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Was ich aus der Geheimdienstakte meines Vaters über ihn gelernt habe

Ich wuchs als Sohn eines rumänischen Theaterregisseurs auf, den das kommunistische Regime damals als Bedrohung ansah.

Der Autor und sein Vater | Alle Fotos: bereitgestellt vom Autoren

Während der kommunistischen Diktatur haben sich viele Menschen bereitwillig in den Dienst der Securitate, also des rumänischen Geheimdiensts, gestellt. Die Securitate war damals einer der größten Geheimdienste Osteuropas: Irgendwann waren dort sogar fast eine halbe Million Informanten tätig—und das in einem Land mit damals 22 Millionen Einwohnern. Zu vielen unserer Eltern hatte man Geheimakten angelegt, unter anderem auch zu meinem Vater Alexandru Tocilescu—auch Toca genannt—, der von 1973 bis zu seinem Tod im Jahr 2011 als Theaterregisseur gearbeitet hat. Um genau zu sein, war seine Akte besonders dick.

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2008 durfte mein Vater seine Akte sogar selbst durchlesen. Um Mitglied des Rumänischen Theaterverbandes UNITER zu werden, musste er eine offizielle Bestätigung vorlegen, dass er niemals ein Agent der Securitate gewesen war. Als er diese Bestätigung schließlich bei den Behörden anforderte, bot man ihm auch an, einen Blick in seine Geheimdienstakte zu werfen.

Er erzählte mir dann auch ein bisschen über deren Inhalt. Gewisse Leute hielt er damals schon für Spitzel, aber er nahm es ihnen nicht übel. Das riesige Ausmaß der über ihn gesammelten Infos schockierte meinen Vater nicht—er war eher verwundert darüber, wie banal sie ausfielen.

So befand sich in seiner Akte zum Beispiel die Kopie einer Postkarte, auf der nur geschrieben stand, wie schön es in Rom sei. Oder eine Notiz, die den Inhalt eines Pakets von meinem Onkel aus Deutschland festhielt: "2 Paar Damenstrümpfe. 2 Packungen Würstchen. 3 Packungen Maoam-Kaubonbons. 2 Toblerone-Schokoladenriegel. 1 Flasche Multi-Sanostol."

Ich wollte das alles mit eigenen Augen sehen und stellte deshalb einen entsprechenden Antrag. Eines Morgens rief mich während der Arbeit dann eine unbekannte Telefonnummer an. "Herr Tocilescu?", fragte eine Frau am anderen Ende der Leitung freundlich. "Hier spricht der National Council for the Study of Secret Police Archives. Sie haben einen Antrag zur Einsicht in die Akte ihres Vaters gestellt. Ich rufe Sie nun an, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihnen die Akte am nächsten Mittwoch ab 09:00 Uhr zur Verfügung steht."

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Und so betrat ich an besagtem Mittwoch einen Lesesaal, in dem verschiedene Akten auf verschiedenen Tischen verstreut waren. Man sagte mir, dass ich keine Fotos machen dürfte. Deswegen entschloss ich mich dazu, alles einfach aufzuschreiben, was ich als wichtig oder witzig einschätzen würde. Ein Mann reichte mir die Dokumente und auf den ersten Ordner hatte jemand in Großbuchstaben dick und fett das Wort "Traian" geschrieben. Das war wohl der Codename meines Vaters, aber ich weiß nicht, wieso. Als ich anschließend die Unterlagen durchblätterte, habe ich folgende Dinge über meinen Vater herausgefunden.

Mein Vater pendelte zur Arbeit, was anscheinend schlecht war

Wir schreiben das Jahr 1973 und mein Vater hat gerade sein Studium in der rumänischen Stadt Brăila beendet, wo er nun auch bei einer Aufführung von August Strindbergs Schwanenweiß Regie führt. In einer Notiz von einem unbekannten Informanten heißt es, dass mein Vater gar nicht in Brăila wohnt, wo ihn das kommunistische Regierung hinversetzte. Nein, stattdessen pendelt er immer zwischen Brăila und Bukarest hin und her. Außerdem führt er kein allzu enges Verhältnis zu seinen Kollegen und ignorierte die Bitte des Theatermanagers, doch das Pendeln einzustellen.

In einer anderen Notiz steht, dass mein Onkel in Deutschland lebt, wo er 1967 hingeflohen ist. Dazu gibt die zweite Notiz auch noch Aufschluss über die familiäre Situation: Vater, Alexandru, ehemaliger Arzt der Eisenbahngesellschaft, inzwischen im Ruhestand. Mutter, Elena, ebenfalls im Ruhestand.

