtschaftswunderjahren, dafür aber mit Mutterkreuz. Zu essen gibt es Truthahn und Apple Pie. Der Riesling dazu ist ein kleiner Bruch in der ansonsten perfekten Kopie der frühen Sixties. Und das Hakenkreuz, das statt der Sterne das US-Banner ziert wird wohl immer gruselig bleiben.

Anzeige

Überhaupt erscheinen die besetzten USA dieser alternativen Geschichte als ein groteskes Zerrbild der naiven Zeit, als noch jeder rauchte und sogar Ärzte in der Sprechstunde Zigaretten anboten. Die Architektur wirkt, als hätte man das Set von Mad Men mit ein paar Elementen aus Wolfenstein gemoddet. Vertraute Anblicke wie die Bay Area oder der Hudson River werden brutal mit größenwahnsinnigen Nazi-Betonbauten gebrochen, Hakenkreuze überall. In der letzten Folge werfen wir sogar einen Blick auf das Berlin in der vollendeten Wahnwitz-Vision von Albert Speer. Sogar die österreichische Burg Werfen kommt wie schon im Klassiker Where Eagles Dare wieder zur zweifelhaften Ehre als Nazi-Hochburg (pun intended).

Es gibt schon elektrisch verstärkte Musik, Rock'n'Roll sucht man aber vergeblich. Japanische Schnulzen einerseits und glatter weißer Protopop à la Gene Pitney beherrschen die Musikszene, Elvis gibt es nicht. „Negermusik", ja die gibt es, in Form von frühem Jazz, aber auch nur im Westen. Die Japaner dulden Afroamerikaner—auch, wenn sie bei den mit Nazideutschland übereinkommenden Rassegesetzen gnadenlos sind und vereinzelt enttarnte Juden ebenso perfide exekutieren wie die SS-Schergen im Osten.

Die beiden Besatzungsmächte liegen aber trotzdem bei weitem nicht gleichauf. In der Serie dreht sich ein wesentliches Handlungselement um die im Vergleich zu den Deutschen weit unterlegene Technologie der Japaner. Die Nazis haben Überschall-Passagiermaschinen, die New York in zwei Stunden mit San Francisco verbinden. Es gibt Farbfernsehen. Sie haben ein neues, verbessertes Zyklon B, das unsichtbar und geruchlos ist. Und vor allem: Sie haben die Bombe und diese auch schon eingesetzt.

Anzeige

Das Kaiserreich Japan hingegen ist immer noch in seinen Jahrtausende alten Traditionen verhaftet, lebt den Shintoismus und pflegt den Ehrbegriff weiterhin im äußersten Fall bis zum Exzess, sprich rituellen Seppuku. Traditionen, die den Nazis fremd scheinen und unverhohlen belächelt werden. Für sie zählt nur nüchterne Effizienz.

Der typische Amerikaner hingegen existiert, wenn überhaupt, nur als bizarre Nebenfigur im Mittelteil der Serie in Form eines nicht näher benannten „Marshals". Inklusive Staubmantel, Boots, Stetson, Repitierflinte und dem wahrscheinlich derbsten Kentucky-Akzent seit Brad Pitts Aldo Raine in Inglourious Basterds. Mit Zahnstocher im Mund und einer als Kartenspiel angelegten Kartei an steckbrieflich gesuchten Staatsfeinden ist dieser schießwütige, Lynchjustiz betreibende Kopfgeldjäger ein Abbild amerikanischer Söldner der Jetztzeit.

Es sind die Seitenhiebe auf oft belächelte US-Heiligtümer, die zeigen, wie massiv ein totalitäres Regime die persönliche Freiheit in der Praxis einschränkt.

Aber eben nur in der anarchischen Region der Pufferzone, denn in den besetzten Gebieten gibt es weder Bibeln noch Waffen oder Munition zu kaufen, es sei denn man ist Japaner oder Nazi. Der Erwerb des Alten Testaments oder einer Knarre gestaltet sich so schwierig (und auch so gefährlich) wie Drogenhandel in Singapur. Gerade diese feinen Spitzen auf oft belächelte amerikanische Heiligtümer machen deutlich, wie massiv die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch ein totalitäres Regime in der Praxis tatsächlich sind.

Die Serie versteht es unterm Strich ziemlich gut, die typischen sozialen Mechanismen eines besetzten Landes herauszuarbeiten. Vom profitsüchtigen Geschäftsmann, der sich für Geld bedingungslos den Besetzern anbiedert, über die schulterzuckenden Mitläufer bis hin zu den fanatischen Widerständlern und den Intriganten in höchsten Regierungskreisen. Und natürlich das völlig unbeeindruckte Kriminal, denn drogenabhängige Funktionäre und sexsüchtige Politiker müssen immer bedient werden, Diktatur hin oder her. Da kann die Geheimpolizei schon mal ein Auge zudrücken.

Doch Verrat in den eigenen Reihen wird, ungeachtet persönlicher Freundschaften, rigoros geahndet, denn nur so lässt sich ein Regime wie das fiktive Großdeutschland oder das reale Nordkorea durchziehen. Wer also meint, zu Opas Zeiten war alles besser, ein starker Mann gehört her und als treudeutscher Bürger mit Arier-Nachweis hätte man eh nix zu befürchten, sollte sich diese Serie gewissenhaft zu Gemüte führen. Und mal drüber nachdenken, wie es in der Praxis aussieht, wenn in einem Naziregime das eigene Kind einen Gendefekt hat.