Ist das Kottbusser Tor in Berlin jetzt eine No-Go-Area oder nicht?
Foto: Grey Hutton

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Ist das Kottbusser Tor in Berlin jetzt eine No-Go-Area oder nicht?

Während die Kriminalität an dem Berliner Platz explodiert, streiten sich die Anwohner lebhaft über ihre eigenen Vorurteile.

„Das kann doch nicht sein, dass ich hier jedes Mal ausgebuht werde, wenn ich das Mikro in die Hand nehme", ruft ein entgeisterter Mark Terkessides in den Saal, aus dem ihm dafür nur noch mehr wütende Rufe und Gejohle entgegenschallen. „Ich habe echt schon schwierige Diskussionen erlebt, aber so kann ich halt einfach nicht weiterreden." Und damit knallt er das Mikro auf den Tisch—und sagt den Rest des Abends tatsächlich nichts mehr.

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Das war einer von mehreren Tiefpunkten während der Podiumsdiskussion im Dachgeschoss des FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museums am Donnerstagabend in Berlin. Zusammen mit dem Kiezverein „Kotti e.V." hatte das Museum zu der Podiumsdiskussion mit dem Thema: „Kippt der Kotti?" eingeladen.

Dass es am Kottbusser Tor auf einmal mehr Probleme gibt als früher, ist mittlerweile ein Thema in den überregionalen Medien geworden. Schon im September letzten Jahres berichtete die BZunter dem Titel „Das Kottbusser Tor ist der Platz der Gesetzlosen", dass die Kriminalität an dem wichtigen U-Bahn-Drehkreuz derart „explodiert" sei, dass die Anwohner über „Selbstjustiz" nachdenken. Seitdem hat sich offenbar nichts geändert—außer, dass sich die negativen Schlagzeilen über den Kotti immer weiter anhäufen. Kristine Jaath, die der Bezirksverordnetenversammlung vorsteht und den Abend heute moderiert, regt sich besonders über eine Ausgabe des rbb-Magazins kontraste auf, in dem der Kotti als ein „rechtsfreier Raum" beschrieben wird, der von „Kriminellen aus Nordafrika beherrscht" würde. Auch die Überschrift eines Welt-Artikels („Wer hier aus der U-Bahn steigt, ist selber schuld") sorgt für Ärger und Hohngelächter in der Versammlung, auch wenn sie wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeint war. Den im Februar erschienenen Artikel in der Jungle World, der die Situation ziemlich schonungslos beschreibt, erwähnt allerdings erstmal niemand.

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Foto: imago | Steinach

Aber der Medienrummel ist eine Sache. Auf der anderen scheint die Anwohner hier wirklich etwas zu beschäftigen. Der Dachboden im FHXB ist schon um Punkt 19:30 Uhr so überlaufen, dass sich um die hundert Zuschauer das Ganze nur per Übertragung in einem anderen Stockwerk anschauen können. Die Menge ist bunt gemischt: Alte und Junge Leute mit und ohne Migrationshintergrund treten sich in den beiden Zuschauerräumen auf die Füße.

Nachdem Kristine Jaath sich genug über die hysterischen Medien lustig gemacht hat, dürfen die Sprecher auf dem Podium nacheinander ihre Standpunkte vorstellen. Den Anfang macht Richard Stein von der Bar Möbel Olfe, der findet, dass man zwar vielleicht mehr Polizei brauche, aber nicht mehr Großeinsätze und Razzien, das wäre scheiße für den Kiez. Danach ist die Bezirksstadträtin Jana Borkamp dran, die hier die Politik vertritt und erstmal bedauert, dass es am Kotti auch nicht mehr dieselbe Solidarität untereinander gäbe wie früher, stattdessen gäbe es aber immer mehr Touristen. Angelika Levi von der Mietergemeinschaft Kotti&Co. erklärt, dass sie das Problem gar nicht so sehr in der Kriminalität („für mich sowieso ein weiter Begriff"), sondern eher in den steigenden Mieten sehe. Gleich danach berichtet allerdings Tanja Knapp, die Leiterin des zuständigen Polizeiabschnitts, dass es tatsächlich einen „enormen" Anstieg in der Straßenkriminalität gegeben habe. Der Besitzer vom Cafe Kotti und Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu beschwört alle Anwesenden, jetzt endlich Verantwortung für den „Raum" zu übernehmen. Als letzter spricht der Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessides, der erzählt, wie schlimm die Lage auch bei ihm am Schlesischen Tor geworden sei: Er selbst wurde „angetanzt" und bestohlen, drei Bekannte von ihm seien im Görlitzer Park zusammengeschlagen worden, und vor allem wird ihm immer wieder vor die Haustür geschissen. „Ich finde, dass die Situation einigermaßen außer Kontrolle ist", schließt er die erste Podiumsrunde ab.