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Mein Vater hat die bürgerlichen Pflichten der Arbeiterklasse nicht verstanden

Nach dem Erfolg von Schwanenweiß landet mein Vater in der Stadt Pitești, wo er ein japanisches Theaterstück inszeniert. Anschließend geht es weiter nach Piatra Neamț, wo er Die lustigen Weiber von Windsor auf die Bühne bringt und damit erneut einen Erfolg feiert. Ein Spitzel schreibt:

"Seine Ideen und Vorstellungen sind im Allgemeinen sehr modern und vom Westen beeinflusst. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der hippie-esken Art und Weise wieder, wie er sich anzieht und in der Öffentlichkeit präsentiert (lange Haare, Bart, Perlenketten, Armbänder, Amulette, Schlagjeans, knallbunte T-Shirts etc.)."

Mit immer größer werdendem Erfolg wächst auch die Zahl der Informanten, die für meinen Vater zuständig sind. Einige von ihnen sind dabei gute Freunde, die sich aufgrund gewisser Umstände dazu gezwungen sehen, Auskunft über ihn zu geben. Dabei sagen sie jedoch nie etwas Schlechtes. Andere Informanten sind Statisten oder auch technische Mitarbeiter der Theater.

"In seiner Kommunikation mit anderen Menschen fehlt es ihm an Respekt und Höflichkeit. Außerdem trinkt er viel—wenn möglich auf Kosten seines Umfelds—und denkt nur an sich selbst", schreibt jemand.

"In Bezug auf die bürgerlichen Pflichten der Arbeiterklasse zeigt er kein Verständnis oder will kein Verständnis zeigen", erklärt jemand anderes. In einer Zusammenfassung des Geheimdienstmitarbeiters, dem man die Akte zugestellte, heißt es:

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"Für Tocilescu Al. hat man eine Informations- und Ermittlungsakte angelegt und darin heißt es, dass er sich feindselig verhält."

Toca führt an verschiedenen Theatern in Bukarest weitere Stücke auf, die zum einen modern und zeitgenössisch anmuten, zum anderen aber auch die damaligen Machthaber subtil kritisieren.

Und genau hier beginnt laut der zweiten Akte auch der Kampf mit der Zensurbehörde. In besagter Akte sind die Transkripte mehrerer abgehörter Telefonate zu finden, die zeigen, wie mein Vater diverse Personen darum bittet, den Zensoren vom Kulturministerium entweder dazwischenzufahren oder sich bei deren Vorgesetzten zu beschweren. Die Antworten fallen jedoch eher vage aus und dann gibt es noch weitere Telefonate: erbitterte Diskussionen zu Kostümdetails, zur Farbe eines Koffers, zum Ton einer Sprechrolle, zum Einsatz einer Requisite oder zur Frisur eines Schauspielers. Man kann die Frustration bei den ganzen Argumenten und Erklärungen förmlich spüren.

Gleichzeitig heißt es in den Anmerkungen zu meinem Vater aber auch: "Abgesehen davon ist alles wie gewohnt: vulgär, sarkastisch und diverse Obszönitäten, wenn er die Staatsoberhäupter, das Ministerium seines Berufsfelds und so weiter erwähnt."

Ein Nachbar hat Folgendes zu sagen: "Zu Hause kommt es bei der überwachten Person häufig zu lauten Partys, die das Umfeld stören und jegliche positive Einschätzungen unmöglich machen." Herr Cilianu lebte damals über uns und er konnte meinen Vater auf den Tod nicht ausstehen.

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Einige der Informanten hatten mit Theater nichts am Hut

Irgendwann zu dieser Zeit—es muss so um 1982 herum gewesen sein—beantragen meine Eltern ein Visum, um meinen Onkel in Deutschland besuchen zu können. Diesem Antrag gibt man jedoch nicht statt. Außerdem hat man eine Reihe an Passfotos aus einem Umschlag entfernt, den mein Vater meinem Onkel zuschicken wollte. Toca geht an das Bulandra-Theater von Bukarest. Hier ist vor allem die Tatsache interessant, dass die meisten auf meinen Vater abgestellten Informanten ihn als unglaublich talentiert einschätzen—manche reden sogar vom besten Regisseur seiner Generation.

Die negativen Anmerkungen zu meinem Vater reißen aber dennoch nicht ab: "Er riecht bei den Proben nach Alkohol!", "Er benutzt Schimpfwörter!", "Er schreit die Schauspieler an!" oder "Er trinkt während der Proben!" Der Securitate-Informant, der für den Theaterbereich zuständig ist, beschwert sich beim Theatermanager Ion Besoiu darüber, dass mein Vater als unerwünschtes Element gilt. Besoiu meint jedoch nur, dass sich der Agent um seine eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Besagter Agent beschwert sich erneut, aber Besoiu ignoriert ihn einfach.

