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Popkultur

Was passiert, wenn die Polizei vermeintlichen „Flüchtlingsverbrechen“ nachgeht

Der Fall einer vermeintlichen Vergewaltigung in Bayern zeigt, warum wir uns endlich gegen rechte Asylantenmärchen wehren müssen.

Foto: imago | Christian Mang

Es passiert nicht so wahnsinnig oft, dass man eine Polizeimeldung liest und jeden einzelnen aufgeführten Punkt unterschreiben möchte. Als das Polizeipräsidium Oberbayern Süd am Dienstag eine Mitteilung veröffentlichte, in dem sie sich dem ebenso großen wie schwierigen Thema „vermeintliche Fakten in Facebook-Posts" widmete, traf sie den Nagel allerdings überraschend präzise auf den Kopf.

„Stille Post — Kein Kinderspiel! – Facebook-Gerüchte sorgen für Wirbel" lautete die Überschrift des Textes, der sich einem Thema widmet, das gerade nach den Vorfällen in Köln noch aktueller geworden ist. Das Verdichten von Halbwissen, verzerrt wiedergegebenen Informationen und einer gehörigen Portion Fantasie. Wurde schon im vergangenen Jahr gerne die Geschichte des asylbeantragenden Frauenfängers kommuniziert, der hierher kommt, um „unsere Frauen" (vorzugsweise deutsch, blond, jung) zu schänden, überschlugen sich nach den Übergriffen in der Silvesternacht die Meldungen von Sexualdelikten, die durch Flüchtlinge begangen worden sein sollen.

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Während einige der Fälle tatsächlich stattgefunden haben und ebenso zu verurteilen sind wie derartige Delikte von Biodeutschen, Nagetierzüchtern, NPD-Wählern, Modebloggerinnen oder überhaupt jedem anderen Menschen, gibt es unter den ganzen ins Netz geblasenen Skandalmeldungen auch die ein oder andere, bei der sich schon die Frage stellt: Ist das Ganze wirklich passiert oder haben die Märchenonkel von der AfD wieder ganz tief in die rechtspopulistische Volkssagen-Kiste gegriffen?

„-TEILEN-TEILEN-TEILEN- Am 11.01.2016 wurde in einer Traunsteiner Unterführung ein Mädchen vergewaltigt!!! Und zwar von Asylanten/Flüchtlingen!!! Der ganze Wahnsinn spielt sich also mittlerweile vor unserer eigenen Haustüre ab. Die Polizei, unser Freund und Helfer, hält schön den Mund und gibt nichts an die Bevölkerung raus!! Das sage ich nur SCHÄMTS EUCH!!! Diese Information stammt aus einer sicheren Quelle!!!" hieß es vergangene Woche laut Polizeiangaben auf der Facebook-Seite eines jungen Bayern. Die Nachricht verbreitete sich nicht nur unter Nutzern des sozialen Netzwerks, sondern auch unter Medienschaffenden, die beim zuständigen Polizeipräsidium nach mehr Informationen zur vermeintlichen Straftat fragten. Einer Straftat, von der die Beamten selbst noch nichts wussten—tatsächlich war im Landkreis Traunstein seit Jahresbeginn keine einzige Anzeige wegen Sexualdelikten eingegangen.

„Da natürlich die Möglichkeit nicht auszuschließen war, dass ein noch nicht bei der Polizei bekannt gewordenes Verbrechen vorlag, blieb Beamten der Polizeiinspektion Traunstein nichts anderes übrig, als den jungen Mann, der auf Facebook so empört über diese schwere Tat berichtet hatte, aufzusuchen und nach seiner ‚sicheren Quelle' zu befragen. Und so nahm die Rückverfolgung der ‚Stillen-Post-Kette' seinen Lauf!", heißt es in der Pressemeldung der Polizei und wem das ein bisschen sehr nach „TKKG und das Geheimnis um den geheimnisvollen Sex-Flüchtling" klingt: Ähnlich absurd gestaltete sich die Rekonstruktion der vermeintlichen Straftat auch.

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Über die Dauer von zwei Tagen fragten sich die Polizisten von einem vermeintlich Informierten zum nächsten (insgesamt acht an der Zahl) „und wie beim Kinderspiel Stille Post, nur gänzlich ohne humoristischen Anteil, waren bei jeder Weitergabe des tatsächlichen Sachverhalts Informationen verloren gegangen und neue Details hinzugekommen." Ein bisschen also wie bei einem Altherrenstammtisch, wo alle von ihren Heldentaten im Krieg erzählen, die bei jedem Mal noch ein bisschen spektakulärer und übermenschlicher werden. Am Schluss stellte sich heraus: „Das angebliche Sexualdelikt in einer Traunsteiner Unterführung, begangen durch mehrere Asylbewerber an einem jungen Mädchen, für dessen Geheimhaltung sich die Polizei schämen sollte, gibt es tatsächlich nicht!"

Von Realsatire zu realer Gewalt—kann man über die AfD wirklich noch lachen?

Man könnte das jetzt alles wahnsinnig lustig finden und sich darüber freuen, dass zumindest einer dieser halbviralen Verbrechensposts als das enttarnt wurde, was sie leider allzuoft sind: Ein überzeichnetes Schauermärchen. Andererseits verfolgen und erfüllen sie ihren Zweck, Ressentiments zu schüren und internataffinen Rechtspopulisten Zulauf zu bescheren. Und das ist dann eben nicht mehr lustig, sondern ziemlich gefährlich. Nicht nur für Flüchtlinge oder jeden, der in den Augen besorgter Bürger irgendwie „ausländisch" aussieht, es ist auch ein absoluter Bärendienst an all denen, die tatsächlich Opfer sexueller Gewalt geworden sind und gegen ihren Willen vor den rechten Propagandawagen gespannt werden. Dem können wir am besten entgegenwirken, indem wir anfangen, die Fragen zu stellen, die auch die Polizei stellt, wenn sie mit einer solchen Geschichte konfrontiert wird. Wer, Wann, Wo, Wie, Wann? Woher genau kommt diese Information? Wurde der vermeintliche Übergriff angezeigt und wenn nein, warum nicht?

Vielleicht ist es bei derartigen Meldungen insbesondere die letzte Frage, die den Unterschied zwischen populistischem Märchen und tatsächlichem Verbrechen deutlich macht. Geht es den Leuten nämlich wirklich darum, für das Thema sexuelle Gewalt zu sensibilisieren oder auf schockierende Übergriffe aufmerksam zu machen, sollte es ihnen auch am Herzen liegen, dafür zu sorgen, dass der Täter dingfest gemacht wird. Nicht von einer selbstorganisierten Bürgerwehr, einem hechelnden Mob, der auf Hörensagen und Halbwissen reagiert, sondern dem zuständigen Organ unseres Rechtsstaats.

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