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Bis hierher verläuft der Abend noch relativ friedlich. Kurz darauf erwähnt die Moderatorin allerdings, dass Terkessides im Januar einen Artikel geschrieben hat, in dem er die Atmosphäre in Kreuzberg mit der Kölner Silvesternacht verglich. Plötzlich ruft jemand vorne „Hetzer!", Terkessides ärgert sich und besteht darauf, nur die Wahrheit zu sagen, aber der Rufer ist nicht zu beruhigen. Während die Moderatorin etwas verloren für gegenseitigen Respekt wirbt, streitet sich Terkessides so lautstark mit dem Zuhörer, dass Yasaroglu das Mikro an sich reißt und mehrmals „Ich habe das Wort!" brüllt—aber auch dann dauert es noch Minuten, bis der Saal sich wieder einigermaßen beruhigt.

Als dann Leute aus dem Publikum das Wort ergreifen dürfen, zeigt sich schnell, dass es auch hier ziemlich verschiedene Auffassungen davon gibt, was eigentlich das Problem ist. Ein Aktivist der jetzt geräumten Refugee-Protestlager am Oranienplatz und in der Gerhart-Hauptmann-Schule erklärt, dass die meiste Gewalt eigentlich von der Polizei und damit auch von der Berliner Politik ausgehe. Eine Frau mittleren Alters erzählt, dass sie Angst habe, allein über den Kotti zu gehen. Ein türkischer Gewerbetreibender klagt, dass durch die Unsicherheit die Umsätze zurückgegangen seien und dass man dringend etwas tun müsse, weil sonst die Polizisten ausbleiben—was eine ältere Anwohnerin mit einem herzlichen „Umso besser!" kommentiert.

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Menschen am Kotti | Foto: Gergana Petrova

Überhaupt fällt es einigermaßen schwer, sich aus der ganzen Diskussion ein Bild zu machen, wer jetzt eigentlich Schuld daran hat, dass der Platz gefährlicher geworden ist. Während Richard Stein und vor allem Angelika Levi immer wieder über die größeren Probleme reden wollen, die die Verdrängung der Anwohner durch Immobilien-Spekulationen und Gentrifizierung mit sich bringe, streiten sich die anderen darüber, ob denn jetzt eher die Touristen, die alteingesessenen Drogendealer oder eher die neu dazugekommenen „Banden" schuld seien. Wer die sind, ist auch nicht ganz klar: Der Cafe-Kotti-Besitzer Yasaroglu zum Beispiel ist überzeugt, dass es sich um organisierte Kriminelle handle, die wegen erfolgloser Asylverfahren in Frankreich hierher gekommen seien. Andere behaupten, es handele sich dabei um afrikanische Flüchtlinge, die aus Mangel an Perspektiven Drogen im Görlitzer Park verkauften, und dass es mit ihnen überhaupt kein Problem gegeben habe, bevor die Polizei anfing, den Park aufzuräumen. Der türkische Ladenbesitzer wiederum behauptet, die meisten seien ehemalige „Söldner", die sowieso nicht arbeiten wollten, weil sie mit dem Dealen viel einfacher viel mehr Geld verdienen könnten. Frau Knaoo von der Polizei erklärt, ihr sei egal, wo ein Täter herkomme, sie müsse Opfer schützen. Ob es sich bei den neuen Taschendieben am Kotti allerdings wirklich um ehemalige Dealer aus dem Görlitzer Park handelt, weiß offenbar auch niemand so genau.