Ein weiterer Eintrag besagt, dass sich Toca mit dem Folk-Sänger Florian Pittiș angefreundet hat, der T-Shirts mit den Logos ausländischer Bands wie etwa "The Beatels" (sic!) trägt und dem während seiner Touren mehrere weibliche Fans "im Alter von 14 und 15 Jahren" folgen.

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Des Weiteren beschwert sich ein Informant darüber, dass Toca nach den neun Monate andauernden Proben für Molières Tartuffe plötzlich damit anfängt, an Michail Bulgakows Sklaverei der Frömmler zu arbeiten—also einem Stück über Molière und Tartuffe. Daraus schließt der Informant, dass Toca nicht dazu in der Lage ist, etwas zu Ende zu bringen. Die Erklärung meines Vaters, dass die beiden Stücke an aufeinanderfolgenden Abenden aufgeführt werden und dadurch eine Einheit ergeben sollen, kann den Informanten nicht überzeugen: "Wenn ein Stück fertig ist, dann führt man es auf und fängt erst dann damit an, am nächsten Stück zu arbeiten."

Besagter Informant berichtet außerdem mit Freude darüber, wie es bei den Proben eher schlecht läuft und dass Toca mit einigen Schauspielern nicht klarkommt. Er feiert es sogar als eine Art Triumph, als mein Vater im Winter eines Morgens beim Theater anruft, um den Leuten dort mitzuteilen, dass er nicht zur Probe erscheint, weil es im Saal zu kalt ist. Die bereits anwesenden Schauspieler sind darüber natürlich nicht gerade erfreut. Das ist Toca jedoch egal und er meint, dass er erst im Theater auftaucht, wenn es dort warm ist. Zur Verteidigung meines Vaters muss ich hier anmerken, dass die Heizungen aufgrund der klirrenden Kälte kaputt gegangen sind. Schließlich klauen zwei Theatermitarbeiter ein funktionierendes Heizgerät und Toca versöhnt sich mit seinem Team. Das Leben geht weiter.

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Meine Familie war anscheinend der Meinung, dass das System nicht gut genug ist

Der Autor

Der Geheimdienst hörte unser Telefon ab und schrieb jegliche Gespräche nieder. Dabei hat man auch die langweiligsten und banalsten Dinge notiert:

"12/09/82, 18:22 Uhr.

Anruf von 123454. Freund Denis grüßt den kleinen Alex (Kindergarten) und spricht dann mit Valeria. Er erzählt ihr, dass er am Vortag in die Nähe des Piața Romană gezogen ist, und teilt ihr seine neue Telefonnummer mit. Valeria schreibt diese auf. Sie meint, dass Toca (Ehemann) nicht zu Hause ist. Sie und Alex schauen später vielleicht noch mal kurz vorbei."

1983 bietet man Toca an, in Budapest beim Theaterstück Titanic Waltz Regie zu führen. Nachdem er mehre Male ein Visum für Ungarn beantragt hat, erlaubt man ihm schließlich die Ausreise. Meine Mutter bittet darum, ihn zusammen mit mir besuchen zu dürfen. Ein Informant warnt in einer Anmerkung jedoch davor, dass die Tocilescus "in allen Belangen eine wilde Familie sind. Im privaten Umfeld machen sie alle möglichen Witze über die Partei sowie unsere sozialistische Ordnung. Nichts kann sie mehr zufriedenstellen, alles ist gelogen und unfair." Man erlaubt meiner Mutter und mir nicht, meinen Vater in Ungarn zu besuchen.

Als mein Vater nach Rumänien zurückkehrt, erhält das Bulandra-Theater den Auftrag, eine patriotische Show zur Feier der vielen Triumphe des Kommunismus auf die Beine zu stellen. Während einer Zusammenkunft der Angestellten kommt es jedoch zu einem kleinen Aufstand: Toca, der Schauspieler Victor Rebengiuc und einige andere Mitarbeiter wollen nicht, dass das Theater an einer solchen Produktion beteiligt ist. Der Schauspieler Marcel Iureș gibt außerdem an, dass er keine patriotischen Gedichte aufsagen wird. Im Grunde weigert sich die Belegschaft, der sozialistischen Ordnung Tribut zu zollen, und der Manager Ion Besoiu hat auch keine Lust darauf, seine Angestellten umzustimmen—so schildert es zumindest der Informant.

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Ein Jahr später führt Toca bei Hamlet Regie. Zu diesem Zeitraum lassen sich eine ganze Menge Anmerkungen finden: Mein Vater und die Schauspieler produzieren ein Stück, das sich ein wenig zu offensichtlich gegen das System ausspricht. Einige Mitglieder der Besetzung sind der Meinung, dass man den Text zu stark verändert hat, und Rebengiuc weigert sich, die Rolle des Claudius zu übernehmen, weil ihm die Änderungen nicht gefallen. Der Informant betont in seiner Notiz außerdem, dass mein Vater so das Vertrauen des Schauspielers verliert. Das Stück ist natürlich trotzdem ein voller Erfolg. Shakespeare kann man eben nicht wirklich zensieren.

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Wenn man die Bühne in eine Kirche verwandelt, schert das niemanden

Toca beantragt erneut, meinen Onkel besuchen zu dürfen, aber man weist ihn wieder ab. Er ist deswegen richtig sauer und bleibt hartnäckig. Ein guter Freund schreibt in seiner Rolle als Informant, dass er nicht glaubt, dass mein Vater im Falle eines Besuchs in Deutschland bleiben würde—dafür liegt ihm das rumänische Theater zu sehr am Herzen. Außerdem hätte er es im Westen nicht so einfach, ein Star zu werden. Und dazu ist ihm sein soziales Umfeld zu wichtig. Besagter Freund gibt die Empfehlung, meinem Vater die Reise zu erlauben. Die rumänische Regierung sagt jedoch weiterhin Nein.

Toca schreibt einem Cousin in Paris, der ihn ebenfalls schon eingeladen hat. In diesem Brief erklärt mein Vater, wie sehr er es vermisst, über die neuesten Entwicklungen in der Theaterwelt des Westens Bescheid zu wissen. Er hat keine Zugang zu Artikeln, Essays und Interviews. Nein, er bekommt nur ab und an mal Bilder von einem Bühnenbild oder einigen Kostümen zu sehen. Die Ideen dahinter bleiben für uns in Rumänien jedoch verborgen. Man heftet eine Kopie dieses Briefs feinsäuberlich in der Akte meines Vaters ab.

Toca bleibt in Rumänien. Man hört auch weiterhin unser Telefon ab und zeichnet jedes noch so belanglose Gespräch auf. Mein Vater führt bei Io Mircea Voievod Regie, also einem historischen Stück von Dan Tărchilă. Dabei verändert er den Text nicht und von jeglicher Kritik sieht er ebenfalls ab. Nur eine Sache ist eher ungewöhnlich: Das Bühnenbild besteht aus Buntglas-Porträts von rumänischen Prinzen. Mein Vater verwandelt die Bühne so quasi in eine Kirche. Damals war Religion zwar offiziell verboten, aber inoffiziell tolerierte die Regierung das Ganze. Das Vorgehen meines Vaters gilt somit vor allem an einem staatlichen Theater als Affront. Die Zensoren haben jedoch entweder keine Lust mehr oder es ist ihnen egal, denn sie ignorieren dieses Detail des Stücks.

Und damit geht auch eine jahrelang andauernde Überwachung zu Ende

Wirklich mehr gibt es in den Akten zu meinem Vater dann nicht mehr zu finden. Irgendwann schlägt ein Mitarbeiter des Geheimdiensts vor, die Untersuchungen zu diesem Regisseur einzustellen, weil er sich nun wohl angepasst hat. Vielleicht ist der Securitate aber auch klar geworden, dass ein Theaterregisseur eigentlich keinen wirklichen Schaden anrichten kann. Immerhin bleiben seine Stücke ja auch innerhalb der Landesgrenzen. Sollen die Rumänen sie doch anschauen und dabei ein paar aufrührerische Botschaften zu hören bekommen. Machen 400, 500 oder 5000 Menschen überhaupt einen Unterschied? Sie kommen ja nirgendwo hin und können so auch niemandem davon erzählen. Da ist es doch egal, wenn man ein wenig gegen das System wettert. Was kann er mit seiner Einstellung denn schon verändern? Nichts. Die Überwachung endet im Frühling 1987.

§

Ich klappte die Akten wieder zu und brachte sie zu dem Mitarbeiter zurück, der sie mir übergeben hatte. Er fragte mich noch, ob ich irgendetwas kopieren wolle, aber das war nicht der Fall. Mein Vater wollte die Unterlagen ja auch nicht haben. Und so verließ ich das Gebäude und machte mich im strömenden Regen zurück auf den Weg ins Stadtzentrum von Bukarest.

Ich weiß nun, wie staatliche Informanten bis zum Jahr 1987 über meinen Vater dachten. Diese Leute gingen halt einfach davon aus, dass das kommunistische Regime für immer bestehen bleiben würde, und versuchten dementsprechend, sich anzupassen und ein geregeltes Leben aufzubauen.

Sie lagen jedoch falsch.