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Interessant ist jedenfalls, wie sich immer mehr die verschiedenen Interessengruppen herauskristallisieren: Die meisten, die sich lautstark und energisch für mehr Polizei und klares Durchgreifen gegen die Kriminellen aussprechen, sind türkischstämmmige Ladenbesitzer und Frauen. „Ich bin Gewerbetreibender, ich stehe 12 oder 14 Stunden am Kotti, länger als die Dealer", erklärte zum Beispiel ein junger Mann. „Wir alle mögen den Kotti, weil das echt Multikulti ist. Aber ich muss sagen: Seit acht Monaten ist die Situation wirklich schlimm geworden." Gleichzeitig gibt es eine lautstarke Gruppe von deutschen Linken und Flüchtlingsaktivisten, die eher über Rassismus und Polizeigewalt reden wollten. Den türkischstämmigen Anwohnern wollen sie aber offenbar ungern direkt widersprechen, Terkessides bekommt dafür umso mehr Gegenwind von ihnen.

Es dauert dann auch nicht lange, bis der zweite Tumult ausbricht. „Köln ist ein Symbol für rechte Disksursverschiebung!", ereifert sich derselbe Mann wie vorher, als Terkessides gerade wieder das Mikro hält. „Aber da ist doch auch was passiert! Deshalb muss man doch trotzdem über das sprechen, was da passiert ist!", regt sich der auf, was aber wieder mit „Hetzer!"-Rufen quittiert wird. „Er ist kein Hetzer, er sagt die Wahrheit!", platzt es plötzlich aus einem älteren Deutschtürken hinten im Saal. „Gestern wurde eine schwangere Frau von drei Männern verprügelt! Sie machen hier den Demokraten, den Linken—aber wir tragen das hier auf unseren Rücken, auf unseren Seelen aus!" Kurz darauf bekommt auch Yasaroglu nochmal einen richtigen Wutanfall und ruft mit Blick auf die Kriminellen: „Die machen unsere Willkommenskultur kaputt!"

Foto: Grey Hutton

Der Saal beruhigt sich dann zwar wieder, aber es wird immer unklarer, wie man hier überhaupt eine Lösung finden will, wenn man sich noch nicht mal auf das Problem einigen kann. Die Beiträge aus dem Publikum werden auch zunehmend eklektischer. Irgendjemand prangert inbrünstig den westlichen Imperialismus und die Waffenlieferungen in den Mittleren Osten an, eine Dame erklärt, es gehe ihr auf die Nerven, dass man immer die Drogendealer problematisiere, während doch überall am Kotti Alkohol verkauft werde. „Alkoholverkäufer sind auch Drogendealer!", ruft sie, ein paar der Ladenbesitzer schnaufen vor Wut. „Und überhaupt, jetzt gibt es hier überall Besäufnisse, das ist der Neoliberalismus! Die Stadt lebt nur noch von Touristen und Immobilienspekulationen!" Jemand anderes möchte wieder über die Polizeigewalt reden. Irgendjemand spekuliert, ob die ganze Situation nicht gewollt sei, um die Anwohner aus dem begehrten Wohnraum zu vertreiben. „Wir müssen halt einen Konsens finden", wirft Kristine Jath ein. „Das muss kein Konsens wie in München sein, sondern eben ein Kreuzberger, ein Kotti-Konsens. Aber irgendwie müssen wir einen Konsens finden." Die paar interessanten Beiträge, zum Beispiel von einem Flüchtling, der versucht, die Situation der Dealer zu erklären, und einem jungen Mädchen, die fordert, jetzt mal konkrete Handlungsvorschläge für die Anwohner zu erarbeiten, werden beklatscht und dann trotzdem ignoriert.

Am Ende darf jeder Podiumsteilnehmer (bis auf Terkessides, der will nicht mehr) noch einmal reden, aber wirklich befriedigend ist der Ausgang nicht. Vor dem Museum diskutieren die Leute deshalb noch lebhaft weiter. Eine aufgebrachte Teilnehmerin kommt am Weg zur Ubahn über den Kotti an einem Drogenabhängigen auf den Stufen vorbei und bellt ihn an: „Und was sind Sie jetzt? Sind Sie ein Tourist? Hat man uns nämlich da drin erzählt, dass sie ein Tourist sind!" Der ältere Mann schaut verwirrt hoch, aber da ist sie schon weiter.

Eine Stunde kann man ihn sehen, wie er und ein paar andere von Polizisten in Kampfanzügen ausführlich durchsucht werden. Bis die Anwohner sich auf ein Konzept einigen und damit auf die Politik Druck machen können, wird das wohl erstmal die einzige Antwort auf die Situation am Kotti bleiben.